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Magazin Mitbestimmung

: Soll die Politik das Tarifsystem stützen?

Ausgabe 07+08/2011

STATEMENTS Der IG-Metall-Gewerkschafter Peter Donath, die Wissenschaftlerin Ingrid Artus und der Hauptgeschäftsführer des Chemiearbeitgeberverbandes Wolfgang Goos antworten.

Peter Donath ist Bereichsleiter Betriebs- und Branchenpolitik beim IG-Metall-Vorstand in Frankfurt/Foto: Peter Roggenthin

Der Staat hat einen sozialen Auftrag Angesichts des Booms der deutschen Wirtschaft darf nicht aus den Augen verloren werden, wie stark die Realwirtschaft Ende 2008 in einen Strudel hineingerissen wurde, dessen Ausmaß in der Nachkriegsgeschichte einmalig war. Um 22,4 Prozent brach im Jahr 2009 die Produktion der deutschen Metall- und Elektroindustrie ein. Allein in dieser Branche waren auf dem Höhepunkt der Krise mehr als eine Million Menschen praktisch ohne Arbeit. Die IG Metall hatte rasch Forderungen zur Krisenbekämpfung aufgestellt, die einen Beschäftigungseinbruch verhindern sollten. Zentrale Punkte – wie die Umweltprämie, verlängerte Kurzarbeit mit erleichterten Zugängen, ein Bürgschaftsrahmen für Unternehmensfinanzierungen – wurden von der Bundesregierung in das Konjunkturpaket II aufgenommen:

Die Maßnahmen konnten aber nur deswegen so gut greifen, weil sie auf der Basis von Tarifverträgen wirksam wurden. Insbesondere ermöglichte das System von Arbeitszeitkonten den Abbau der Guthaben und stabilisierte durch Minussalden Beschäftigung und Einkommen. In der „Krisentarifrunde“ 2010 für die Metall- und Elektroindustrie erweiterten die Tarifvertragsparteien den Instrumentenkoffer zur Krisenbewältigung durch die Möglichkeit der Kurzarbeit, durch die Option der Arbeitszeitabsenkung bei Teilentgeltausgleich und verbesserten in der Krise die Bedingungen zur Übernahme Ausgebildeter.

Die Verhinderung der prognostizierten fünf Millionen Erwerbslosen und die derzeitige positive Entwicklung der Beschäftigung sind kein „Wunder“, sondern das Ergebnis dieser Politik, bei der Bundesregierung und Parlament in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik wie auch bei der Bankenrettung neoliberale Dogmen beiseiteschoben und im Zusammenwirken mit den Gewerkschaften eine exorbitante Zunahme der Arbeitslosigkeit verhinderten und damit auch das schnelle Anfahren der Produktion in der Erholungsphase ermöglichten. Diese Politik hat den Beschäftigten, aber auch der ganzen Gesellschaft genutzt. Die politisch Verantwortlichen sollten daraus Lehren ziehen. Der Staat hat nicht nur in Krisenzeiten einen sozialen Gestaltungsauftrag, die Verschiebung des Kräfteverhältnisses zwischen Gesellschaft und Wirtschaft muss wieder grundsätzlicher zugunsten unserer Gesellschaft korrigiert werden.

Es ist geradezu zynisch, wenn unter Hinweis auf die starke Verbreitung von Leiharbeit, Befristungen und Werkverträgen – mit den vielfach damit einhergehenden Niedriglöhnen – allein auf die Tarifvertragsparteien verwiesen wird. Staatliche Rahmenregelungen sollten dazu beitragen, die Handlungsfähigkeit der Gewerkschaften und damit die Tarifautonomie zu stärken.

Leiharbeit darf Tarifstandards nicht untergraben. Der Gesetzgeber darf eine Abweichung vom Prinzip Equal Pay nicht zulassen. Wir brauchen Mindeststandards bei der Entgelthöhe. Eine leichtere Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen, ergänzt durch einen allgemeinen Mindestlohn, ist unverzichtbar – und muss effektiv überwacht werden. Und verbesserte Mitbestimmungsrechte der Betriebsräte zum Zweck der nachhaltigen Beschäftigungssicherung würden auch einen Beitrag leisten, die Binnenkaufkraft zu stabilisieren und die Exportabhängigkeit zu mildern.

Das Verhalten vieler Arbeitgeber, die jetzt zu einem ganz überwiegenden Teil auf prekäre Beschäftigung setzen, sollte kein Vorbild für die Politik sein. Ein Blick zurück zeigt: Unternehmen mit hohen Mitbestimmungsstandards und gesellschaftlichem Einfluss – sei es durch öffentliche Beteiligungen oder Stiftungskonstruktionen – waren am krisen­resistentesten. Die Politik sollte daraus lernen.

Ingrid Artus ist Professorin am Institut für Soziologie der Universität Erlangen-Nürnberg.

Auf den Staat ist wenig Verlass Es gibt viele Argumente dafür, dass eine solche Kooperation sinnvoll und notwendig ist: Das erste, wichtigste Argument ist die mittlerweile erhebliche Dramatik der sozialen Situation. Dies gilt vor allem dort, wo die Tarifparteien keine oder nur noch geringe Regulierungskraft besitzen: in der Leiharbeit, im Bausektor, in Ostdeutschland, in vielen Dienstleistungsbranchen mit hohem Frauen- und Ausländeranteil. Hier nimmt das Lohndumping seit Langem zu. Über sechs Millionen Menschen, mehr als ein Fünftel aller Beschäftigten, verdienen aktuell nur einen Niedriglohn. Ihr Anteil an allen Beschäftigten ist in Deutschland – anders als in den meisten EU-Ländern – stark gewachsen und liegt inzwischen auf dem Niveau des liberalen angelsächsischen Kapitalismus. Steigende Armutsquoten sind logische Konsequenzen.

Weil es keine verbindliche Lohnuntergrenze gibt, steht Deutschland auch besonders schlecht da, was den „Wage Gap“ (Lohnunterschied) zwischen Frauen und Männern sowie zwischen Leiharbeitern/-innen und „normalen“ Beschäftigten angeht. Die bislang vereinbarten branchenspezifischen Mindestlöhne stopfen zwar ein paar Löcher im tariflichen Netz; sie bieten jedoch keine Lösung für jene Bereiche, in denen gar keine handlungsfähigen Tarifparteien existieren. Und sie entfalten auch keine moralische Bindungswirkung für die gesamte Wirtschaft. Ein staatlicher Mindestlohn wäre wirtschaftlich, politisch sowie moralisch sinnvoll.

Ein weiteres Argument ergibt sich daraus, dass die gegenwärtige „Kooperationsbedürftigkeit“ der Tarifparteien nicht zuletzt das Ergebnis staatlicher Politik ist. Freilich hat auch der wirtschaftliche und gesellschaftliche Strukturwandel das Tarifsystem und insbesondere die Gewerkschaften geschwächt. Es wäre also vielleicht ohnehin staatliche Unterstützung gefragt gewesen, um das gewohnte Regulierungsniveau aufrechtzuerhalten. Das Gegenteil passierte: Arbeitsrechte wurden geschwächt und Sozialleistungen gekürzt. Damit wurde die kompensatorische Verantwortung der Tarifparteien erhöht – bei zugleich reduzierten Möglichkeiten, dieser gerecht zu werden. Der Staat müsste also legitimerweise seinen selbst verursachten Mangel wenigstens zum Teil wieder ausgleichen.

Summa summarum: Es fehlt nicht an Begründungen dafür, dass die Politik mit den Tarifparteien kooperieren „sollte“. Allein – weshalb hat sie es in der Vergangenheit nur sehr zögerlich getan? Ein Blick auf die Geschichte lehrt nicht nur, dass auf die Schützenhilfe des Staates in Zeiten neoliberaler Wirtschaftskonzepte wenig Verlass ist. Er zeigt auch, dass die Kooperationsneigung von Staat wie Unternehmern viel mit Machtverhältnissen und politischen Legitimationsnotwendigkeiten zu tun hat. So sind etwa wirtschaftliche Krisen (und Kriege) ausgesprochen kooperationsträchtige Situationen.

Gleiches gilt immer dann, wenn starke Gewerkschaften und soziale Bewegungen die staatliche Sozialverantwortung nachdrücklich und durchsetzungsfähig einklagen. Diese Erkenntnis ist wichtig, denn sie verweist darauf, dass der Appell an den Staat in Gefahr ist, ungehört zu verhallen, wenn er als Ersatz für eigene Organisierungsmacht gedacht ist. Es hilft nichts: Nur starken Gewerkschaften mit politischer Deutungsmacht und glaubhafter Repräsentativität wird es gelingen, den starken Partner Staat auf ihre Seite zu bringen – oder zu zwingen. Es rettet uns kein höh’res Wesen …

Wolfgang Goos ist seit Anfang Juni Hauptgeschäftsführer des Bundesarbeitgeberverbandes Chemie (BAVC).

Je weniger Staat, desto besser für die Tarifpolitik: Dieses Prinzip entspricht dem freiheitlichen Grundverständnis unserer Sozialen Marktwirtschaft. Unser Wirtschaftsmodell wird jedoch von zwei Säulen getragen: Freiheit ist die eine, Solidarität die andere. Deshalb ist es geboten, dass die Politik dann in das Tarifsystem eingreift, wenn das Gleichgewicht der beiden Säulen zueinander nicht mehr stimmt. Das Bundesarbeitsgericht hat in seinem Urteil zur Tarifeinheit die Freiheit der Einzelinteressen zu stark gewichtet. Es kommt jetzt darauf an, der Solidarität mithilfe der Politik zu ihrem Recht zu verhelfen.

Denn Solidarität ist das Bindemittel, von dem der Standort Deutschland zusammengehalten wird. Individualinteressen sind wichtig und schützenswert, sie sind Antrieb für den Fortschritt, keine Frage. Aber es gibt eine Grenze zwischen berechtigten Einzelinteressen und schädlichem Egoismus. Diese Grenze verläuft dort, wo anderen Schaden zugefügt wird, wo Solidarität sich auflöst.

Im Feld der Tarifpolitik wird diese Grenze in den letzten Jahren immer häufiger und immer gravierender überschritten. Jüngstes Beispiel ist – zum wiederholten Male – die GDL. Uns allen muss klar sein, dass die GDL nur die Spitze des Eisbergs darstellt. Weitere Spartengewerkschaften stehen in den Startlöchern. Die Aufgabe des Prinzips „Ein Betrieb – ein Tarifvertrag“ durch das Bundesarbeitsgericht wird eine Lawine nach sich ziehen. Englische Verhältnisse sind kein Horrorszenario der Arbeitgeber, sie sind eine reale Gefahr für den Standort Deutschland.

Die Frage muss erlaubt sein: Was tut eigentlich die Politik? Wann handeln Parlament und Regierung? Die Politik macht sich mitschuldig, wenn sie den Egoismus der Spartengewerkschaften nicht wirksam begrenzt. Die Dominanz von Einzelinteressen in der Tarifpolitik darf nicht akzeptiert werden. Ein klares Signal der Politik zur Sicherung des Standorts ist mehr als überfällig. Die Kanzlerin muss ihren Worten Taten folgen lassen. Wir fordern eine Entscheidung für die gesetzliche Verankerung der Tarifeinheit. Was 60 Jahre verfassungsgemäß war, kann nicht auf einmal falsch sein. Wartet die Politik weiter ab, schürt sie Egoismen, die später nicht mehr zu bändigen sind.

Dann werden früher oder später auch Tarifbereiche in Mitleidenschaft gezogen, in denen die Sozialpartner innovative Tarifpolitik für eine ganze Branche gestalten. Beispiel Chemieindustrie: Wir haben flexible Tarifverträge, mit denen wir die Krise ohne einen Kahlschlag bei der Beschäftigung gemeistert haben. Wir haben einen Demografie-Tarifvertrag, der die Richtung vorgibt für den Umgang mit der alternden Gesellschaft. Wir haben einen Ausbildungs-Tarifvertrag, mit dem wir jungen Menschen Chancen für die Zukunft eröffnen. Solche Vereinbarungen sind in unserer Branche möglich, weil die Arbeitgeber in der Chemie-Gewerkschaft IG BCE einen verlässlichen Sozialpartner haben, dem wir vertrauen und mit dem wir konstruktiv diskutieren können.

Basis unserer Tarifpolitik ist Belastbarkeit innerhalb der beiden Organisationen und zwischen den Organisationen. Niemand überfordert die jeweiligen Mitglieder und niemand überfordert sein Gegenüber. Das bezeichnen wir als Sozialpartnerschaft, aufgebaut auf Solidarität statt Egoismus. Das bedeutet auch, eigene Interessen zurückstellen zu können und der Verantwortung der Tarifparteien für unsere Volkswirtschaft gerecht zu werden. Wir dürfen nicht zulassen, dass die Soziale Marktwirtschaft durch die Dominanz der Egoismen beschädigt wird. Deshalb brauchen wir jetzt die gesetzliche Verankerung der Tarifeinheit, sonst wird in Zukunft nicht nur Bahnfahren zu einem Glücksspiel, dessen Regeln von Egoisten wie der GDL diktiert werden.

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