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Magazin Mitbestimmung

Arbeitsschutz: Schuften rund um die Uhr

Ausgabe 11/2013

Nachtarbeit bedeutet für die Beschäftigten Stress, bringt aber oft auch üppige Zulagen. Gesundheitsschonende Schichtpläne sind daher nicht zwingend gern gesehen. Betriebsräte müssen deshalb die Kollegen aktiv einbeziehen. Von Ulla Wittig-Goetz

Wenn Betriebsräte Schichtpläne verbessern wollen, stoßen sie häufig nicht nur auf den Widerstand der Arbeitgeber, sondern auch auf den der Beschäftigten. Denn die müssen von Eingriffen in ihre gewohnten Schichtpläne erst überzeugt und für eine gesündere Gestaltung gewonnen werden. Diese Erfahrung machte auch der Betriebsrat der Badischen Stahlwerke in Kehl. Der Betriebsrat hatte sich intensiv mit den Gesundheitsgefahren der Nachtarbeit auseinandergesetzt und die gesicherten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnisse zur ergonomischen Gestaltung von Schichtarbeit in die Praxis übersetzt. „Danach waren unsere Schichtpläne extrem belastend und nicht mehr zeitgemäß“, erklärt der Betriebsratsvorsitzende Frank Zehe. „Wir entwickelten Vorschläge für verbesserte Schichtpläne und stützten uns dabei auf das Arbeitsschutzgesetz, das Arbeitszeitgesetz, das Betriebsverfassungsgesetz und die Tarifverträge.“ Genutzt hat das aber wenig. Nicht nur etliche Vorgesetzte, sondern auch viele Beschäftigte liefen dagegen Sturm, wie der Betriebsratsvorsitzende berichtet: „Die Reaktionen waren heftig und reichten von Drohungen, etwa mit einem Amtsenthebungsverfahren, bis hin zu zerstochenen Reifen und brennenden Briefkästen.“

WIDERSTAND DER BELEGSCHAFT

Zehes Erfahrungen sind kein Einzelfall. Schichtplangestaltung birgt oft erheblichen Konfliktstoff, und die Emotionen kochen dabei nicht selten hoch. Da gibt es die finanziellen Aspekte: Wer die Schichtarbeit verringert, schützt zwar die Gesundheit, verringert aber auch das Geld auf dem Konto der Beschäftigten. Wenn sich Arbeitnehmer gegen neue Schichtpläne zur Wehr setzen, spielen aber oft auch psychologische Ursachen wie die Angst vor Neuem eine Rolle. Zudem berührt die Schicht das Familienleben. „Die Kollegen haben ihr ganzes privates Leben an den Schichtplänen ausgerichtet und sich diesen angepasst. Ganze Familien leben danach, das gibt ihnen Sicherheit. Auf Veränderungen reagieren sie deshalb erst mal ablehnend“, erläutert Zehe. Der Betriebsrat hat damals aufgrund der heftigen Reaktionen aus der Belegschaft das Umsetzungstempo erheblich gedrosselt und die Beschäftigten erst einmal intensiv über gute Schichtplangestaltung informiert.

Laut den aktuellen arbeitsmedizinischen Erkenntnissen sind vorwärts rotierende Schichtfolgen, also erst Früh-, dann Spät- und schließlich Nachtschicht, besser als die in umgekehrter Reihenfolge. Je länger jemand gegen seine innere Uhr nachts arbeitet, desto mehr Zeit benötigt der Organismus, um wieder ins Lot zu kommen. Deshalb sollte der Schichtplan nur zwei bis drei Nachtschichten hintereinander vorsehen. Ein schnell rotierendes System mit wenigen Tagen in der gleichen Schicht ist generell besser zu bewältigen als ein Wechsel im Wochenrhythmus. Die Schicht sollte nicht mehr als acht Stunden dauern und von der Arbeitsschwere abhängen. Als Grundregel gilt: kurze Schichten bei intensiver physischer oder psychischer Belastung, längere bei weniger belastungsintensiven Arbeiten. Zudem braucht es natürlich ausreichend Zeit zum Erholen zwischen den Schichten. Ein später Beginn der Frühschicht, also nicht vor sechs Uhr, verhindert, dass Beschäftigte mit langen Anfahrtszeiten mitten in der Nacht aufstehen müssen. Freizeitblöcke am Wochenende sind besser als einzelne freie Tage.

Bei den Badischen Stahlwerken wurden auf Informationsveranstaltungen und Betriebsversammlungen intensiv die gesundheitlichen und sozialen Vorteile des neuen Schichtmodells erörtert. „Die Kollegen müssen mitgenommen werden. Gegen ihren Willen läuft gar nichts“, sagt Zehe. Schließlich wurde das neue Schichtsystem probeweise umgesetzt. Es beinhaltete im ersten Zyklus zwei Tage Frühschicht, dann drei Tage Spätschicht und zwei Tage Nachtschicht. Im zweiten Zyklus folgten auf drei Tage Frühschicht zwei Tage Spät- und zwei Tage Nachtschicht, im dritten Wechsel zwei Tage Frühschicht, zwei Tage Spätschicht und drei Tage Nachtschicht. Alle Beschäftigten erhielten die Option, nach einer gewissen Probezeit zum früheren Plan zurückkehren zu können. Doch das wollte bislang keiner.

NACHTARBEIT NIMMT ZU

Die gesundheitlich belastende Nacht- und Schichtarbeit ist auf dem Vormarsch. Über fünf Millionen Beschäftigte arbeiten nachts, viele davon in Wechselschicht rund um die Uhr, und dies nicht nur in Produktionsbetrieben, sondern zunehmend in der Dienstleistungsbranche insgesamt. Oft dominiert dabei das Drei-Schicht-System: Früh-, Spät- und Nachtschicht wechseln sich meist wöchentlich ab.

„Ein ideales Schichtsystem für alle gibt es nicht“, betont Arbeitszeitforscher Friedhelm Nachreiner. Man müsse nach Belastungen differenzieren, weil eben der Hitzearbeitsplatz in der Stahlindustrie nicht mit dem Montagearbeitsplatz in der Feinelektronikindustrie zu vergleichen sei. Ein optimales Schichtsystem, das für jeden passe, verbiete zudem die Individualität der Menschen, „denn ihre inneren Uhren ticken unterschiedlich“, sagt Chronobiologe Till Roenneberg vom Institut für Medizinische Psychologie der Universität München. „Wenn zwischen zwei und sechs Uhr morgens nicht gearbeitet würde, gäbe es viele Probleme gar nicht“, gibt Roenneberg zu bedenken. Dann könnten die Spättypen bis zwei Uhr ihren Job machen und die Frühtypen ab sechs Uhr.Die besonderen Herausforderungen, vor denen Betriebsräte stehen, wenn sie sich um betriebliche Verbesserungen für Nacht- und Schichtarbeiter kümmern, waren auch Thema bei einem Experten-Workshop der Arbeitsgemeinschaft „Engere Mitarbeiter der Arbeitsdirektoren Stahl“ mit Unterstützung der Hans-Böckler-Stiftung. Dort stimmte man darin überein, Schichtarbeit am besten zu reduzieren. Wenn das nicht möglich ist, sollte der Schichtplan möglichst geringen Gesundheitsverschleiß verursachen, also ergonomisch gestaltet sein. Allerdings könnten den Beschäftigten über ihre Köpfe hinweg keine besseren Schichtpläne aufgezwungen werden. Einigkeit herrschte unter den Teilnehmern darüber, dem Tausch „ungesunde Arbeit gegen gutes Geld“ eine klare Absage zu erteilen. Diese Ansicht werde auch zunehmend von den Belegschaften geteilt. Betriebsrat Ralf Niemann von der ArcelorMittal Bremen GmbH unterstrich, dass jeder, der finanziell dazu in der Lage sei, gerne wieder von der Nacht- in die Tagesschicht wechsle. Auch in diesem Unternehmen nehme der von den Beschäftigten gewählte Zeit- statt Geldausgleich für Nachtarbeit zu und betrage inzwischen 50 : 50. Andere Redner forderten, als Kompensation für das dann geringere Einkommen nicht nur über zusätzliche Rentenpunkte nachzudenken.

Zur Ausdünnung von Nachtschichten, also wenn mehr Tätigkeiten in die Früh- und Spätschicht verschoben werden, empfahl Werner Spreckelmeyer, Leiter des Bereichs Arbeitssysteme bei der Georgsmarienhütte GmbH, verstärkt das Know-how der Techniker und Meister zu nutzen. In der Eisen- und Stahlindustrie könnte man aber höchstens zehn bis 15 Prozent der Beschäftigten da rausnehmen, „weil sich der Hochofen nicht um 17 Uhr abschalten lässt“.

Bei den Dortmunder Verkehrsbetrieben werden inzwischen Ältere aus der Nachtschicht genommen, entsprechend qualifiziert und im Servicebereich, beispielsweise im Infocenter, für neue Tätigkeiten eingesetzt. Dabei bleiben sie in ihrem gewohnten sozialen Umfeld. Betriebsrat Karl-Heinz Schmidt von der Vallourec & Mannesmann Deutschland GmbH betonte auf dem Workshop, wie wichtig dies gerade den älteren Kollegen sei, in ihrer angestammten sozialen Umgebung oder Gruppe weiterarbeiten zu können, sonst drohten neue Belastungen. Wenn sich die Nachtschichten nicht verringern lassen, kommt es darauf an, andere Belastungsfaktoren wie Lärm oder das Heben und Tragen schwerer Lasten zu reduzieren und die betriebliche Gesundheitsförderung auszubauen.

BESCHÄFTIGTE BEFRAGEN

Die Erfahrungen aus der Praxis zeigen aber auch: Ein neues Schichtmodell kann nicht einfach verordnet werden, sondern die Beschäftigten sind aktiv einzubeziehen und zu ermuntern, auch einmal Neues auszuprobieren. So berichtet Sonia Hornberger von ihrer überraschenden Erfahrung bei der Audi AG, wonach schnelle Schichtrotation im Zweitagesrhythmus von den betroffenen Frauen trotz ihrer familiären Pflichten gut gemeistert wurde, weil dieses Modell weniger die Gesundheit angreife, wie eine Befragung ergeben habe. Die Belastungen würden durch den ständigen Wechsel als weniger hoch empfunden.

Den Beschäftigten mit der Rückkehroption zum alten Modell das letzte Wort zu geben hat letztlich auch den Konflikt um die Schichtpläne bei den Badischen Stahlwerken beendet. Beteiligung kann oft Wunder wirken. Das ist umso wichtiger, weil Schichtplangestaltung ein Dauerthema ist. Sie ist langwierig, kann nur schrittweise erfolgen und muss immer wieder neu justiert werden. „Wir haben 874 Beschäftigte, davon rund 600 im Schichtdienst, und diese arbeiten inzwischen nach 137 unterschiedlichen Schichtmodellen“, sagt Betriebsrat Zehe. „Bei der Gestaltung von Schichtarbeit dürfen wir nicht stehen bleiben, sondern müssen immer weitere Verbesserungen anstreben.“ In Kürze finden erneut Abteilungsversammlungen bei den Stahlwerken statt, auf denen die Kollegen abermals über Neuerungen abstimmen werden.

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