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Magazin Mitbestimmung

: Regionale Schieflagen ausgleichen

Ausgabe 11/2008

GESTALTUNGSOPTIONEN Mit Regional- und Strukturpolitik können sich Gewerkschaften stärker profilieren - gerade in Zeiten, in denen primär Wachstumsregionen gefördert werden.

Von Frank Gerlach und Astrid Ziegler. Gerlach ist Referent in der Abteilung Forschungsförderung, Ziegler Wissenschaftlerin im Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) in der Hans-Böckler-Stiftung.

Nokia oder die Deutsche Telekom sind keine Einzelfälle: Standortschließungen oder -verlagerungen gehören in Deutschland mittlerweile zum Alltag, mit zum Teil gravierenden Folgen, nicht nur unmittelbar für die Beschäftigten. Auch die betroffene Region kann durch den Verlust eines wichtigen Arbeitgebers in ihrer wirtschaftlichen Substanz getroffen werden. Am eindrücklichsten war dies in den vergangenen Jahrzehnten in jenen Regionen zu spüren, denen Strukturwandel und Branchenkrisen zugesetzt haben - wie etwa im Ruhrgebiet mit dem Niedergang der Montanindustrie oder in weiten Teilen Ostdeutschlands im Zuge des Transformationsprozesses. In wirtschaftlich guten Zeiten mit geringer Arbeitslosigkeit können die individuellen und regionalen Folgen von Standortschließungen zumeist recht gut aufgefangen werden, weil Ersatzarbeitsplätze zur Verfügung stehen.

Schwieriger sieht es in ohnehin strukturschwachen Gegenden aus oder dort, wo der Strukturwandel ins Stocken gerät: Galten Nokia Bochum, Siemens Kamp-Lintfort und Motorola Flensburg als Erfolgsfälle industriellen Wandels in Regionen, die von krisenanfälligen Branchen geprägt sind, so traf der zeitversetzte Kahlschlag der Handy-Branche sie ins Mark - und bedroht nun ihre Zukunftschancen. In dieser Situation werden die Beteiligten vor Ort, unter ihnen die Gewerkschaften, sehr schnell zu einer "Krisenfeuerwehr" mit - wie die Erfahrungen zeigen - begrenzten Erfolgen. Und insbesondere in Regionen, die von der zunehmenden Dynamik des Strukturwandels in besonderer Weise betroffen sind, lässt sich häufig beobachten, dass sich die Akteure nur reaktiv verhalten.

KEINE LEICHTE SITUATION_ Regionen, die mit betrieblichen Umstrukturierungsmaßnahmen oder dem Niedergang ganzer Branchen zu kämpfen haben, können rasch in eine Abwärtsspirale geraten: Der Unternehmensbestand schrumpft, und der regionale Arbeitsmarkt wird kleiner. Zugleich geht tendenziell der Konsum zurück, die kommunalen Steuereinnahmen sinken, und die gut ausgebildeten Bevölkerungsschichten wandern ab. Damit steigt das Risiko, dass die regionale Infrastruktur nicht mehr ausgelastet wird oder die Versorgung der Bevölkerung mit grundlegenden Dienstleistungen und Gütern nicht mehr gewährleistet werden kann. Eine solche Krise können die Verantwortlichen vor Ort in der Regel nicht allein meistern, sie sind auf Hilfe von außen angewiesen.

Für die Gewerkschaften keine leichte Situation: Einerseits gehören Regional- und Strukturpolitik nicht zu ihren Kernaufgaben, nur vereinzelt treten sie bislang als wichtiger regionalpolitischer Akteur auf. Und angesichts schwindender Ressourcen wird Regionalpolitik mehr denn je als nachrangige Aufgabe angesehen. Andererseits werden in Krisensituationen auch von den Gewerkschaften eigene Lösungskonzepte gefordert. Häufig ist es dann allerdings zu spät. Mehr noch: Die alltägliche gewerkschaftliche Tarif- und Betriebspolitik kann unter Druck geraten, weil die Region gewissermaßen "wegrutscht".

Sinnvoll wäre von daher, wenn sich Gewerkschaften gestaltend in regionale Themen einmischen - und zwar nicht nur in Krisensituationen, sondern auch offensiv, durch Begleitung neuer Branchen und Technologien. Doch die Frage, ob es diesbezüglich ungenutzte Chancen und Beteiligungsmöglichkeiten gibt - etwa bei der Durchsetzung eigener Konzepte, in der Nutzung eigener Hebel, wie der Gestaltung von Sozialplänen, oder bei der Umsetzung von staatlicher Förderpolitik -, ist innerhalb der Gewerkschaften nicht unumstritten.

WICHTIGE IMPULSE_ Nun gibt es durchaus Beispiele, die zeigen, dass erfolgreiches gewerkschaftliches Engagement in diesem Feld möglich ist: In einer von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Untersuchung zum Strukturwandel in altindustriellen Regionen kommen Klaus Dörre und Bernd Röttger, Sozialforscher an der Uni Jena, zu dem Fazit: "In allen von uns untersuchten Regionen partizipieren die Gewerkschaften, besser: einzelne GewerkschafterInnen und die von ihnen repräsentierten lokalen Gliederungen aktiv an der Strukturpolitik. Mehr noch, in allen Fällen gingen wichtige strukturpolitische Impulse von den Gewerkschaften aus.

Sie waren es, die die regionale Entwicklung nicht dem freien Spiel der Marktkräfte überlassen wollten." Sozialpläne und andere Instrumente des Krisenmanagements wurden beispielsweise bei Grundig in Nürnberg oder in vielen Regionen Ostdeutschlands dazu genutzt, um die regionale Entwicklung voranzutreiben - allerdings zumeist in Krisensituationen mit hohem Leidensdruck. Aber auch jenseits davon gibt es Regionen, in denen die Gewerkschaften mit eigenständigen Konzepten und häufig eingebunden in regionale Netzwerke an Strukturpolitik mitwirken. Damit sind ohne Zweifel zugleich die Gewerkschaften selbst gestärkt worden, auch in ihrer öffentlichen Wahrnehmung.

Die Beispiele zeigen jedenfalls, dass die Gewerkschaften nicht in einer randständigen Rolle, gewissermaßen am Katzentisch, verharren müssen. Vielmehr haben sie durchaus einiges einzubringen. Eine intelligente Verknüpfung von Betriebs-, Tarif- und Qualifizierungspolitik mit der Strukturpolitik kann ihnen eine Bodenhaftung verleihen, die vielen Wirtschaftsförderern und Beratern häufig fehlt. An den Schnittstellen von Betrieb, Arbeitsmarkt und Region können sie eigenständig produktive Beiträge für die regionale Entwicklung leisten. Aktuelle gewerkschaftliche Kampagnen wie "Besser statt billiger" oder "Gute Arbeit" setzen zwar am Betrieb an, stellen aber die betriebliche Innovations- und Arbeitspolitik durch überbetriebliche Vernetzung in einen räumlichen Zusammenhang. Regionale Initiativen und Bündnisse, die sich gegen die zunehmende Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen wenden, erweitern die gewerkschaftlichen Aktionsfelder und können der Auseinandersetzung um Arbeitsbedingungen größeren Schwung verleihen.

Zudem hat die Industrie- und Dienstleistungspolitik, nun wirklich eine Kernaufgabe der Gewerkschaften, auch eine räumliche Dimension. Wenn in einer Verwaltungsstelle Betriebsräte aus Metallbetrieben, etwa der Umformtechnik, miteinander kooperieren und - mit wissenschaftlicher Unterstützung - koordiniert versuchen, Einfluss auf die Investitions- und Personalpolitik der Unternehmen zu nehmen, dann geht es dabei auch um die Bestandspflege der Betriebe. Mit anderen Worten: Ein erweiterter Zugriff auf die eigenen Handlungsfelder eröffnet den Gewerkschaften Chancen für ein strategisch orientiertes und proaktives Engagement in der Regionalpolitik, das sich nicht allein auf die Aufgabe eines Krisenmanagements beschränkt. Dieses Engagement muss sich jedoch im Konzert mit anderen, insbesondere staatlichen Instrumenten bewähren.

VERÄNDERTE FÖRDERZIELE_ Seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland erhalten die vom Strukturwandel betroffenen Regionen öffentliche Fördergelder aus unterschiedlichen Töpfen: Zu nennen ist hier vor allem die Gemeinschaftsaufgabe "Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" (GRW) des Bundes. Auch die EU hat Ende der 1980er Jahre mit den Europäischen Strukturfonds wie EFRE und ESF ein Konzept entwickelt, um den regionalen und sozialen Zusammenhalt in Europa zu stärken. Strukturschwachen Regionen soll durch Ausgleich der Standortnachteile ein Anschluss an die allgemeine Wirtschaftsentwicklung ermöglicht und damit regionale Entwicklungsunterschiede abgebaut werden. So wurden Investitionen in der gewerblichen Wirtschaft zwischen 1991 bis 2007 mit knapp 40 Milliarden Euro allein aus GRW-Mitteln gefördert. Deutschland erhält von den knapp 350 Milliarden Euro, welche den 27 Mitgliedsländern zwischen 2007 und 2013 über die Europäischen Strukturfonds zur Verfügung stehen, über 26 Milliarden Euro.

Im Prinzip verfolgten staatliche Regionalpolitik und Gewerkschaften lange Zeit das gleiche Ziel: die Angleichung der Lebensbedingungen in den Regionen und die Verminderung der ökonomischen und sozialen Spaltung. Dass der Markt solche Spaltungen beschleunigen kann, ist bekannt. In den letzten Jahren hat sich jedoch die Stoßrichtung der Förderpolitik in Deutschland grundlegend verändert: Prägend ist heute nicht mehr das Ziel des regionalen Ausgleichs, sondern des Wettbewerbs - mit einer wachsenden Konkurrenz um die innovativsten Unternehmen, attraktivsten Standorte und Fachkräfte. Dies gilt für alle Regionen, unabhängig davon, ob sie strukturschwach oder -stark sind. Programme wie "Unternehmen Region" des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, das Konzept der Metropolregionen, aber auch in Teilen die Europäischen Strukturfonds treiben die regionale Standortkonkurrenz weiter voran, da sie sich auf die vermeintlich stärksten Regionen und sogenannte Wachstumspole konzentrieren.

Den schwächeren Regionen wird dabei Hoffnung gemacht, dass sie von einer solchen Strategie - durch Ausstrahlungseffekte - langfristig ebenfalls profitieren werden. Doch weder die theoretische Diskussion noch die Praxis belegen diese These, dass Wachstumsimpulse der Zentren zwangsläufig ins Umland überschwappen. Es ist eher zu befürchten, dass durch die Konzentration auf die Zentren das vorhandene Potenzial in den strukturschwächsten Räumen noch weiter verloren geht oder versickert - und diese damit mittelfristig abgehängt werden. Nun sollte man sich nicht generell gegen einen "Wettbewerbs-Regionalismus" oder Hightech-Förderung wenden. Wenn man jedoch die Akzente einseitig setzt, schüttet man gewissermaßen das Kind mit dem Bade aus.

Gerade klassische Industriebereiche und Dienstleistungen machen die Stärken einer Region aus und müssen gepflegt werden. Zudem sind die Faktoren, welche den wirtschaftlichen Erfolg einer Region beeinflussen, komplexer geworden. So werden mittlerweile regionale Unterschiede weniger auf die sogenannten harten als vielmehr auf die "weichen" Standortfaktoren zurückgeführt. Hierzu zählen etwa das Qualifikationsniveau der Beschäftigten, die kulturelle Ausstattung oder die Bereitschaft zur Kooperation und Netzwerkbildung. Damit wächst auch die strukturpolitische Bedeutung der Akteure, also auch der Arbeitnehmervertreter.

STÄRKE EINBEZIEHUNG_ Bisher spielen Gewerkschaften in der Förderpolitik allerdings eine untergeordnete Rolle. Ausnahme ist Nordrhein-Westfalen: Hier werden Gewerkschaften bei der Bewilligung von Förderanträgen und Bürgschaften eingeschaltet. Sie prüfen etwa, ob das Antrag stellende Unternehmen gegen Arbeitnehmerschutzrechte verstößt. Beteiligt sind die Gewerkschaften dagegen bundesweit und nahezu flächendeckend an den Begleitausschüssen zur Umsetzung der Europäischen Strukturfonds. Diese kontrollieren auf Bundes- und Länderebene die Effizienz und Qualität der mit europäischen Mitteln finanzierten Maßnahmen. Mit Beginn der aktuell laufenden Förderperiode (2007?-?2013) wird zudem in den Konvergenzregionen - dazu zählen weite Teile Ostdeutschlands und der ehemalige Regierungsbezirk Lüneburg - die fachliche Arbeit der Wirtschafts- und Sozialpartner (WiSo-Partner) gefördert.

Damit können sich auch die Gewerkschaften inhaltlich und personell besser beteiligen. So werden einerseits Kontakt- und Beratungsstellen (KBS) der WiSo-Partner finanziert, andererseits stehen ihnen für die Programm- und Projektförderung zwischen ein und zwei Prozent der ESF-Mittel für die Durchführung gemeinsamer Aktionen im Förderbereich "Anpassungs- und Wettbewerbsfähigkeit von Beschäftigten und Unternehmen" bereit. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang, dass der DGB als Sprachrohr für die WiSo-Partner agiert und die KBS räumlich beim DGB angesiedelt wurden. Inhaltlich geht es bei der Beteiligung in erster Linie um die Beurteilung der geförderten Maßnahmen.

Denn während die Verwaltungen bisher rein nach ökonomischen und verwaltungstechnischen Gesichtspunkten - reibungsloser Mittelabfluss, zugesagtes Investitionsvolumen oder die Zahl der geschaffenen und gesicherten Arbeitsplätze - bewerten, sind qualitative Faktoren bislang eher nachrangig. Also: Welche Art von Arbeitsplätzen wird gefördert, wie nachhaltig ist die Förderung, und existieren die geförderten Stellen auch nach der fünfjährigen Arbeitsplatzgarantie des Unternehmens?

Darüber hinaus müssten die Gewerkschaften ihre Beteiligung dafür nutzen, gewerkschaftliche Themen wie etwa "Gute Arbeit" in die Strukturpolitik einzubringen und für die eigene Strategie einzusetzen. Durch den betrieblichen Ansatz des ESF-Förderbereichs sind dafür Grundlagen vorhanden, insbesondere wenn in der nächsten Zeit die WiSo-Partner gemeinsame Projekte initiieren werden, welche die betriebliche Ebene enger integrieren. An diesem Punkt macht sich ein Dilemma der strukturpolitischen Arbeit der WiSo-Partner fest: Die bisherige Diskussion zu den europäischen Strukturfonds konzentrierte sich bei den WiSo-Partnern auf einen engen Kreis von Fachleuten. Da in der laufenden Förderperiode gemeinsame Programme und Projekte im ESF durchgeführt werden, wird sich insbesondere die Kooperation zwischen Wirtschaft und Gewerkschaften zukünftig intensiver gestalten müssen. Dies setzt aber voraus, dass die Gewerkschaften die betriebliche Ebene - sprich Betriebsräte - für das Thema gewinnen.

Wenn die Gewerkschaften die zunehmende regionale Spaltung - ökonomisch und sozial - thematisieren und wenn sie die eigenen Möglichkeiten an der Schnittstelle von Betrieb und Region nutzen, dann kann es ihnen durchaus gelingen, sich im Feld der regionalen Strukturpolitik zu profilieren. Dem Leitbild eines Wettbewerbsregionalismus könnten sie das Ziel einer solidarischen Regionalpolitik entgegensetzen. Sicher, es wäre naiv anzunehmen, dass ohne einen "halbwegs intelligent gemachten Wettbewerbsregionalismus" (Dörre/Röttger) Wirtschaftsräume in der Konkurrenz überhaupt noch mithalten können. Hier werden die Gewerkschaften wohl oder übel mitspielen müssen. Gleichwohl stehen sie auch dafür, dass andere Prinzipien als Wettbewerbsdenken unsere Gesellschaft zusammenhalten - und diesbezüglich kommt ihnen die Realität in letzter Zeit ja entgegen. Die Chancen, gestaltend auf Regionalpolitik einzuwirken, stehen von daher gar nicht schlecht.


Mehr Informationen

Klaus Dörre/Bernd Röttger: Im Schatten der Globalisierung: Strukturpolitik, Netzwerke und Gewerkschaften in altindustriellen Regionen, Wiesbaden 2006

Frank Gerlach/Astrid Ziegler (Hrsg.): Neue Herausforderungen der Strukturpolitik, Marburg 2004

Patrick Küpper: Metropolen-orientierte Politik und territoriale Kohäsion - Notwendigkeit oder Widerspruch?; in RuR 4/2008, Seite 346-359, Köln 2008

Astrid Ziegler: Partnerschaft in den Europäischen Strukturfonds; in: WSI-Mitteilungen 11/2008; Düsseldorf 2008

Astrid Ziegler: Europas Regionen zwischen Ausgleich und Wachstum; in: Wolfgang Krumbein/Hans-Dieter von Frieling/Uwe Kröcher/Detlev Sträter (Hrsg.), Kritische Regionalwissenschaft, Seite 301-328; Münster 2008

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