zurück
Magazin Mitbestimmung

: Reform aus der Provinz

Ausgabe 04/2006

Was tut ein Betriebsrat, von dem sich die Basis entfernt hat? Im VW-Werk Kassel-Baunatal gab es Probleme - etwa die seit Jahren sinkende Wahlbeteiligung. Damit soll jetzt Schluss sein.


Von Andreas Molitor
Der Autor arbeitet als freier Journalist in Berlin.



Manfred Hucke hat sich ein bisschen verheddert im Agitationsgestrüpp. Gerade versucht er, den großen Bogen zu schlagen von den bevorstehenden Betriebsratswahlen, "wo die Arbeitgeber genau auf jedes Prozent gucken werden, das wir gewinnen oder verlieren", bis zu den 20 000 Leuten, die der VW-Vorstand los werden will, und dem Aktienkurs, der gleich darauf um zehn Prozent in die Höhe schnellt. "Das ist doch pervers", kann Hucke gerade noch sagen, da wird er von einem der Zuhörer im Pausenraum unterbrochen: "Sei mir nicht böse", ruft der Mann seinem Betriebsrat entgegen, "aber du schlängelst dich wie ein Aal, nur weil du vor uns gut dastehen willst!" Hucke will etwas entgegnen, doch der andere ist schneller. Und lauter. "Du kommst mir vor wie so einer, der auf dem Wochenmarkt eine Salatreibe verkaufen will. Sei doch ehrlich und sag, dass du auch keine Ahnung hast, was los ist!" Vereinzeltes Kopfnicken bei den Umstehenden.

VW-Betriebsrat Manfred Hucke hat einen denkbar schweren Stand an diesem Tag. Sechs Tage lang hat sich der Zorn der Basis aufgestaut. Am Freitag zuvor war die Nachricht aus der Wolfsburger Konzernzentrale hier im Werk Baunatal bei Kassel eingeschlagen: Die Fabrik ist nicht mehr sicher. Von einem möglichen Verkauf war die Rede, einer Filetierung, möglicherweise sogar einer Stilllegung. Die meisten erfuhren es aus dem Radio. Jetzt wollen sie endlich wissen, was aus den gut 14 000 Jobs hier wird. "Warum kommst du jetzt erst zu uns?", muss Hucke sich fragen lassen. "Du sagst immer: ‚Wir kämpfen.' Ja, wo kämpft ihr denn überhaupt?"

Zwei Etagen darüber, in einem Büro des Betriebsrats, sitzen zur gleichen Zeit zwei Männer über Zahlenkolonnen. Carsten Bätzold, Chef der IG-Metall-Fraktion, und Heiko Hillwig, Referent des Betriebsratsvorsitzenden, analysieren die Ergebnisse der letzten vier Wahlen. Insbesondere eine Zahl bereitet ihnen Sorgen: 3651 von damals noch 15 729 Beschäftigten sind vor vier Jahren der Urne fern geblieben. "Über die Jahre gesehen ist die Zahl der Menschen, die wir nicht erreichen, stetig angewachsen", sorgt sich Carsten Bätzold. Bei der jetzt anstehenden Betriebsratswahl wollen Hillwig und er die Verdrossenen und Verweigerer wieder an die Urne holen - am liebsten natürlich heim in den Schoß der IG Metall.

Damit dies gelingt, haben die beiden Betriebsratskämpen in zweijähriger Arbeit ein Reformwerk zurechtgeschmiedet, das Arbeitnehmervertretung und Basis wieder einen soll. Das Ergebnis der diesjährigen Wahlen ist der Lackmustest, ob der Plan aufgeht. Hucke ist Bestandteil der Strategie: Vor der Reform hätte er in einer ähnlichen Situation womöglich einen Vertrauensmann vorgeschickt, auf dass der sich die Prügel der Basis einfängt. Jetzt muss der Betriebsrat persönlich Präsenz zeigen - egal ob ihm das angenehm ist oder nicht.

Als im Jahr 2004 der damalige Betriebsratsvorsitzende nach zehn Jahren an der Spitze in Rente ging, signalisierten die Zahlen den Funktionären der IG Metall: Alles in Ordnung! Jedenfalls auf den ersten Blick. Der Organisationsgrad war mit 93 Prozent vorbildlich, und bei den Betriebsratswahlen konnte der einzige Gegner, die Christliche Gewerkschaft Metall, stets klein gehalten werden. Von 41 Betriebsräten stellte die IG Metall nach der letzten Wahl 39. Allein die zunehmende Zahl der Wahlverweigerer irritierte. Sollte es etwa doch ein Problem geben?

"Wir wussten nicht, wie die Leute denken"

Es gab ein Problem, und als es endlich erkannt wurde, hatte es schon krisenhafte, sklerotische Dimensionen angenommen. Über Jahre hinweg hatten sich Betriebsrat und Basis einander entfremdet. Die Belegschaft beklagte einen Mangel an Demokratie auf Seiten des Betriebsrats. "Eure Entscheidungsprozesse sind intransparent", hieß es, "ihr gebt immer nur Ergebnisse bekannt." Die Betriebsräte wiederum maulten, weil sie nicht mehr das Gefühl hatten, dass die Mannschaft ihnen folgt. "Kein Wunder", sagt Carsten Bätzold, "zu oft ist der Betriebsrat nur hinter den Entscheidungen des Unternehmens hergedackelt. Es gab weder ein Programm noch ein Leitbild. Wir wussten nicht, was die Menschen über unsere Arbeit denken, beispielsweise ob wir eine gute Politik machen oder nicht."

Schlecht bestellt war es auch um den Informationsfluss von oben nach unten. Zwar investierte die IG-Metall-Fraktion eine Menge Zeit und Geld für die Belegschaftsinfo - allerdings erreichte sie von vornherein im Schnitt nur die Hälfte der Vertrauensleute, die als Transmissionsriemen zur Basis fungieren sollten. Und von denen hielt es wiederum ein Drittel für unnötig, die Kollegen vor Ort zu informieren. Unterm Strich erreichte eine Betriebsrats-Info also gerade mal ein Fünftel der Belegschaft. Die gescholtenen Vertrauensleute ihrerseits wollten nicht länger als Prügelknaben herhalten. Sie kritisierten, dass die Betriebsräte sich kaum vor Ort zeigten, gern hielten sie die Monstranz der gewerkschaftlichen Beschlüsse hoch.

Das wiederum nervte manche Betriebsräte, die sich im Korsett des Betriebsverfassungsgesetzes um Verbesserungen im Detail mühten, bis hin zu genügend Parkplätzen und sauberen Klos. Ob solch profane Anliegen zu den primären Aufgaben der Arbeitnehmervertretung zählen, darüber war man sich nicht einmal in der Metaller-Betriebsratsfraktion einig. "Es gibt auch bei uns Betriebsräte, die mit den Menschen an der Hand jedes kleine Problem lösen", sagt Carsten Bätzold, "während die anderen sagen: Wir müssen jetzt ideologisches Bewusstsein schaffen, dann wird die Arbeiterklasse sich irgendwann von selbst erheben und die kleinen Probleme in einem Aufwasch gleich mit lösen."

Eine Befragung der Belegschaft zur Halbzeit der Betriebsrats-Wahlperiode machte das Problem erstmals in konkreten Zahlen präsent. Im Schnitt zeigten sich lediglich 12 Prozent der Mannschaft mit der Arbeit ihres Betriebsrats zufrieden; der beste Wert lag bei 25,8 Prozent, der schlechteste bei 5,4 Prozent. Mehr als die Hälfte wollte sich nicht auf "zufrieden" oder "nicht zufrieden" festlegen.

Gleichzeitig äußerten die Baunataler Volkswagenwerker aber großes Vertrauen in die grundsätzliche Problemlösungskompetenz ihrer gewählten Vertreter. 61,6 Prozent waren der Ansicht, die IG Metall sei für die "Aufgaben der Zukunft gut gerüstet". Im Detail entpuppten sich die Aufgaben der Zukunft dann allerdings häufig als Allerweltsprobleme. Die nervige Parkplatzsucherei vor Schichtbeginn und die Bedingungen für den Jahreswagenverkauf waren vielen Befragten wichtiger als Kernthemen der Gewerkschaften wie Leistungsverdichtung und Beschäftigungssicherung.

Zuversicht schöpften Hillwig und Bätzold aus der unerwartet großen Beteiligung an der Bilanz-Befragung. 8954 Beschäftigte hatten abgestimmt. "Das war der erste konkrete Hinweis, wie viele Menschen wir bei einer Kampagne erreichen können", sagt Heiko Hillwig, der auf den Dreh mit der Fabrik-Demoskopie gekommen war, "das ist ein supergutes Ergebnis. Wir kennen niemanden in dieser Republik, der das auf die Beine stellt."

"Der Wettbewerb kommt ganz von selbst"

In welchem Bereich der Fabrik lediglich 5,4 Prozent der Befragten dem Betriebsrat ein gutes Zeugnis ausstellten, mag Hillwig nicht verraten. "Wir wollen in der Fraktion keine Konkurrenz untereinander anstacheln, sondern überlegen, wie wir es künftig besser machen", begründet er. "Der betroffene Bereich wurde natürlich mit den Zahlen konfrontiert. Allein das schafft schon Betroffenheit und darüber auch Veränderungsbewusstsein. Da entsteht von ganz allein Wettbewerb; den musst du dann nur noch lenken."

Dass dies schneller gelang als gedacht, zeigte die folgende Tarifrunde. Der Gegner war klar definiert; da bereitete die Mobilisierung keine Probleme. Brav folgte die Arbeiterschaft ihren Taktgebern von einer Eskalationsstufe zur nächsten. Machtvoll wie lange nicht mehr war die Beteiligung bei der Kundgebung vorm Werkstor gleich zu Verhandlungsbeginn, folgsam und diszipliniert wurden die ersten Warnstreiks durchgezogen. "Das war unglaublich, mit welcher Kraft wir in der Lage waren, innerhalb kürzester Zeit die Massen zu mobilisieren", schwärmt Carsten Bätzold.

"Da konntest du sagen, in 20 Minuten treffen sich die und die Leute an dem und dem Punkt, dann wurde die Parole ausgegeben, und kurz darauf hat die Fabrik stillgestanden." Als es bei den Verhandlungen auf das Ende zuging, erhöhten er und seine Getreuen die Schlagzahl. Eines Morgens, in aller Frühe zu Schichtbeginn, wurden sämtliche Tore dichtgemacht - und blieben es für vier Stunden. Keiner kam rein. "Das hat gigantisch funktioniert", freut sich Bätzold.

Gestärkt und gestählt ging es danach in die eigentliche Reformwerkstatt, die Brutstätte des neuen Leitbildes der IG-Metall-Betriebsräte. Heiko Hillwig, zuvor Trainer bei VW-Coaching, hatte für die Workshops einen Methodencocktail zurechtgemixt, sozusagen ein "Best of" des Kommunikations- und Führungskräftetrainings, das den VW-Metallern bei der Suche nach ihrem kollektiven Selbst den Weg leuchten sollte: ein bisschen Gestalttherapie ("Bastelt ein Etwas, das ausdrückt, was dich auszeichnet, wenn es um die Interessen der Belegschaft geht"), ein Schuss systemische Theorie und Change-Management.

Spirituelles ist dem VW-Werker sonst eher fremd

Die abschließende Fraktionsklausur moderierte Hillwig gemeinsam mit einem Streetworker, der sich sonst um die Nöte von Drogensüchtigen und Prostituierten kümmert. "Wir brauchten eine ganz andere Perspektive, die nichts mit VW zu tun hat", erklärt er. Einige altgediente, knorrige Gewerkschaftshaudegen guckten befremdet, als sie spät abends ihre hölzernen "Stolpersteine" ins Lagerfeuer werfen sollten - Symbole für das, was sie bislang daran gehindert hatte, besser zu werden. Spirituelles ist dem Volkswagen-Werker ansonsten eher fremd. Da war auf einmal die Rede von den "Stämmen der roten Brüder und Schwestern im Pueblo von Volkswagenien, einst sehr mächtig, die durch Krankheit und Seuchen fast 6000 Stammesmitglieder verloren hatten".

Hillwig hatte seine Leute aufgefordert, sich gegenseitig ihre Erfolgsgeschichten zu erzählen, kleine Begebenheiten, auf die sie als Gewerkschafter stolz sind. Die vielen kleinen Geschichten wurden zu größeren verwoben, Märchen waren dabei, Fabeln und Parabeln, die man sich abends bei Kerzenschein erzählte. Die Geschichte vom kleinen roten Knoten etwa, der morgens aufwacht und Anschluss sucht. Er trifft andere Knoten, verbindet sich mit ihnen, es werden immer mehr. Und wenn Gefahr droht, vor allem vom bösartigen schwarzen Netzwerk, laufen alle miteinander verbundenen Knoten knallrot an. Da kriegt sogar das böse schwarze Netzwerk Angst.

Mit der selbst gewählten vornehmen Distanz der Betriebsräte zur Basis hat es nun ein Ende. Präsenz ist angesagt, über die Bätzold und Hillwig mit Excel-Tabellen wachen. Jeder Betriebsrat muss dreimal im Jahr vor jedem Beschäftigten in seinem Zuständigkeitsbereich stehen. Das macht umgerechnet pro Woche vier Basis-Veranstaltungen à 45 Minuten. "Früher war es möglich, als Betriebsrat in diesem Werk abzutauchen", sagt Carsten Bätzold. "Das geht nicht mehr. Auf lange Sicht wird das auch die Zusammensetzung des Betriebsrats ändern." Der Anfang ist schon gemacht. Einige derer, "die der Meinung waren, dass der Demokratieansatz nur unsere Grundsätze beiseite fegt", gingen in Altersteilzeit, andere wurden nicht wieder aufgestellt.

Ein besseres Reformduo als Hillwig und Bätzold hätte die Fraktion kaum finden können. Ohne die beiden wäre der Prozess vermutlich nie in Gang gekommen. Hier der clevere Methodiker, der das methodische Potpourri in ein stimmiges Konzept gießt, dort der agitatorisch beschlagene politische Gestalter, der weiß, wo die Reise hingeht. Carsten Bätzold, das Fraktions-Alphatier mit dem roten IG-Metall-Schal. Es gibt ja nur wenige Funktionäre, die nicht verstaubt wirken, wenn sie von der "Arbeiterklasse" sprechen.
Zur Betriebsratswahl in diesem Jahr haben Hillwig und Bätzold in vier aufeinander folgenden Wellen generalstabsmäßig mobilisiert.

10 200 organisierte Metaller haben schon beim Votum über die Zusammensetzung der IG-Metall-Liste mitgemacht. 12 000 Stimmen bei der Wahl sind das Ziel, das wären gut 1000 mehr als vor vier Jahren. Es ist eine richtige Kampagne, mit klarem Gegnerbezug. Der fällt angesichts der jüngsten Äußerungen der Konzernspitze auch nicht schwer. Niemand hört gern, dass er überflüssig ist. Und niemand möchte sich ständig vorrechnen lassen, dass die Arbeitsstunde in Baunatal im Schnitt 54 Euro kostet, während die Kollegen bei der VW-Tochter "Auto 5000" auch für 30 Euro pro Stunde zur Schicht antreten.

Der gültige VW-Haustarifvertrag schließt betriebsbedingte Kündigungen bis 2011 aus. Damit sind die Baunataler Betriebsräte in einer ungleich stärkeren Position als beispielsweise ihre Kollegen bei AEG in Nürnberg, denen letztlich nur die Rolle blieb, den sozialen Abstieg ihrer Mitglieder zu moderieren. Aber Bätzold und die Seinen wissen auch, dass bei optimaler Organisation aller Abläufe in Produktion und Vertrieb durchaus 20 000 Leute im Konzern überflüssig wären, vermutlich mehr. Trotzdem werden sie jeden dieser 20 000 Jobs verteidigen. Schließlich haben die VW-Werker ihre Betriebsräte nicht gewählt, damit sie für das Management Entlassungslisten anfertigen.

Der Skandal um bezahlte Lustreisen im Volkswagen-Konzern hat hier kaum durchgeschlagen. Niemand aus dem Werk war verwickelt, von schönen Brasilianerinnen mag jetzt niemand mehr etwas hören. "Durch unseren Reformprozess haben wir an Vertrauenswürdigkeit gewonnen", glaubt Heiko Hillwig. "Wenn unser Betriebsratschef jetzt sagt, ich weiß davon nichts, dann nehmen die Leute ihm das auch ab."

Wird der Baunataler Betriebsrat jetzt Reformpionier für andere VW-Standorte? Die Architekten der Reform wehren ab. "Die Empfangsbereitschaft der anderen Standorte schätzen wir derzeit als nicht so groß ein", formuliert Heiko Hillwig vorsichtig, aber eindeutig - sicher auch mit Rücksicht auf jahrzehntelang gewachsene Traditionen. "Unser Gradmesser ist der Ausgang der Betriebsratswahl. Danach sehen wir weiter."





Von Hessen in alle Welt

Das VW-Werk Baunatal bei Kassel wurde 1957 gegründet. Knapp 15 000 Mitarbeiter produzieren hier Getriebe, Abgasanlagen und Karosserieteile. Die Fabrik ist einer der wichtigsten Arbeitgeber in Hessen und zählt zu den bedeutendsten Komponentenlieferanten für den weltweiten Fahrzeugbau des Konzerns. Auf dem Werksgelände befindet sich seit 1994 das Volkswagen Original Teile Center. Es gilt als größtes und modernstes Logistikzentrum Europas. Von hier aus werden pro Jahr gut 17 Millionen Teile in mehr als 170 Länder verschickt.


Nachtrag: Kurz vor dem Druck erreichte uns das Wahlergebnis aus Kassel-Baunatal. Von 39 Sitzen gehen 35 Sitze an die IG Metall. Das entspricht 9996 Stimmen oder 87,5 Prozent der abgegeben Stimmen. Zwar liegt der Wert 1000 Stimmen unter dem Ergebnis der Wahl vor vier Jahren - aus Betriebsratskreisen ist dennoch zu hören, dies sei ein respektables Ergebnis. Ohne den Reformprozess wäre es vermutlich weit schlechter ausgefallen.

 

Zugehörige Themen

Der Beitrag wurde zu Ihrerm Merkzettel hinzugefügt.

Merkzettel öffnen