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Magazin Mitbestimmung

Von JENS BECKER: Oskar Negts Ostpreußen

Ausgabe 05/2017

Rezension In den Mittelpunkt seines Buches stellt Oskar Negt seine Flucht aus Königsberg 1945. Zehn Jahre lang war er Kriegsflüchtling – bis zum Abitur. Er fragt, wie ein Leben trotz traumatischer Erfahrungen gelingen kann.

Von JENS BECKER

Vom „Überlebensglück“ handelt der erste Teil der Autobiografie Oskar Negts, in deren Mittelpunkt seine Geschichte als Flüchtling und Vertriebener steht. Der Sozialwissenschaftler, der 1930 im ostpreußischen Kapkeim als Sohn einer Bauernfamilie geboren wurde, wählt dazu eine für das Genre ungewöhnliche Methode, die über die Verknüpfung von Einzelereignissen hinaus in einer dichten Erzählung mündet. Negt verbindet Beschreibungen des Erlebten und der Zeit- und Gesellschaftsverhältnisse mit sozialphilosophischen Reflexionen. Diese Reflexionen kreisen, wie könnte es bei einem an Kant, Freud, Marx und Adorno geschulten Soziologen anders sein, um die Begriffe Aufklärung, Bindung und Emanzipation. Er schildert, wie wichtig das Umfeld und Familie sind, damit ein Kind jenes Vertrauen entwickelt kann, das es braucht, um sich zu orientieren und das weitere Leben zu meisten.

„Sich orientieren heißt so viel wie sich zurechtfinden, sich im Labyrinth der Verhältnisse nicht zu verirren“, schreibt Negt. Dies gilt umso mehr in Zeiten des Krieges. Hier bedarf es der Überlebensstrategien und des Überlebensglücks. Glück, das räumt Negt ein, hat er neben einem ungestümen Wissensdrang immer wieder im Leben gehabt. Nicht der Krieg, sondern die durch den Krieg notwendige Flucht aus Ostpreußen wurde für Negt zum Wendepunkt: „Es war der 25. Januar 1945. An diesem Tag endete meine Kindheit.“

Durch ein Zugunglück wird der Fluchtweg des kleinen Oskar und seiner beiden älteren Schwestern Ursel und Margot nach Königsberg unterbrochen. Von dort sollen die Geschwister nach Berlin weiterreisen, wo sich die Großfamilie wieder vereinigen und Unterkunft finden will. Aber es kommt anders. „Es gab keinen über Land gehenden Fluchtweg mehr“, schreibt Negt. „Wir waren verzweifelt.“

Nur mit Mühe und dank hilfsbereiter Menschen gelingt es ihnen, Königsberg zu erreichen. Wenig später können sie auf einem überladenen Kahn die „Totenstadt“, in der die eisige Kälte es nicht mehr zulässt, die Leichen zu begraben, Richtung Dänemark verlassen.

Negt räumt mit dem Mythos auf, die Marineführung um Admiral Dönitz habe die Zivilbevölkerung beim Passieren der Ostsee unterstützt. Vielmehr waren es untergeordnete Marinestellen – Dönitz, schreibt Negt, habe den „geringsten Anteil“ daran. Zu diesem Zeitpunkt war das eingekesselte Königsberg faktisch besiegt und die Rote Armee rückte unaufhaltsam Richtung Westen vor. Hunderttausende konnten fliehen, doch Zehntausende kamen ums Leben. Zwei Jahre verbrachten Oskar und seine Schwestern in dänischen Internierungslagern. Zeitversetzt fand die Familie Negt zunächst Zuflucht in der sowjetischen Zone bzw. der DDR, um 1951 in die Bundesrepublik zu fliehen. Negts Vater, einem  alten Sozialdemokraten, drohte, wegen seiner kritischen Haltung zur Kollektivierung der Landwirtschaft, im Osten die Verhaftung.

In Oldenburg fand Negt ein neues Zuhause. Hier reüssierte er mit seinen Goethe-Kenntnissen, bestand 1955 das Abitur, das er als Ende des Flüchtlingsdaseins feierte, und schuf die Grundlagen für ein erfolgreiches Studium bei Adorno und Horkheimer. Fazit: Das mehrjährige Fluchttrauma, das sein Leben auseinanderriss, verknüpft Negt mit Assoziationen des Flüchtlingselends, „das heute andere Menschen betrifft, aber ähnliche Hilflosigkeit ausdrückt wie damals, als Hunderttausende sich in Häfen zusammendrängten, um über die Ostsee zu fliehen.“ Darin liegt die Originalität von Negts lesenswertem Buch.

Seine Fluchtgeschichte ist verwebt mit Reflexionen über das gegenwärtige Versagen der Weltgesellschaft: „Nie hat es in der Geschichte so viele Flüchtlinge gegeben; mit gutem Grund kann man unser Zeitalter als das der Flüchtlinge bezeichnen.“ Gespannt erwarten wir die Fortsetzung der Autobiografie, die Oskar Negt plant. Denn sie verspricht nach diesem sehr persönlichen Einstieg in Negts Leben auch Aufschluss über die politische Geschichte der Bundesrepublik.

Oskar Negt: Überlebensglück. Eine autobiografische Spurensuche, Steidl Verlag 2016, 320 Seiten, 24 Euro In der Mediathek des Radiosenders WDR 5 ist ein 50-minütiges Gespräch mit Oskar Negt über das Buch verfügbar.

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