zurück
Magazin Mitbestimmung

: Ortstermin in Karlsruhe

Ausgabe 05/2010

STUDIENFÖRDERUNG Die höchsten Richter Deutschlands öffen die heiligen Hallen für Stipendiaten der Hans-Böckler-Stiftung. Bericht von einer Exkursion zum Bundesverfassungsgericht.

Von JOACHIM F. TORNAU, Journalist in Kassel

Wer hätte das gedacht: Für den würdevollen Auftritt brauchen die Hüter des Grundgesetzes einen Spickzettel. Neben der Tür, durch die die Bundesverfassungsrichter in den Sitzungssaal einziehen, hängt ein etwas schäbig wirkendes Stück Papier. Vor jeder Verhandlung wird hier die Sitzordnung eingetragen - damit sich die acht Männer und Frauen in den roten Roben beim Verlassen ihres Beratungszimmers nicht auf die Füße treten.

Dem Zufall wird an Deutschlands höchstem Gericht nichts überlassen - das lernten die Teilnehmer einer Stipendiaten-Exkursion der Hans-Böckler-Stiftung nach Karlsruhe schnell. Der Erste Senat residiert hier im ersten Stock, der Zweite im zweiten. Und nicht nur die Plätze auf der Richterbank, sondern auch die Büros werden streng nach Dienstalter vergeben: Wer seine zwölfjährige Amtszeit eben erst angetreten hat, sitzt ganz außen und muss am Schreibtisch mit der weniger schönen Aussicht und der größeren Sonnenhitze vorlieb nehmen. Wo erfährt man so etwas, wenn nicht vor Ort?

"Wir wollen unseren Stipendiaten Möglichkeiten und Einblicke eröffnen, die ihnen die Hochschulen nicht bieten", erklärt Exkursionsleiterin Birgit Grafe, die in der Stiftung unter anderem die derzeit 85 Stipendiaten betreut, die sich für die Juristerei entschieden haben. Immerhin 22 sind bei der viertägigen "Exkursion zu den Gerichtsbarkeiten in Karlsruhe" dabei. Sie sind zwischen 20 und 34 Jahre alt. Einige von ihnen haben ihr Studium direkt nach der Schule begonnen, andere kommen über den zweiten Bildungsweg. Die meisten sind Frauen, viele stammen aus zugewanderten Familien. Esma Cakir-Ceylan aus Neuss hat als Einzige schon ihre Doktorarbeit abgegeben und arbeitet als Anwältin. Doch auch für sie sei die Exkursion noch gewinnbringend, sagt sie: "Wenn man solche Persönlichkeiten wie Frau Hohmann-Dennhardt sieht, die Stipendiaten der Stiftung waren und so viel erreicht haben, ist das sehr motivierend", meint die 33-Jährige.

"Unsere Stipendiaten sollen Vorbilder entdecken können: Sie sollen Lust bekommen, ihr Studium gut abzuschließen - um dann in gesellschaftlicher Verantwortung zu arbeiten, ohne ihre Kinderstube zu vergessen", betont Grafe. Die Begegnung mit Alt-Stipendiaten ist deshalb ein Teil des Programms. Die Stipendiaten treffen einen Arbeitsrechtsanwalt, der als SPD-Abgeordneter im baden-württembergischen Landtag sitzt, und einen Staatsanwalt der Generalbundesanwaltschaft. An die Besichtigungstour durch den bescheidenen 60er-Jahre-Bau, in dem das Verfassungsgericht am Rande des Schlossplatzes residiert, schließt sich ein Gespräch mit Bundesverfassungsrichterin Christine Hohmann-Dennhardt an: Auch die frühere hessische Justiz- und Wissenschaftsministerin hat ihre Karriere als Stipendiatin der Stiftung begonnen. Im Plenarsaal, in dem sich sonst die beiden Senate zu gemeinsamen Beratungen treffen, lässt sich die 60-Jährige ausfragen. Alles hier gebietet Respekt, aber die Besucher zeigen keine Scheu. Fachliches wollen sie genauso wissen wie Privates - und entlocken der hohen Juristin sogar freimütige Äußerungen zum Thema Hartz IV: "Ich habe diese Gesetzgebung nicht für richtig gehalten", sagt die Sozialdemokratin. "Man hat nicht gefördert, sondern letztlich stigmatisiert."

Die Exkursion bietet jedoch mehr als Fragestunden mit Prominenten. Die Teilnehmer steuern auch eigene Beiträge bei - vom Referat über Hartz IV bis zum frühmorgendlichen Yoga - und führen kritische Diskussionen. Zugleich nutzen sie die Gelegenheit, ihre Betreuerin Birgit Grafe zu sprechen und sich untereinander besser kennenzulernen. "Jura ist ein sehr konservatives Fach, in dem es kaum Gewerkschafter gibt", sagt Kai Lamparter, 33, aus Köln. Umso wichtiger sei darum der Kontakt zu anderen Stipendiaten. Der Elektroinstallateur und Krankenpfleger ist erst spät zum Jura-Studium gekommen und wird an der Universität deshalb mitunter kritisch beäugt, wie er berichtet. Auch, weil er schon etwas älter ist. Bei der Hans-Böckler-Stiftung, sagt er, sei die Begegnung mit Jüngeren dagegen ganz selbstverständlich. Und für die Jüngeren wiederum erweitern Menschen wie er den Horizont. "Es ist gut zu sehen", sagt Dmitri Geidel aus Berlin, mit 20 Jahren der jüngste Teilnehmer, "dass Lebenswege nicht so geradlinig verlaufen müssen, wie sich das große Kanzleien vorstellen."

Zugehörige Themen

Der Beitrag wurde zu Ihrerm Merkzettel hinzugefügt.

Merkzettel öffnen