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Magazin Mitbestimmung

: Organizing Summer 2004

Ausgabe 01+02/2005

In den USA arbeiten Gewerkschaften unter viel schwierigeren Bedingungen als in Deutschland. Was liegt da näher, als selbst hinzufahren und von den US-Kolleginnen zu lernen? Ein deutsch-amerikanisches Tagebuch.

Von Agnes Schreieder
Die Autorin ist Gewerkschaftssekretärin im Fachbereich Handel der ver.di-Bundesverwaltung in Berlin. agnes.schreieder@verdi.de

Eggenfelden, 2000. Amerika liegt mitten in Niederbayern. Neulich kam Wal-Mart nach Eggenfelden. Was die Verkäuferinnen, die für eine Vielzahl niedergegangener Ketten gearbeitet haben, wohl von ihrem neuen Arbeitgeber halten? Der "Morning Cheer", der Wal-Mart-typische Begrüßungsruf in Eggenfelden? Wal-Mart wird es wohl nicht einfach haben hier. Die Gewerkschaft allerdings auch nicht. Die Belegschaft ist nicht organisiert, die wenigen Versuche in den vergangenen Jahren sind allesamt gescheitert. Wal-Mart hat hier keinen Betriebsrat und keine Gewerkschaftsmitglieder in der Belegschaft.

Regensburg, 2001. Da sind noch zahlreiche andere harte Brocken. Wie Pilze schießen sie aus dem Boden: Lidl, Aldi, Schlecker, Netto und wie sie alle heißen. Das sind sie: die Billig-Jobs - vier, fünf Euro brutto in der Stunde. Für Frauen. In Teilzeit. Tarifverträge sehen deutlich bessere Bedingungen vor, aber wo kein Kläger, da kein Richter. Einstellungen gibt es nur noch befristet, dazu Aushilfsverträge, Kettenarbeitsverträge, für zwei Tage oder für zwei Wochen. Die meisten der Frauen arbeiten gerne im Handel. Allerdings: Wo sollten sie auch sonst arbeiten? Wir bündeln unsere Kräfte. Wie geht Organizing?

Berlin, 2003. Wir konzentrieren uns zunächst auf Schlecker. Mit unserem Tarifvertrag zur bundesweiten Betriebsratsbildung - bei der Schlecker-Kampagne vor einigen Jahren in hartem Konflikt durchgesetzt - und ein paar Dutzend engagierten Schlecker-Betriebsrätinnen haben wir bei den vielen unorganisierten Handelsunternehmen die besten Ausgangsbedingungen. Bundesweit stehen uns härteste Auseinandersetzungen ins Haus. Für 30000 Frauen in 8000 Schlecker-Filialen gibt es bislang noch keine Betriebsräte.

Obwohl wir flächendeckend Tarifbezahlung durchsetzen konnten, sind die Arbeitsbedingungen in den Filialen ohne Betriebsrat noch immer um Klassen schlechter als in den anderen: Frauen, die Betriebsräte wählen wollen, werden gemobbt, notfalls mit erzwungenen Aufhebungsverträgen oder fristlosen Kündigungen aus dem Unternehmen gebracht. Trotzdem fassen immer mehr von diesen Frauen Mut. Sie organisieren sich und gründen mit uns Betriebsräte. Dadurch gewinnen wir Hunderte neue Mitglieder, viele der Kolleginnen machen aktive Gewerkschaftsarbeit.

Berlin, März 2004. Ich will Organizing in den USA lernen. Ich will in Kampagnen vor Ort mitarbeiten, in Betriebe gehen und direkt mit Beschäftigten sprechen. Mich interessiert, wie Organizer unter schwierigsten Bedingungen - fehlende Zutrittsrechte, fehlender Kündigungsschutz, hohe Fluktuation, prekäre Arbeitsverhältnisse, massiver Druck durch Arbeitgeber - trotzdem neue Mitglieder gewinnen können und Betriebe gewerkschaftlich organisieren.

Über UNI, den Weltverband der Dienstleistungsgewerkschaften, habe ich eine Zusage der US-Handelsgewerkschaft UFCW für Juli. Der US-Gewerkschafter Jeffrey Raffo, nach zehn Jahren Organizing in den USA nun in Deutschland dabei, Gewerkschaften bei Campaigning und Organizing zu unterstützen, hilft mir, eine Zusage der Organizing Gewerkschaft UNITE-HERE für August und ein paar gute Kontaktadressen zu bekommen. "Fahr erst mal hin. Wenn du dort bist, wird sich sicher alles geben", sagt er.

Washington, D.C./Maryland, Juni 2004. Das erste Mal in Amerika. Für vier Monate bin ich von meiner Arbeit bei ver.di freigestellt. Am nächsten Tag starte ich mit dem Organizing-Kurs im "George Meany Center", der Akademie des Gewerkschaftsdachverbandes AFL-CIO, eine halbe Stunde außerhalb von Washington, D.C. Eine Woche mit Gewerkschaftssekretären und Shop-Stuarts, die mehr über Organizing lernen wollen. Mein kleines elektronisches Wörterbuch wird vom ersten Tag an mein bester Freund. "Organizing to Win" ist unser Standardwerk.

Organizing ist mehr als Mitgliederwerbung. Es bedeutet die Bildung der Gewerkschaft im Betrieb. In den USA müssen Beschäftigte so gut wie immer harte Auseinandersetzungen um ihre Rechte und Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen ausfechten. Die Beschäftigten haben in der Regel keine andere Wahl, als gegen ihre Arbeitgeber zu kämpfen. Nur in organisierten Belegschaften gibt es überhaupt Arbeitnehmervertretungen und Mitbestimmungsrechte für Arbeitnehmer im Betrieb. Nur dort kommen Tarifverträge, die auch Sozialversicherungsbeiträge des Arbeitgebers regeln, zum Tragen.

Weiter nach Baltimore. Das Organizing-Institut des AFL-CIO veranstaltet ein Wochenend-Training mit rund 40 Teilnehmern. Gleich am Anfang wird die wichtigste Botschaft von Organizing vorgestellt: "Deine Situation wird sich verbessern, wenn du dich gemeinsam mit deinen Kollegen für die gewünschten Veränderungen einsetzt." Drei Tage lang, von neun bis 21 Uhr, üben wir Gesprächsführung: Das wird später nützlich sein, wenn wir bei Hausbesuchen mit Beschäftigten sprechen.

Die Agenda begleitet mich wahrscheinlich bis ans Lebensende: "Get the story, give a vision of campaigning union, inoculation, asses and agitate, move to action." Das Gespräch dauert 20 Minuten, ich soll vier, maximal sechs Minuten davon reden. Im Idealfall unterschreibt der Beschäftigte am Ende die Mitgliedskarte und wirkt selbst bei der Organisierung mit. "Was zeichnet gute Organizer aus?", frage ich. "Zuhören können", ist die Antwort.

Brooklyn, New York, Juli 2004. Natürlich habe ich sofort ja gesagt. Die New Yorker Geschäftsstelle Local 1500 der Handelsgewerkschaft UFCW macht innerhalb von zwei Jahren den dritten Anlauf, um ein erstes von 150 Warenhäusern der Kette "BJ's" zu organisieren - mit 250 Beschäftigten und acht Organizern in Brooklyn. Bei der anstehenden schriftlichen Anerkennungswahl muss mindestens die einfache Mehrheit der Beschäftigten für die Vertretung durch die Gewerkschaft stimmen.

Ich mache selbst Hausbesuche und bekomme mit, dass das Wichtigste für die Organizer ist, mit Beschäftigten ins Gespräch zu kommen, ein tagesaktuelles Bild über die Mehrheitsverhältnisse zu gewinnen und Unentschlossene zu überzeugen. Union Buster - auf Verhinderung von Gewerkschaften spezialisierte Anwälte - haben sich bei BJ's eingerichtet und dirigieren eine extrem harte Kampagne. Trotz aller Bemühungen geht die Wahl Ende Juli deshalb für die Handelsgewerkschaft verloren.

Manhattan, New York, Juli 2004. Im New Yorker Organizing-Projekt "Union Square" verteilen wir Flugblätter und rufen zur Demonstration vor der New School University auf. Nach einer harten, ein Jahr dauernden Auseinandersetzung an der traditionsreichen linken Uni hat die Mehrheit der Lehrkräfte für die gewerkschaftliche Organisation durch die Automobilgewerkschaft UAW gestimmt, die auch zahlreiche Beschäftigte an Universitäten vertritt. Die Organizer haben dazu Hunderte Einzelgespräche geführt.

Der Universitäts-Präsident verweigert trotzdem Tarifverhandlungen. Das bringt ihm bei der Demo die Ratte ein - das Symbol für Feinde der Demokratie und Gewerkschaftsverhinderer. Prominente Künstler haben sich an die Beschäftigten gewandt und sie ermuntert, sich zu organisieren. Studenten haben mehr als 1000 Unterschriften zur Unterstützung gesammelt. Es gibt - ungewöhnlich genug - eine Vielzahl positiver Medienberichte über die Organisierungs-Kampagne. An der Filmfakultät entsteht ein Film über die gewerkschaftliche Organisierung an der Uni.

Boston, Connecticut, August 2004. Das Organizing-Modell der Kommunikationsgewerkschaft CWA finde ich für uns besonders diskussionswürdig. Bei CWA wird jeweils ein Drittel der Ressourcen für die Mitgliederbetreuung und Tarifarbeit in organisierten Betrieben und Unternehmen, für Organizing in bislang unorganisierten Betrieben und für gewerkschaftspolitische und vor allem für Gewerkschaftsarbeit in der Kommune eingesetzt. Mehr als andere Gewerkschaften setzt CWA auf Ehrenamtliche und Mitglieder, um neue Betriebe zu organisieren.

Über Jahre hinweg hat CWA eigene Organizing-Programme, interne Schulungen und Organisationsstrukturen geschaffen. Dabei werden auch offen Probleme angesprochen: Streit um Ressourcen, interne Differenzen um Schwerpunktsetzungen, Misserfolge. CWA hat "Jobs with Justice" ins Leben gerufen, eine übergewerkschaftliche Organisation, die sich mit neuen und pfiffigen Methoden in vielen Orten der USA darauf konzentriert, gewerkschaftliche und soziale Anliegen in der Community zu vernetzen und im unmittelbaren Lebensumfeld der Beschäftigten zu verankern.

Durham, North Carolina, August 2004. Die Textilgewerkschaft UNITE-HERE zählt neben der Dienstleistungsgewerkschaft SEIU zu den führenden Organizing-Gewerkschaften in den USA. Gezielt geht sie in Niedriglohnbereiche und bislang unorganisierte Branchen, in denen meist Immigranten unter miesesten Bedingungen arbeiten. Organisiert werden sollen vor allem international führende Konzerne. UNITE-HERE setzt nicht auf Anerkennungswahlen, sondern auf öffentlichen und wirtschaftlichen Druck. Ziel ist es, dass UNITE-HERE als Tarifvertragspartei anerkannt wird und dass Tarifverhandlungen aufgenommen werden, sobald die Mehrheit der Belegschaft die Vertretung wünscht.

New York City, September 2004. Ich bin in der UNITE-HERE-Hauptverwaltung in New York City. Rund zehn Jahre hat es für die Gewerkschaft gedauert, bis sich die Organisation - angetrieben durch den eigenen Niedergang - umgestellt hat. In der Hauptverwaltung der 400000-Mitglieder-Gewerkschaft arbeiten über 75 Prozent der 250 Mitarbeiter unmittelbar im Bereich Organizing. UNITE-HERE will mit der Dienstleistungsgewerkschaft SEIU und zwei weiteren Gewerkschaften den Dachverband zur verstärkten Ausrichtung aller Mitgliedsgewerkschaften auf Organizing bewegen.

SEIU organisiert wie UNITE-HERE gezielt in Niedriglohnsektoren, vor allem im Gesundheitswesen, Catering, Reinigungs- und Hausservice. In den vergangenen fünf Jahren hat die 1,3 Millionen Mitglieder starke SEIU Jahr für Jahr fast 50000 neue Mitglieder hinzugewonnen. Ihre Tarifkraft ist in verschiedenen Regionen so groß, dass es sogar Abschlüsse mit Flächentarif-Charakter gibt.

Berlin/Washington D.C., Dezember 2004. Für rund 1,2 Millionen Arbeitnehmer soll beim größten Arbeitgeber der USA, Wal-Mart, erstmalig die gewerkschaftliche Organisation durchgesetzt werden. In den 3600 Wal-Mart-Filialen in den USA gibt es nirgendwo Arbeitnehmervertretungen, Gewerkschaften oder Tarifverträge. Hundertausende arbeiten für den gesetzlichen Mindestlohn von 5,15 Dollar und ohne Kranken- und Rentenversicherung. Der Handel setzt Maßstäbe für die Arbeitsbedingungen in der gesamten Wirtschaft.

Der Kampf gegen Wal-Mart wird nicht nur für die US-Gewerkschaften die größte Herausforderung der letzten Jahre. Weltweit ist das Wal-Mart-Imperium praktisch eine gewerkschaftsfreie Zone. Die Ausnahme: In Deutschland hat Wal-Mart bei der Übernahme von Handelsketten Betriebsräte und Gewerkschaft mitgekauft.

Bei uns in Deutschland haben wir weitaus bessere institutionelle Voraussetzungen als die US-Gewerkschaften. Es ist wichtig, um die Kraft unserer traditionellen Instrumente zu kämpfen. Dazu müssen wir unsere Kraft jedoch auch dorthin lenken, wo diese Instrumente bereits an Wirkung verloren haben. Wir müssen die immer größer werdende Zahl von unorganisierten Beschäftigten, die mehr und mehr in kleinen und zersplitterten Betriebsstrukturen ohne Betriebsräte arbeiten, organisieren. Dazu können wir Organizing-Strategien aus den USA studieren und unter hiesigen Bedingungen erproben und weiterentwickeln.

Wir können ein Verständnis von Gewerkschaft wiederbeleben, in dem die persönliche Begegnung von überzeugten und aktiven Menschen im Betrieb eine zentrale Rolle spielt. So können wir wieder neue Mitglieder und Aktive gewinnen. Verstärkt durch Unterstützung aus sozialen Bewegungen kann gewerkschaftliche Kraft wieder zur gesellschaftlichen Kraft entwickelt werden, die Maßstäbe bei Arbeits- und Lebensbedingungen setzen kann. Es ist möglich und notwendig, dass Beschäftigte die Gewerkschaft neu bilden: bei Lidl, Schlecker und Wal-Mart in Amerika und Eggenfelden.

Schwarzbuch und Weblog - Campaigning nach US-Vorbild

Für deutsche Verhältnisse, zumal für Gewerkschaften, ist das Konzept frisch, frech, geradezu investigativ - das "Schwarzbuch Lidl", das die Gewerkschaft ver.di nach US-Vorbildern herausgebracht hat, prangert die Arbeitsbedingungen in Europas Billigkette Nummer eins an, lässt Beschäftigte zu Wort kommen und klärt über die Strukturen des Lidl-Imperiums auf. Das Buch kam am 10. Dezember 2004 auf den Markt - bereits bis Weihnachten waren mehrere Tausend Anrufe, Mails und Briefe eingegangen, zu etwa 80 Prozent waren sie unterstützend. Das Schwarzbuch wird ergänzt durch eine Website (http://www.verdi-blog.de/) - ein so genanntes Weblog (aus "web" für "Internet" und "blog" für "Tagebuch") ermöglicht es Besuchern, in den Berichten anderer zu stöbern und eigene Erfahrungen öffentlich zu machen. Lidl selbst sah sich zu einer Stellungnahme genötigt und sprach von "Einzelfällen", hat aber juristisch nichts unternommen.

Hier gibt es das "Schwarzbuch Lidl"
(Preis: 8 Euro + Versand):

ver.di gmbh
medien/buchhandel/verlag
Paula-Thiede-Ufer 10
10179 Berlin
Fax: 030/69563160
manina.walter@verdigmbh.de

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