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Magazin Mitbestimmung

Das Gespräch führte MARGARETE HASEL: Oliver Nachtwey über schwieriger gewordene Aufstiegschancen

Ausgabe 10/2016

Interview Der Ökonom und Soziologe Oliver Nachtwey über gesellschaftliches Konflikt­potenzial, das aus Abstiegsängsten erwächst, und die oft vergebliche Mühe, auf der Rolltreppe entgegen der Fahrtrichtung nach oben zu kommen.

Das Gespräch führte MARGARETE HASEL

Glückwunsch, Oliver Nachtwey, Sie haben mit Ihrer Gegenwartsanalyse unter dem Titel „Abstiegsgesellschaft“ eine Befindlichkeit dieser Zeit getroffen. Wie sonst ließe sich erklären, dass Sie es zur Hauptsendezeit in die Kulturnachrichten geschafft haben und Ihr Buch inzwischen die vierte Auflage erlebt?

Offensichtlich treibt das Thema viele Menschen um – wie mich auch. Soziale Abstiege haben gesellschaftlich an Bedeutung gewonnen, aber Abstiegsängste sind auch dort verbreitet, wo man sie gar nicht haben müsste und wo man sie nicht vermutet.

Steigen wir jetzt alle ab?

Natürlich nicht. Aber das Versprechen des sozialen Aufstiegs durch Bildung und Arbeit sowie die Leistungsgerechtigkeit erodieren. Ludwig Erhards „Wohlstand für alle“ wurde in den 60er Jahren für viele gesellschaftliche Gruppen Realität. Fabrikarbeiter, auch ungelernte, konnten sich mit zusätzlichen Samstagsschichten zumindest das Reihenhaus in der Vorstadt leisten. Das war sogar bei den Taxifahrern nicht anders. Heute kann der nur noch mit Mühe eine Familie ernähren.

Dafür besuchen ihre Söhne und Töchter heute möglicherweise die Universität.

Und machen die Erfahrung, dass der Aufstieg nicht mehr zwangsläufig gelingt, auch wenn man sich noch so sehr anstrengt. Während die Arbeiterkinder mit Hochschulabschluss in den 60er und 70er Jahren im öffentlichen Dienst unterkamen, der durch den damaligen Ausbau einen großen Bedarf an Akademikern hatte, gilt für die jüngeren Bildungsaufsteiger die Gleichung „Akademiker = soziale Sicherheit“ nicht mehr.

Schritt für Schritt aufwärts, und mögen die Schritte auch noch so klein sein, das ist doch immer noch ein Bild von unglaublicher Suggestivkraft und auch Wirkmächtigkeit.

Aber die Selbstverständlichkeit, dass man es zu etwas bringen kann, löst sich auf. In bestimmten Berufsgruppen – Journalisten, Architekten, teilweise Anwälte, Wissenschaftler – geht die Höherqualifikation, Doktortitel inklusive, nicht mit mehr sozialer Sicherheit einher. Die Tochter des kaufmännischen Angestellten, die Englisch studiert hat, arbeitet heute als freiberufliche Übersetzerin oder Journalistin. Sie kommt damit schon über die Runden, aber die Planbarkeit des Arbeitslebens ist nicht mehr da. Die Übereinkunft, die sehr lang gegolten hat – dass es uns, vor allem aber unseren Kindern später einmal besser gehen wird –, scheint aufgekündigt. Viele Eltern, die vielleicht kein riesiges, aber ein sicheres Einkommen haben, erfahren nun: Meine Kinder haben Fremdsprachen erlernt, sind mit Erasmus ins Ausland gegangen, haben sich im Studium angestrengt. Doch es reicht nicht.

Sie selbst weisen darauf hin, dass die berufliche Mobilität nach oben immer noch ausgeprägter ist als der Abstieg.

Betrachtet man die berufliche Mobilität im engeren Sinne, ja. Da gibt es nach wie vor mehr Auf- als Abstiege. Weil wirtschaftlicher Wandel, weil jede Modernisierung einer Volkswirtschaft durch veränderte Berufsstrukturen erst einmal qualifikatorische Aufstiege produziert. Ehemalige Helfer in der Landwirtschaft arbeiten jetzt als Angestellte. Allerdings beobachten Forscher, die die berufliche Mobilität in West-, vor allem aber in Ostdeutschland untersuchen, eine klassenspezifische Schließung der Aufstiegsmöglichkeiten – und zwar am unteren wie am oberen Ende: Wer einmal oben ist auf der beruflichen Leiter, der bleibt oben, und wer unten angelangt ist, der bleibt unten. Anders formuliert: Die Chancen, von unten einen beruflichen Aufstieg zu erfahren, sind schlechter geworden.

Das Statistische Bundesamt vermeldet in den letzten Jahren wieder eine Zunahme der Normalarbeitsverhältnisse.

Wir haben im Moment nahezu Vollbeschäftigung, nie waren in Deutschland mehr Menschen erwerbstätig. Wie so häufig in der Vergangenheit hat sich die Rede vom Ende der Arbeitsgesellschaft als Irrtum erwiesen. Aber die Qualität der Arbeit hat sich verändert. Wir haben zwar mehr Arbeit, aber nicht mehr gute Jobs. Viele Erwerbsbiografien sind brüchiger geworden. Das verstärkt das Gefühl, dass Wohlstand und soziale Sicherheit auf Abruf gestellt sind und man sich auf nichts mehr verlassen kann.

Sie haben für diese gesellschaftliche Dynamik das Bild von der Rolltreppe gefunden, die den Fahrstuhleffekt abgelöst hat, den der Soziologe Ulrich Beck in seiner Zeitdiagnose 1986 für die „Risikogesellschaft“ – so der Titel seines bahnbrechenden Buches – beschrieben hat. Bitte erklären Sie den Unterschied.

Unsere Gesellschaft war eine Aufstiegsgesellschaft insofern, dass Arme und Reiche im Fahrstuhl gemeinsam nach oben fuhren: Das ist im Kern Ulrich Becks Grundthese gewesen. Zwar blieben die Ungleichheiten bestehen, aber weil es für alle nach oben ging, spielten sie weniger eine Rolle. Damit hatte er damals recht, die Brüche deuten sich zwar an, waren aber noch nicht sichtbar. Nach der Wende setzte eine neue Dynamik ein.

Mit einem Rolltreppeneffekt.

Das kann man sich wie in einem Kaufhaus vorstellen: Man wechselt auf jeder Etage die Rolltreppe. Wer es schon auf eine höhere Etage geschafft hat, fährt ganz gesichert weiter nach oben. Wer jedoch unten auf der Rolltreppe steht, für den hat sich objektiv, vor allem aber subjektiv die Richtung der Rolltreppe geändert: Für diese Menschen stellt sich die Gesellschaft als eine auf Dauer nach unten gestellte Rolltreppe dar. Man steigt nicht zwangsläufig ab, aber man wird von der gesellschaftlichen Dynamik nicht mehr mit nach oben getragen. Man muss gegen die Rolltreppe anlaufen.

Da gerät man schon mal außer Puste.

Es gibt keine Pause mehr. Wer stehen bleibt, steigt ab. Und jeder, der von hinten kommt oder neben dir steht, ist ein potenzieller Konkurrent. Die nach unten fahrende Rolltreppe bedroht die Solidaritätspotenziale und führt zu einem individualisierten Konformismus und verstärktem Konkurrenzdenken.

Grob vereinfacht, unterteilen Sie die Geschichte der Bundesrepublik in zwei Etappen: In der ersten wuchsen die Kuchenstücke. Seither dominiert die Abstiegs­dynamik.

In der alten Bundesrepublik konnten bestimmte Arbeitnehmergruppen soziale Sicherheit erlangen. Aber das war auch eine Gesellschaft, die durchzogen war von elementaren Ungerechtigkeiten: Die Frau sollte in der Küche stehen und war für die Kinder zuständig. Das sogenannte männliche Ernährermodell hat dominiert, das Fabrikregime mit starren Arbeitszeiten und strengen Vorgesetzten war deutlich autoritärer strukturiert, die Vorbehalte gegenüber sexuellen Ausprägungen jenseits des Mainstreams waren stark ausgeprägt.

Trotzdem liest sich der Subtext Ihrer Analyse, als ob früher irgendwie alles besser war.

Für mich kann es kein Zurück zur alten Bundesrepublik geben. Das Leitbild der Hausfrau und des männlichen Ernährers zu restaurieren wäre ein gesellschaftlicher Rückschritt. Meine Annahme beruht gerade darauf, dass wir die Widersprüchlichkeit des Fortschritts sehen müssen. Die Gleichberechtigung der weiblichen Beschäftigten auf dem Arbeitsmarkt ist fraglos ein immenser Fortschritt, gleichzeitig ist aber auch die Ungleichheit zwischen den weiblichen Beschäftigten gewachsen. Wir haben jetzt mehr Frauen­ in Führungspositionen, aber der Niedriglohn­sektor in Deutschland ist überwiegend weiblich.

Anders als der provokant-plakative Titel Ihres Buches ist der Untertitel etwas sperrig. Da ist die Rede von der „regressiven Moderne“. Was haben wir uns darunter vorzustellen?

Mit der regressiven Moderne meine ich diesen eben beschriebenen Prozess: dass wir gesellschaftlichen Fortschritt erleben, der aber eine rückschrittliche Unterseite hat. Wir haben immer mehr Wahlfreiheiten hinsichtlich unserer Lebensführung. Doch auch der Arbeitsmarkt wurde liberalisiert – und hier entpuppen sich die neuen Wahlfreiheiten häufig als Marktfreiheiten, in denen das Schutzniveau für viele­ Beschäftigte gesunken ist. Die gesellschaftliche Liberalisierung ist von der Unterseite der Deregulierung und Privatisierung geprägt.

Nennen Sie ein Beispiel.

Die alte Post ist dafür ein gutes Beispiel. Sie war eine öffentliche Institution mit starken Gewerkschaften, in ihr wehte aber auch der alte autoritäre Geist des Kaiserreichs. Wer dort angerufen hat, geriet schnell in die Rolle des Bittstellers. Und auf den Telefonanschluss musste man schon mal etwas länger warten. Die Privatisierung der Post hatte also durchaus Fürsprecher in der Bevölkerung. Jetzt haben wir viele Anbieter, man ist jetzt der hofierte Kunde. Aber das Kundendasein in der Warteschleife ist nicht weniger beschwerlich. Und für viele Arbeitnehmer in der Branche haben sich die Arbeitsbedingungen erheblich verschlechtert. Das meine ich mit der regressiven Moderne: Dass der autoritäre Geist aus den Bürokratien vertrieben wurde, ist durchaus ein Fortschritt. Aber die Privatisierung beschert uns mehr Markt, mehr Ungleichheit und mehr Wettbewerb.

Parallel ist eine neue soziale Figur entstanden: der Leiharbeiter. Verkörpert er die Abstiegsgesellschaft?

Der Leiharbeiter hat zwar oft ein unbefristetes Beschäftigungsverhältnis beim Verleiher, aber in der Regel ist sein Beschäftigungsverhältnis eher kontingent: Mal hat er Arbeit, mal keine. Er ist ein Sachmittel, das jeden Tag abbestellt werden kann. Dieses Auf-Abruf-Sein verändert die Menschen. Das verändert auch die Menschen im Betrieb, die selbst noch gesichert sind, die die Prozesse aber genau beobachten. Und das ist der Kern der Abstiegsgesellschaft: Es gibt noch Wohlstand, aber die Abstiegsangst hat sich im Hinterkopf festgesetzt. In der Forschung sind uns Personaler begegnet, die ganz explizit gesagt haben: Ich nutze die Leiharbeit, um die Komfortzonen der Stammbeschäftigten zu verkleinern.

Tatsächlich hat die Krisenbewältigung 2009, um die uns viele beneiden, die Stellung der Stammbeschäftigten eher gestärkt.

Zu den Paradoxien der repressiven Moderne gehört: Wenn ich zur Stammbelegschaft gehöre, wird die Wahrscheinlichkeit geringer, dass ich meinen Job verliere. Mit der Kurzarbeit ist damals tatsächlich ein kleines Wunder gelungen. Die Aussteuerung der Leiharbeit allerdings gehört zu den dunkleren Seiten dieses Wunders.

Fällt Ihnen eine Gesellschaft ein, die durchlässiger war oder ist als die gegenwärtige deutsche?

Das ist eine schwierige Frage. Die USA, die angelsächsischen Länder halten größere individuelle Aufstiegschancen bereit, die aber immer auch gepaart sind mit größerer Ungleichheit. Die skandinavischen Länder haben mehr Gleichheit, aber auch mehr gesellschaftlichen Wohlstand und Glück miteinander vereinbart. Heute haben wir eine weltwirtschaftliche Konstellation, die es so bisher nicht gegeben hat. Wahrscheinlich kommen wir in den nächsten Jahren nicht über ein Wachstum von 1,5 bis zwei Prozent hinaus. In den 50er und 60er Jahren hatten wir doppelt so große Wachstumsraten. Nun sind niedrige Wachstumsraten in der Geschichte des Kapitalismus nichts ganz Neues, aber früher gab es eben keine ausgebauten demokratischen Sozialstaaten mit Arbeitnehmerrechten. Und keine Mittelklassen mit einer Lebensführung, die gewisse Ressourcen zur Verteilung voraussetzt. Das ist eine neue Herausforderung.

Sie wären kein linker Theoretiker, wenn Sie nicht auch hoffnungsfrohe Zeichen identifizieren könnten. In den verschiedenen Protestbewegungen oder auch in den jüngsten Streiks – sind da Akteure unterwegs, die Antworten haben?

Das Besondere an den neuen Bewegungen scheint mir die neue moralische, zuweilen moralisierende Kritik zu sein. Das gilt zwar auch für Pegida, wo sie in einer sehr aggressiven, xenophoben, regressiven Form vorgetragen wird. Das gilt vor allem für Occupy, die mit dem Slogan „Wir sind die 99 Prozent“ sowohl eine Verteilungsdimension als auch ein demokratisches Anliegen ansprechen. Auch im Arbeitskampf der Erzieherinnen ging es selbstverständlich ums Geld, aber insbesondere die Dimension von Anerkennung, Respekt und Würde hat breiten Raum eingenommen. Das stimmt mich trotz aller AfD-Wahlerfolge durchaus optimistisch. Viele junge Menschen begeistern sich wieder für gewerkschaftliche Anliegen. Vielleicht kommt die Abstiegsgesellschaft auch bald an ein Ende, weil die Gewerkschaften wieder in die Offensive kommen. Sowohl der IG Metall als auch ver.di ist es ja bereits gelungen, den Mitgliederschwund zu stoppen. Im Übrigen bin ich ganz bei Ralf Dahrendorf: Konflikte, an deren Ende man sich einigt, davon war er überzeugt, führen zu gesellschaftlichem Wandel und Integration konfligierender Interessen. Dafür sind Konflikte da.

Foto: Alexander Paul Englert

WEITERE INFORMATIONEN

OLIVER NACHTWEY, 41, ist Fellow am Frankfurter Institut für Sozialforschung und hat eine Vertretungsprofessur am Institut für Soziologie an der TU Darmstadt. Geforscht hat der Ökonom und Soziologe in den vergangenen Jahren vor allem über die Arbeitsgesellschaft, über Protest, Ungleichheit und Demokratie. Für die Hans-Böckler-Stiftung hat er jüngst das Forschungsprojekt „Postdemokratie und industrielle Beziehungen“ abgeschlossen – eine Studie zur Zukunft der Mitbestimmung. Sein aktuelles Buch, „Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne“, ist im Mai in der edition suhrkamp erschienen.

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