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Protest zum Pflegenotstand in Hamburg Magazin Mitbestimmung

Pflege: Nur noch das Schlimmste verhindern

Ausgabe 02/2022

Auf den Intensivstationen herrschen nicht erst seit Corona unerträgliche Arbeitsbedingungen. An einigen Kliniken hat Verdi für die Beschäftigten Entlastungsverträge abgeschlossen, andere kämpfen darum. Doch auch die Politik muss das System heilen. Von Fabienne Melzer.

Die Hilferufe kamen von den Pflegekräften der Intensivstationen. „Eigentlich springe ich nur zwischen den Betten hin und her, um das Schlimmste zu verhindern und meine Patienten lebend über die Schicht zu bringen“, berichtet eine Intensivpflegekraft. Eine andere schreit ihre Verzweiflung in Großbuchstaben heraus: „ICH. KANN. NICHT. MEHR.“ Berichte aus dem Stationsalltag, die das „Hamburger Bündnis für mehr Personal im Krankenhaus“ auf seiner Internetseite veröffentlicht hat. Oft arbeiten die Pflegekräfte acht Stunden ohne Pause, ohne zu essen, zu trinken oder auf Toilette zu gehen. Sie müssen den einen Patienten im eigenen Kot liegen lassen, weil ein anderer gerade kollabiert. Das bittere Fazit einer Beschäftigten: „Intensivpflege muss man wollen, heißt es, aber unter den gegenwärtigen Umständen sollte man sie nicht mehr wollen.“

Satt und sauber reicht nicht

Mit einem Brandbrief hatten sich die Pflegekräfte an ihren Arbeitgeber gewandt, das Hamburger Universitätsklinikum Eppendorf (UKE). Der Vorstand reagierte und sperrte auf jeder Intensivstation zwei Betten. Auch schon zuvor hat er die Pflegekräfte entlastet: Schreibkräfte nehmen ihnen Verwaltungsarbeiten ab, Versorgungsassistenten füllen Medikamente und andere Pflegemittel auf. Doch Personalrätin Birgit Kirschstein stellt fest: „Das reicht nicht.“ Gemeinsam mit der Gewerkschaft Verdi wollen sie daher einen Entlastungstarifvertrag abschließen. Die Gewerkschaft fordert für Intensivstationen eine Eins-zu-zwei-Betreuung am Bett, das heißt: Eine Pflegekraft versorgt zwei Patienten. Auch alle anderen Beschäftigten sollen entlastet werden. „Bei der Pflegeuntergrenze werden zurzeit alle eingerechnet, auch die, die auf der Station nicht pflegen“, sagt Birgit Kirschstein. „Eine echte Pflegeuntergrenze zählt nur die Pflegekräfte am Bett.“

Seit 2009 ist Birgit Kirschstein Mitglied des Personalrats, davor arbeitete sie 20 Jahre als Fachgesundheitskraft für Intensivmedizin und Anästhesie. Als sie 2009 zur Personalratswahl antrat, dachte sie: „Ich kann mir das ja mal anschauen“, und rechnete damit, dass sie auf einem Nachrückerplatz landet. Aber sie wurde direkt ins Gremium gewählt und ein halbes Jahr später freigestellt. „Für Menschen meiner Generation gehört zu dem Beruf auch die Menschlichkeit“, sagt die 55-Jährige. „Satt und sauber, das reicht einfach nicht.“ Viele ihrer Kolleginnen sind allerdings schon froh, wenn ihnen das täglich gelingt.

Seit zehn Jahren bekannt

Der Sozialwissenschaftler Michael Simon untersucht seit Langem die Situation der Beschäftigten im Pflegedienst der Krankenhäuser. Mehrere seiner Studien hat die Hans-Böckler-Stiftung gefördert. Die Berichte der Pflegekräfte überraschen ihn nicht: „Die Situation auf den Intensivstationen ist seit über zehn Jahren bekannt. Das Ärzteblatt veröffentlichte mehrmals Ergebnisse von Umfragen. Sie waren für alle in der Gesundheitspolitik zugänglich.“ Die Ursache des Übels sieht Simon in den Fallpauschalen, die die rot-grüne Bundesregierung 2003 eingeführt hatte.

„Die Fallpauschalen sind ein Umverteilungssystem“, sagt Simon. „Alle Krankenhäuser erhalten die gleiche Pauschale, unabhängig von ihren tatsächlichen Kosten.“ Weder die Qualität der Versorgung noch die Personalbesetzung spielen eine Rolle. Krankenhäuser mit einem guten Personal-Patienten-Verhältnis gehören dadurch zu den Verlierern. Profitiert haben all jene, die beim Pflegepersonal gespart haben, insbesondere private Krankenhäuser. „Ihre Gewinne nutzen private Klinikketten inzwischen dazu, im Ausland Kliniken aufzukaufen, beispielsweise in Spanien und Südamerika“, sagt Simon. „Dank der Fallpauschalen entwickeln sie sich zu internationalen Konzernen.“

Den Fehler im System hatte die Große Koalition 2018 erkannt und die Pflege aus den Fallpauschalen herausgenommen. Seit 2020 gibt es ein Pflegebudget, das auf Basis der tatsächlich anfallenden Kosten der Krankenhäuser finanziert werden soll. Infolge der Gesetzesänderung stellten die Krankenhäuser mehr als 20 000 Pflegekräfte zusätzlich ein, laut Simon der höchste Zuwachs seit 30 Jahren. Dennoch fehlen nach seinen Berechnungen immer noch weit mehr als 100 000 Stellen, um eine gute Pflege zu gewährleisten.
 

  • Gewerkschafterin Franziska Löhnert vor der Uniklinik Jena

„Zu Coronahochzeiten musste bei uns sogar die Bundeswehr aushelfen“ Franziska Löhnert, Gewerkschafterin

Pflegekräfte stellten Ultimatum

In der Uniklinik Jena konnten die Beschäftigten gemeinsam mit Verdi bereits 2019 mit dem Klinikvorstand einen Entlastungstarifvertrag abschließen. Gewerkschafterin Franziska Löhnert arbeitet als medizinisch-technische Assistentin an der Uniklinik und kämpfte für den Entlastungstarifvertrag. In der Verhandlungsrunde im öffentlichen Dienst 2019 hatte die Belegschaft gezeigt, dass sie kampfstark ist. Auch in Jena musste es erst knallen, bevor sich etwas bewegte. „Die Arbeitsbedingungen auf einer Intermediate-Care-Station waren unerträglich, und so stellten die Beschäftigten dort 2018 dem Vorstand ein Ultimatum“, sagt Franziska Löhnert.

Doch auch der Entlastungstarifvertrag verbesserte die Lage für die Pflegekräfte nicht wirklich. Zwar gibt es jetzt Belastungspunkte, wenn Schichten unterbesetzt sind, und bei sechs Punkten einen zusätzlichen freien Tag, aber die Personalsituation hat sich nicht gebessert. In der letzten Coronawelle schloss der Arbeitgeber auf Normalstationen Betten und setzte mehr Pflegekräfte auf der Intensivstation ein. Dennoch schmissen viele Intensivpflegekräfte das Handtuch. „Zu Coronahochzeiten musste bei uns sogar die Bundeswehr aushelfen“, sagt Löhnert.

Im Nachhinein würde sie einiges anders machen. So fehlen im Entlastungstarifvertrag Sanktionen für den Fall, dass der Arbeitgeber ihn nicht einhält. Ihren größten Fehler sieht Löhnert aber an anderer Stelle: „Wir hätten uns nicht auseinanderdividieren lassen dürfen.“ Die Verhandlungen liefen zäh, und schließlich schloss Verdi den Tarifvertrag zunächst nur für die Pflege am Bett ab. „Deshalb erfasste er unter anderem die zentrale Notaufnahme zunächst nicht“, sagt Löhnert. „Dort brennt es aber an allen Ecken und Enden.“ Mit der Notaufnahme sollte es 2020 weitergehen, doch dann kam Corona, und so konnte über einen Abschluss erst im Juni 2021 verhandelt werden.

  • Birgit Kirschstein, Personalrätin der Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf

„Sie arbeiten immer weiter, weil sie ihre Kolleginnen nicht im Stich lassen wollen“ Birgit Kirschstein, Personalrätin

Im Mai wählen die Beschäftigten der Uniklinik Jena einen neuen Personalrat. Franziska Löhnert möchte weiter die Arbeitsbedingungen verbessern, auch wenn das nicht leicht wird. Nachverhandlungen sind schwieriger, weil sie nur noch einen Teil der Belegschaft betreffen.

Birgit Kirschstein vom Hamburger Universitätsklinikum Eppendorf tritt im Mai ebenfalls zur Personalratswahl an und versucht, die Kolleginnen dafür zu gewinnen. An der Wahl vor vier Jahren beteiligten sich gerade einmal knapp 20 Prozent. Die Personalrätin wundert das nicht. Sie dachte früher selbst: „Ich habe keine Probleme, ich brauche keinen Personalrat.“

Nach 13 Jahren im Amt weiß sie es besser. Ihre Kolleginnen brauchen sie oft! Mal geht es um Fehler in der Gehaltsabrechnung, mal um Konflikte mit Vorgesetzten. Für die Beschäftigten der Notaufnahme organisierte der Personalrat eine Werkstatt mit Moderation, um über die Belastung zu sprechen. Das Ergebnis: 13 neue Vollzeitstellen für die Notaufnahme. Die Personalrätin kümmert sich und macht möglich, was geht, aber sie sieht such die Beschäftigten in der Verantwortung. „Sie arbeiten immer weiter, weil sie ihre Kolleginnen nicht im Stich lassen wollen“, sagt Birgit Kirschstein. „Sie merken nicht, dass sie sie im Stich lassen, gerade weil sie immer mehr machen und jede Lücke stopfen.“ Denn so muss der Arbeitgeber nichts ändern.

Doch auch die Gesundheitspolitik muss sich ändern. „Nicht die Rentabilität sollte darüber entscheiden, wie viele Krankenhäuser betrieben werden und welche Leistungen sie anbieten, sondern die staatliche Krankenhausplanung“, sagt Sozialwissenschaftler Simon. Und sie gehöre in die Hand der Länder. Das Fallpauschalensystem hingegen führe dazu, dass auch bedarfsgerechte Kliniken geschlossen werden, nur weil
sie defizitär sind.

Simon plädiert für die Rückkehr zum Selbstkostendeckungsprinzip, das 1972 von der sozialliberalen Koalition unter Willy Brandt eingeführt wurde. Es sah keineswegs eine Selbstbedienung für Krankenhäuser vor, es erstattete nur die Kosten einer wirtschaftlichen Betriebsführung. Profite seien in einem solchen System nicht möglich. Die bisher erzielten Gewinne aus Kliniken mit zu kurzer Personaldecke könnten dann Krankenhäusern zugutekommen, die eine gute Personalbesetzung vorhalten.

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