zurück
Magazin Mitbestimmung

: Nicht auf halbem Weg stehen bleiben

Ausgabe 11/2006

Den ersten Entwurf der Dienstleistungsrichtlinie haben die europäischen Gewerkschaften vehement abgelehnt. Dass das Herkunftslandprinzip abgewendet wurden, werten sie als Erfolg. Jetzt müssen sie einen Markt regulieren, den es längst gibt.



Von Sabine Groner-Weber
Dr. Groner-Weber leitet den Bereich Politik und Planung in der ver.di-Bundesvorstandsverwaltung.
sabine.groner-weber@verdi.de



Vom Scheitern des Herkunftslandprinzips gehen zwei Signale aus: Erstens wird ein großes Fragezeichen hinter eine Politik gesetzt, die europäische Integration ausschließlich auf ökonomische Aspekte reduzieren will und dadurch die europäischen Sozialmodelle zunehmend unterminiert. Zweitens signalisiert das Scheitern aber auch, dass europäisch koordinierte Bürgerproteste durchaus in der Lage sind, den Kurs von EU-Kommission, nationalen Regierungen und Parlament zu beeinflussen.

Wettbewerb um Qualität und Effizienz

Es wäre deshalb zu kurz gegriffen, würde man die Proteste einfach nur als Absage an einen europaweit integrierten Dienstleistungsmarkt interpretieren: Die Demonstrationen und Aktionen richteten sich vielmehr dezidiert gegen die Art und Weise der Integration: Anstelle einer Politik, die soziale Regulierung auf einzelstaatlicher Ebene im Interesse eines gemeinsamen Marktes niederreißt, fordern Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eine soziale Integration durch Re-Regulierung, durch eine Verständigung über die gemeinsame und unverzichtbare Essenz der europäischen Sozialmodelle und durch daraus abgeleitete gemeinsame politische Ziele: Dazu gehören neben qualitativen Mindeststandards für soziale und Versorgungs-Dienstleistungen auch soziale Standards wie der Schutz vor Altersarmut, ein hohes Niveau des Gesundheitsschutzes und eine zuverlässige Versorgung mit medizinisch notwendigen Dienstleistungen.

In diese Richtung weist die von ver.di unterstützte Forderung nach einer sozialen Flankierung des europäischen Dienstleistungsmarktes durch eine Rahmenrichtlinie für Dienstleistungen von allgemeinem Interesse. Eine solche Rahmenrichtlinie wäre ein wichtiger Beitrag zur Realisierung der zentralen Versprechen der Lissabon-Strategie, die darauf abzielte, Beschäftigung, Wettbewerbsfähigkeit und sozialen Zusammenhalt gleichermaßen auszubauen.

Einen europäischen Dienstleistungsmarkt gibt es längst, und zwar ganz unabhängig von der Dienstleistungsrichtlinie der Kommission. Er ist in einigen Branchen - im Verkehr, im Energiebereich, in der Telekommunikation oder bei den Finanzdienstleistungen - längst da und längst heftig umkämpft. Aktuell belegen das die Auseinandersetzungen mit der Kommission um den geschützten Namen der Sparkassen.

In einigen bisher öffentlichen Bereichen sind seine Auswirkungen noch nicht ganz so dramatisch spürbar, aber wer beispielsweise die Entwicklung bei der stationären Versorgung im Gesundheitswesen aufmerksam verfolgt, kann sich ausrechnen, wann auch hier über die steigende Zahl der privatisierten Häuser das Wettbewerbsrecht stärker greift und damit die Zugriffsrechte der Kommission wachsen.

 Dass sich vor kurzem der britische Zweig des Logistik-Anbieters DHL, einer Tochter der Post AG, mit Erfolg um die Logistik-Dienstleistungen für alle Krankenhäuser des National Health Service (NHS) in Großbritannien beworben hat, ist ein zusätzlicher deutlicher Hinweis darauf, dass die ursprünglich stark auf die jeweiligen nationalen Binnenmärkte orientierten Dienstleistungsbranchen europäisch zusammenwachsen.

Nebenbei: Das Beispiel DHL zeigt, dass sich mit der Herausbildung eines europäischen Dienstleistungsmarktes auch ein Standortwettbewerb herausbildet, der aus dem industriellen Bereich schon vertraut ist; das verweist auf Klärungs- und Verständigungsbedarfe auch innerhalb der europäischen Gewerkschaften. Es geht dabei um die Frage, ob sie sich auf Kriterien einigen können, mit denen ein Wettbewerb um Qualität und Effizienz zugelassen, ein Unterbietungswettbewerb bei Einkommen, Arbeitsbedingungen und Sozialstandards aber ausgeschlossen werden kann.

Und es geht um die Frage, ob die Kriterien, welche die Gewerkschaften in der Debatte um die Dienstleistungsrichtlinie entwickelt haben (arbeits-, tarif- und sozialversicherungsrechtlich an die Bedingungen im Erbringungsland gebundene Arbeit) eine gute und hinreichende Grundlage sind, um zu beschreiben, wie ein fairer Wettbewerb im europäischen Kontext aussehen kann.

ver.di erweitert die Perspektive

ver.di begegnet der Entwicklung eines europäischen Dienstleistungsmarktes mit einer Strategie, die mehrere Aspekte integriert: Es gilt auch weiterhin, Deregulierungsinitiativen abzuwehren, die nur auf Preiswettbewerb orientiert sind: Die ganze EU würde verlieren, wenn ihre Bürgerinnen und Bürger sich infolge einer nicht zu Ende gedachten Deregulierung über Qualitätsverschlechterungen bei öffentlichen und privaten Dienstleistungen ärgern würden. Oder wenn eine Mehrzahl der Beschäftigten mit dem Stichwort Europa in erster Linie eine Verschlechterung ihrer Arbeits- und Einkommensbedingungen verbinden würden.

Stattdessen soll die Regulierung des europäischen Dienstleistungsmarktes auf einen Wettbewerb um qualitativ hochwertige Leistungen ausgerichtet werden. Dabei geht es um verbindliche qualitative Standards für Dienstleistungen auf europäischer Ebene, mindestens aber darum, Optionen dafür zu öffnen, solche Standards gegebenenfalls national festlegen und sie dann für alle Wettbewerber transparent und verbindlich machen zu können.

Dafür wurde von den europäischen Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes (EGÖD) eine europäische Richtlinie angeregt, die den Umgang mit Leistungen von allgemeinem Interesse regelt. Das Parlament hat sich hier leider nicht zu einem klaren Ja für eine sektorübergreifende Vereinbarung durchringen können - umso wichtiger bleibt es, die weitere Entwicklung in diesem Feld genau zu beobachten.

Wenn dramatische Unterschiede in den Einkommens- und Sozialstandards aufeinandertreffen, muss diesen mit Übergangsregelungen und mit schrittweise kontrollierten Marktöffnungen begegnet werden.Sich auf diese Aspekte zu beschränken hieße jedoch, auf halber Strecke stehen zu bleiben, wenn nicht gleichzeitig das wichtigste Element der Strategie vorangetrieben würde: die Entwicklung qualitativ hochwertiger Dienstleistungsangebote, die in einem europäischen Wettbewerb bestehen können, weil sie national und europaweit zunehmend Nachfrage finden und dadurch Beschäftigung sichern können.

Dazu gehört eine Erweiterung der Perspektive: Wo bisher vor allem der Beitrag der Dienstleistungen zur Binnennachfrage betrachtet wurde, muss künftig verstärkt danach gefragt werden, ob und wie sie darüber hinaus zum Exportschlager in Europa werden können. Und das gilt keineswegs nur für Branchen wie Handel, Logistik, Telekommunikation und andere, bei denen der Gedanke ohnehin nahe liegt - auch Kliniken, die ihr spezielles Können grenzüberschreitend anbieten wollen oder Forschungs- und Beratungseinrichtungen, die verstärkt nach internationalen Auftraggebern suchen, sind auf dem richtigen Weg. Bildungseinrichtungen, Facility-Management-Agenturen und Touristik könnten ihnen folgen.

Pioniere nutzen Exportchancen

Für eine stärkere internationale Ausrichtung von Dienstleistungen gibt es zwar Pioniere - noch haben sie aber nicht die notwendige Unterstützung durch die Politik: In Deutschland fehlt bislang eine systematische Dienstleistungspolitik, die den Rahmen dafür schafft, branchenspezifische Wachstumschancen besser nutzbar zu machen. Stattdessen nimmt die Debatte über Perspektiven der Dienstleistungswirtschaft den in Deutschland hinlänglich bekannten Verlauf: Mit der unentrinnbaren Konsequenz einer Bühnentragödie mündet sie in einen Chor, der nach einem Niedriglohnsektor ruft.

Dabei verstellt gerade das den Blick auf die Dienstleistungsbereiche, in denen Exportchancen und Potenziale für qualifizierte und hochqualifizierte Arbeit stecken. Die Ausblendung von Entwicklungspotenzialen kann aber nicht ohne Folgen für die Vertretung deutscher Anliegen in einer europäischen Dienstleistungsstrategie bleiben, denn wer Potenziale gar nicht zur Kenntnis nimmt, wird kaum förderliche Rahmenbedingungen für ihre europaweite Ausschöpfung benennen und durchsetzen können.

Wenn in einer Industriebranche Umsatzsteigerungen, Beschäftigungsaufbau, technologische Spitzenleistungen und ein steigender Wertschöpfungsbeitrag zusammenkommen, wird die Politik die Branche umgehend als Hoffnungsträger und Zukunftsbranche feiern. Im Dienstleistungsbereich hingegen kann die gleiche Entwicklung Panik auslösen, so beispielsweise im Gesundheitswesen: Hier reagiert die Politik auf steigende Bedarfe, Beschäftigungszuwächse, technologische Spitzenleistungen und steigende Umsätze mit Kostendämpfungsprogrammen und mit der bangen Frage, ob man sich das denn eigentlich leisten könne. Umfragen, die bestätigen, dass die Menschen sich das durchaus leisten und dafür auch bezahlen wollen, werden ausgeblendet, und nach Exportchancen wird allenfalls zögerlich gefragt.

Offensichtlich geht es aber auch anders: Bei den regenerativen Energien oder bei energieeffizienten Dienstleistungen hat die Politik auf technologische Spitzenleistungen, Beschäftigungshoffnungen und auf gesellschaftliche Bedarfe, die noch weit davon entfernt waren, sich in kaufkräftige Nachfrage umzusetzen, mit langfristig angelegten und milliardenschweren Förderprogrammen von Produkten, Beratungsleistungen und integrierten Problemlösungen reagiert. Der Blick war dabei richtigerweise auch auf die sich bietenden Exportchancen gerichtet.

Heute sind die Ingenieur- und Beratungsbüros, die sich auf das ehedem unsichere Feld gewagt haben, Weltmarktführer in dem wachsenden Segment energieeffizienter Dienstleistungen; und zwei Drittel der Aufträge bei erneuerbaren Energien, ebenfalls zu einem großen Teil Beratungsdienstleistungen, gehen in den Export. Übertragen auf qualitativ herausragende Leistungen im Gesundheitswesen könnte man mit vergleichbaren Strategien ebenfalls neue Marktchancen erschließen - siehe dazu auch den Beitrag von Josef Hilbert auf Seite 32.

Miese Arbeitsbedingungen behindern die Dynamik

Wenn innovative Angebote einen neuen Markt finden sollen, so geht das nicht ohne qualifizierte, mobile und motivierte Beschäftigte - dem stehen heute aber vielfach die prekären Arbeitsbedingungen in weiten Teilen des Dienstleistungssektors entgegen. Hier könnte nicht zuletzt eine dienstleistungsspezifischere Ausgestaltung von Förderprogrammen zur Arbeitsgestaltung Hinweise dafür liefern, wie in Zukunft die Arbeit in diesen Branchen attraktiver gemacht werden kann. Im Zentrum sollte dabei angesichts der Zeitregimes im Dienstleistungsbereich eine verbesserte Gestaltung der Arbeitszeit stehen, ergänzt um Fragen der Arbeitsorganisation, des Gesundheitsschutzes und eines optimierten Technikeinsatzes.

Qualifizierte und motivierte Beschäftigte erwarten, dass Kompetenz, Leistungsbereitschaft und Engagement anerkannt und honoriert werden. Stattdessen wird aus der arbeitsmarktpolitischen Debatte in Deutschland heraus häufig signalisiert, dass der Dienstleistungsbereich als großes Beschäftigungspotenzial für gering Qualifizierte betrachtet wird. Insbesondere bei den personenbezogenen Dienstleistungen scheint die Auffassung vorzuherrschen, dass nahezu jeder ohne besondere Qualifizierung die anfallenden Arbeiten erledigen könne.

Hier liegt eine der Hauptursachen dafür, dass sich in Deutschland Pflegekräfte, etwa in der ambulanten oder der Altenpflege, dagegen wehren müssen, in den Niedriglohnsektor abgedrängt zu werden. In Großbritannien hingegen werden Respekt und Anerkennung für Qualifikation und Erfahrung unter anderem darüber vermittelt, dass ausgebildeten Pflegekräften fachliche Zusatzausbildungen angeboten werden, die bis zum Berufsbild der "district nurses" führen. Ihnen werden bei attraktiver Entlohnung weitgehende ärztliche Kompetenzen übertragen.

Branchenkonzepte, Markterschließung, Arbeitsbedingungen und Berufspolitik - es gibt eine Fülle von Ansatzpunkten dafür, wie die Politik verstärkt Verantwortung für die Entwicklungsperspektiven von Dienstleistungsarbeit im europäischen Kontext übernehmen kann. Angesichts der immensen wirtschaftlichen und beschäftigungspolitischen Bedeutung des Sektors bleibt es unverständlich, warum diese Chancen nicht genutzt werden. ver.di wird jedenfalls auch in Zukunft darauf drängen, die Weichen für einen europäischen Dienstleistungsmarkt zu stellen, der hohe Lebensqualität mit attraktiver Arbeit verbindet.

Zugehörige Themen

Der Beitrag wurde zu Ihrerm Merkzettel hinzugefügt.

Merkzettel öffnen