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Magazin Mitbestimmung

Bundestag: Neue Mehrheiten für die Arbeitnehmer

Ausgabe 10/2013

Wer Deutschland künftig regieren wird, ist noch unklar. Doch ohne die FDP dürften Arbeitnehmer-Themen künftig mehr Gehör finden. Dafür werden auch die Abgeordneten aus den Gewerkschaften sorgen, die wir im letzten Heft vorgestellt haben. Von Andreas Kraft

Am Montagmorgen um sieben Uhr klingelt bei Uwe Lagosky das Telefon. Der Betriebsratsvorsitzende der Braunschweiger Stadtwerke hat kaum geschlafen. Gestern war Bundestagswahl. Im Wahlkreis Wolfenbüttel-Salzgitter ist der CDUler gegen SPD-Parteichef Sigmar Gabriel angetreten. Dass es für das Direktmandat nicht reichen würde, war klar. Doch als sich der ver.di-Mann um drei Uhr von der CDU-Wahlparty auf den Heimweg machte, sah es danach aus, dass er es über die Landesliste schaffen könnte. Jetzt ist sein Schwager am anderen Ende der Leitung: „Das Ergebnis ist da. Herzlichen Glückwunsch zum Einzug in den deutschen Bundestag!“ Heute darf Lagosky sich freuen, morgen geht es nach Berlin.

In Cottbus hat am gleichen Abend Ulrich Freese ähnlich angespannt wie Lagosky die Hochrechnungen verfolgt. Für die SPD wollte der stellvertretende IG-BCE-Vorsitzende den Wahlkreis in der Niederlausitz holen. Doch auch er muss sich geschlagen geben, aber auch für ihn reicht der Listenplatz. Gegen 22.30 Uhr ist Freese sich sicher, dass er ein Büro in Berlin beziehen wird. Und seine To-do-Liste gleicht der von Lagosky aufs Haar: Beide wickeln ihre bisherigen Tätigkeiten ab, beide suchen Mitarbeiter für ihre neuen Büros, und womöglich treffen sie sich demnächst beide als Mitglieder der Regierungsfraktionen im politischen Berlin.

Mögliche Themen einer großen Koalition sehen beide beim Mindestlohn, der Regulierung von Leiharbeit oder dem Kampf gegen Schein-Werkverträge – und auch bei der Rente halten sie Kompromisse für möglich. Eine große Koalition könnte den Arbeitnehmern also durchaus weiterhelfen. Doch noch ist vieles offen. Etwa, ob sich die SPD-Basis davon überzeugen lässt. Sicherlich auch deshalb erhebt die SPD klare Forderungen. Für den frisch gewählten SPD-Abgeordneten Hans-Joachim Schabedoth, der bislang in der IG-Metall-Zentrale in Frankfurt für Grundsatzfragen der gewerkschaftlichen Politik zuständig ist, steht jedenfalls fest, dass eine große Koaltion nur möglich ist, wenn Merkel einsehe, dass sie ihre bisherige Politik nicht fortsetzen kann. „Für ihre Symbol-Politik gibt es im Bundestag keine Mehrheit mehr“, sagt Schabedoth. „Ohne einen Politikwechsel wird es nicht gehen. Jetzt muss sich zeigen, wie beweglich die Union ist.“

OFFERTEN VON LINKS

Die Linkspartei spielt mit den Stimmungen unter den Genossen. „Mit uns könnte die SPD viel mehr für die Arbeitnehmer durchsetzen als mit der CDU“, sagt Klaus Ernst, der früher hauptamtlich für die IG Metall arbeitete. „Dass sich Gewerkschafter für eine große Koalition starkmachen, kann ich nicht verstehen.“ Und auch aus Sicht der SPD macht für den Franken eine große Koalition keinen Sinn. Die SPD müsse sich vielmehr zur Linkspartei hin öffnen. „Denen muss doch mal klar sein“, ereifert sich Ernst, „dass sie ohne uns niemals einen Kanzler stellen werden.“ Zumindest Teile der SPD sehen das ähnlich. Die Jusos etwa fordern von der Parteispitze, endlich damit aufzuhören, Koalitionen mit der Linkspartei kategorisch auszuschließen.

Auch Wolfgang Uellenberg-van Dawen, Leiter der politischen Planung bei ver.di, empfiehlt der SPD mehr Offenheit. Sie solle die Linkspartei in die Pflicht nehmen, beispielsweise in der Friedenspolitik. „Diese Ausschließeritis jedenfalls tut der Demokratie nicht gut“, sagt der ver.di-Mann. Annäherungen in Einzelfragen kann er sich gut vorstellen. So könnten SPD, Linke und Grüne schon vor der Wahl Merkels zur Kanzlerin einen Mindestlohn ab 8,50 Euro beschließen. Yasmin Fahimi, die bei der IG BCE für die politische Strategie zuständig ist, sieht rot-rot-grüne Planspiele hingegen kritisch. Bei Arbeitnehmer-Themen gebe es viele Überschneidungen. „Aber es geht ja nicht nur um Gewerkschaftsfragen“, sagt Fahimi. In der Außen- und Sicherheitspolitik seien die Positionen der Linkspartei einfach nicht regierungsfähig. Die Diskussionen innerhalb der SPD kann sie aber durchaus verstehen. „Sicher, es darf keinen Automatismus hin zu einer großen Koalition geben“, sagt Fahimi. „Aber von der Irrationalität der Debatte bin ich doch überrascht.“

Und was ist mit Schwarz-Grün? In etlichen Punkten liegen die Parteien sehr weit auseinander, wie Beate Müller-Gemecke betont, die in der Grünen-Fraktion für Arbeitnehmerfragen zuständig ist. „Es dürfte schwierig werden, einen gemeinsamen Nenner zu finden“, sagt sie. „Bei Arbeitsmarkt- und Asylfragen, bei der Energiewende oder beim Geld. Wir werden mit Blick auf die Schuldenbremse sicher keine Kürzungsorgie mitmachen, und ob die Union zu Steuererhöhungen bereit ist, ist derzeit ziemlich unübersichtlich.“

So viel in Berlin derzeit ungewiss ist, so scheint doch eines ziemlich sicher: Deutschland wird noch einige Wochen auf seine neue Regierung warten müssen. Die SPD will jetzt mit der Union verhandeln und den Koalitionsvertrag dann ihren Mitgliedern zur Abstimmung vorlegen. Erst danach soll es um Personalfragen gehen – etwa ob Klaus Wiesehügel von der IG BAU tatsächlich Arbeitsminister wird. Bis Mitte November wird das allemal dauern. Der neue Bundestag wird bis dahin seine Arbeit aufgenommen haben. Spätestens am 22. Oktober muss er zum ersten Mal zusammentreten. Dann werden auch die frischgebackenen Abgeordneten Lagosky und Freese ihre Büros bezogen haben. Und bis dahin werden sich vielleicht auch die Gemüter in der SPD etwas beruhigt haben. Darauf hofft zumindest Freese. „Wir müssen uns rational mit einer möglichen großen Koalition auseinandersetzen“, sagt der Gewerkschafter. „Und uns dabei an den Themen orientieren. In der Opposition werden wir nichts für die Arbeitnehmer durchsetzen können.“

Was aus den Kandidaten wurde, die wir im letzten Heft vorgestellt haben

Jochen Nagel: Der hessische GEW-Vorsitzenden zieht nicht für die Linke nach Berlin.

Simone Maas (Grüne) konnte sich  in Suhl-Schmalkalden nicht durchsetzen.

Uwe Lagosky (CDU)verliert den Wahlkreis, schafft es aber dennoch ins Parlament.

Gabriele Katzmarek hat ihren Wahlkreis nicht geholt, zieht über die SPD-Liste ein.

Hans-Joachim Schabedoth sitzt für die hessische SPD im 18. Bundestag.

Cansel Kiziltepe ist über die Landesliste der Berliner SPD in den Bundestag eingezogen.

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