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Magazin Mitbestimmung

: Leadership und Wertorientierung

Ausgabe 04/2004

Die 90er Jahre habe eine Vertrauenskrise hinterlassen, die bis heute nicht überwunden ist. Millonen Menschen haben ihren Arbeitsplatz, ihr Erspartes verloren, andere haben sich unanständig bereichert. Wo könnte Führung in dieser Situation ansetzen?

Von Hans-Erich Müller
Dr. Müller ist Professor für Unternehmensführung und Organisation an der Fachhochschule für Wirtschaft, Berlin.
hemfhw@fhw-berlin.de

In unruhigen Zeiten wollen Menschen geführt, nicht nur verwaltet werden, zugleich aber halten sie von Politikern, Verbandsvertretern und Managern nicht viel. Vor diesem Hintergrund sind drei Fragen relevant: Wenn die heldenhafte Ausstrahlung so mancher Führungspersönlichkeit nicht mehr zieht, werden nun fast vergessene Tugenden wie Rechtschaffenheit, Loyalität und Bescheidenheit wieder populär? Welcher Führungsstil setzt sich durch: harter Hund oder lange Leine? Verschieben sich die Gewichte nun wieder mehr zugunsten politischer Einflussnahme, nachdem das System radikaler Deregulierung und Shareholder-Value-Orientierung versagt hat, weil "es Leute, denen es so deutlich an Moral mangelt, in so kurzer Zeit in so großer Zahl in so hohe Positionen bringt und sie dort so lange wirtschaften lässt, bis so große Schäden angerichtet sind", wie Management-Guru Fredmund Malik weiß?

Führen und Führen lassen

Von einer geschlossenen Führungslehre, die Antworten auf diese Fragen gibt, kann keine Rede sein. Über gute Führung lässt sich streiten. Sie ist wie Schönheit und Liebe - schwer zu verstehen und herzustellen. Neben der täglich neuen Flut von Angeboten nach dem Muster "Werde reich und glücklich" oder "Feedback vom Pferd: Erleben Sie Ihre Führungsqualitäten", die wohl eher als Irre-Führung bezeichnet werden müssen, neben Checklisten, wie die des Manager Magazins "Habe ich das Zeug zum Chef?", das auch "Deutschlands schönsten Manager" sucht, weil "Macht sexy macht", gibt es doch einige Fragestellungen, mit denen es lohnt, sich näher auseinander zu setzen. Mit dem Zeitalter der Massen und Medien hat sich auch das Verständnis von "guter Führung" verändert. Nach Ansicht der Managementforscher Peter Drucker und Warren Bennis hat jeder Manager mit Entscheidungsbefugnis auch die Verantwortung, Leadership - die Kunst der Führung - zu beherrschen. In der heutigen Wissensgesellschaft sei die Macht eher bei den Wissensarbeitern angesiedelt als bei den Managern und Eigentümern. Daher gelte es, in einer Gruppe, im Unternehmen, im Verband, in einer öffentlichen Einrichtung oder in einem ganzen Land den Bedürfnissen zu dienen, die die Geführten erwarten: Sinn und Richtung, Vertrauen, Hoffnung und Optimismus sowie Ergebnisse. Insofern befinden wir uns nicht nur in einer Vertrauenskrise.

Transformational Leadership (TL) ist eine aktuelle Variante dieser Führungskonzepte aus dem angloamerikanischen Raum. Die Zeitschrift Personalführung widmete ihm das Titelthema ihrer Juni-Ausgabe 2003. Nach dieser Philosophie verzichtet ein Vorgesetzter weitgehend darauf, Anweisungen zu erteilen, Verhalten direkt zu beeinflussen oder ausschließlich über Zielvereinbarungen zu führen. Stattdessen zielt sein Führungshandeln darauf, bei Mitarbeitern Einstellungen, Verhalten und Bewusstsein zu verändern. TL soll bewirken, dass sich die Geführten nicht nur für die eigenen Interessen, sondern für höhere, übergeordnete und kollektive Ziele, Missionen oder Visionen einsetzen - kann also als Führung zur Selbstführung verstanden werden. Führungs-Forscher Oswald Neuberger kritisiert diese Konzepte, die wie Kleidermoden das längst Bekannte nur in neuer Form propagieren, als ideologisch: "Nicht immer lassen sich die sportlich-kapitalistischen Ziele ,Schneller! Besser! Mehr!‘ in einer Arbeitswelt voller Kreativität, Spaß und Erfolgsgenuss verwirklichen; die andere Seite der Gleichung enthält Posten wie permanente (Selbst-)Ausbeutung, Zeitdruck, Ungewissheit (in Bezug auf Einkommen, Position, Arbeitsplatz, Produktakzeptanz usw.)." Einen Ausdruck des wieder erwachten Interesses an charismatischer, visionärer Führung sieht er in dem Appell, sich den "großen" Individuen zu unterwerfen und dem Hang zu einfachen Rezepten mit quasi-religiösen Erlösungsversprechen. Aber die Geschichte habe nicht nur Gandhi und Martin Luther King hervorgebracht, sondern auch Hitler.

Systeme gestalten

Für Management-Guru Malik wiederum ist nicht "Wer soll führen?" oder "Welcher Führungsstil?" die entscheidende Frage, sondern: "Wie können wir unsere politischen Institutionen so organisieren, dass selbst schlechte und inkompetente Führer möglichst wenig Schaden anrichten können? und "Wie können wir uns von solchen Führern auf möglichst einfache und unblutige Weise wieder trennen?" Also auf die Systeme kommt es an: Der in den 90er Jahren vorherrschende, marktradikale Weg hat Menschen nach oben gebracht, die sich als Vorbild wenig eignen: Oligarchen in Russland und Corporate Raider in den USA. "Where's the stick?" lautete das Titelthema der angesehenen Wirtschaftszeitung Economist im vergangenen Oktober - wohl als "Wo ist die Peitsche?" zu übersetzen. Manager sollten durch die Anbindung ihrer Vergütung an die Börsenentwicklung zum Shareholder-Value motiviert werden. Die Folge war eine "Orgie der Selbstbereicherung" durch Spitzenmanager, die Ausbeutung von Aktionären und Mitarbeitern. 

In Deutschland orientiert sich, wie wir jüngst in einer von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Untersuchung über "Konzernsteuerung börsennotierter Aktiengesellschaften" herausgefunden haben, die Mehrheit der größten Aktiengesellschaften durchaus an der Steigerung des Unternehmenswerts, aber nur eine verschwindende Minderheit an der Wertsteigerung vorzugsweise für Aktionäre. So zeigt sich vermeintliche Schwäche als Stärke, denn der Reiz, Bilanzen zu fälschen, Firmen zu zerteilen und Aktionäre wie Mitarbeiter aufs Kreuz zu legen, ist so geringer. Auch die amerikanische Unternehmensberatung Booz Allen Hamilton ermittelte im Juli vorigen Jahres im deutschsprachigen Raum eine zunehmende Bedeutung von Werten wie Kunden- und Serviceorientierung, Qualität, Verantwortung und Professionalität. Werte schaffen Wert. Wird soziale Verantwortung (Corporate Social Responsibility) also wieder zum Exportschlager?

Hinzu kommt, dass die Regeln, die notwendig sind, damit der Eigennutz auch der Allgemeinheit dient, in Europa nicht so sehr beiseite geschoben sind, wie dies etwa Nobelpreisträger Joseph Stiglitz für die USA kritisiert. Selbst McKinsey spricht sich für "smart regulation" aus. Das Problem scheint hierzulande eher in permanenten Reformen zu liegen, deren Sinn und Richtung nicht klar wird, deren Ergebnisse keinen Optimismus verbreiten und Vertrauen zerstören. Das bringt uns wieder an den Ausgangspunkt: die Rolle der Menschen.

Führung von unten

Harold Geneen, Vorsitzender des Weltkonzerns ITT der 70er Jahre, rühmte sich, ein System geschaffen zu haben, das auch "ein Affe führen könnte, wenn ich nicht mehr da bin". Ähnlich wie die Produktion bei Taylor sollten nun Unternehmungen durch harte Erfolgsfaktoren wie Strategien, Strukturen und Systeme steuerbar sein. In der heutigen Welt zählt aber vor allem Wertschöpfung durch die Entwicklung von Aufgaben, Prozessen und Menschen. Führung üben weniger denn je die wenigen an der Spitze aus. Es geht dabei um Politik, Kulturen und Netzwerke, um Teams und Koalitionen, mehr um Einfluss und Macht als um direkte Steuerung. Deshalb haben große deutsche und amerikanische Unternehmen - Henkel, DaimlerChrysler, Hewlett Packard und andere - in den letzten Jahren, nachzulesen im Harvard Business Manager 6/2001, eine weltweit harmonisierte Politik für die Beurteilung und Entwicklung ihrer Führungskräfte umgesetzt.

Näher betrachtet kommt es aber auch auf den Einzelnen an. Denn einerseits machen große Männer und Frauen Geschichte, anderseits werden sie von ihr gemacht. Beispiel: IBM, in den 80er Jahren noch der Spitzenleister, hatte dann den Personalcomputer verschlafen - nicht zuletzt wegen seiner bürokratischen Struktur und konservativen Kultur. Die Wiederbelebung des alten Riesen mit dem Internet ging indessen nicht vom Vorstand aus, sondern von der Basis. Es waren der IBM-Programmierer Dave Grossmann und der Manager John Patrick und weitere Gleichgesinnte, die einen Sturm neuer Ideen und Initiativen entfachten und den Wandel zur Internet Business Machine lostraten. "Führung von unten" nennt dies der Strategieexperte Gary Hamel.

Aber auch die kollektive Beteiligung verändert sich: Work-Life-Balance, das prekäre Verhältnis von Arbeits- und Lebenszeit, Flexicurity, Wandel durch soziale Sicherheit, Co-Management, Mitwirkung an Entscheidungen - diese Schlagworte der letzten Jahre verdeutlichen, wie Matthias Müller von der Hans-Böckler-Stiftung in seiner Dissertation ausführt, dass auch dem Betriebsrat ein ganzes Bündel von Führungsfähigkeiten zugeschrieben wird. Geführt wird also in Organisationen zum einen persönlich und interaktiv, zum anderen aber systemisch über die Entwicklung der harten und weichen Erfolgsfaktoren.

Herausforderungen bleiben

Nach einer von Rolf Wunderer geleiteten Studie werden zukünftig die unternehmerische und strategische Orientierung des Personalwesens zunehmen, Führungskräfte sollen mehr Visionen und Enthusiasmus vermitteln, sich mehr Zeit für die individuelle Mitarbeiterförderung nehmen, Wandel menschlich bewältigen und mehr Wert auf die Umsetzung legen. Allerdings erscheint der Weg dahin noch weit. Personaler und Betriebsräte werden oft in die Rolle gedrängt, nur die Schattenseiten des Wandels zu bewältigen. Denn zwar steht der Mensch nun als Humankapital im Mittelpunkt, zugleich wird er überflüssig.

Auf der anderen Seite stehen die Chancen nicht schlecht. In den 90er Jahren wurden Managementkonzepte von Radikalen beherrscht. Harte Schnitte durch Business Reengineering, die Orientierung an der so genannten "New Economy", die schöpferische Zerstörung durch den Druck der Finanzmärkte waren die Wegmarken. Heute, nachdem so manches Unternehmen am radikalen Wandel zugrunde gegangen ist, dreht sich das Blatt. Ein neuer Stil moderaten Wandels wird populär. Der Columbia-Business-School-Professor Eric Abrahamson plädiert für "change without pain". Jim Collins, Koautor des Bestsellers "Built to Last", der nachwies, dass nachhaltig erfolgreiche Unternehmen sich nicht an kurzfristigen Gewinnzielen ausrichten, zeigt in einer neuen Studie, dass berühmte, überlebensgroße Unternehmenslenker für besonders erfolgreiche Unternehmen eher abträglich sind: Wirklich erfolgreiche Führungspersönlichkeiten kommen häufig aus dem Unternehmen, sind bescheiden und eigensinnig. Vergütungsformen sind nicht relevant.

Nicht auf radikale Einäugigkeit, sondern auf ausbalancierte Wege kommt es an: auf Führung und Verantwortung, auf Markt und Regulierung, auf Wert- und Werteorientierung. Aber auch kulturelle Unterschiede sind zu beachten: Horst Störmer, der in Deutschland aufgewachsene Nobelpreisträger für Physik, wurde kürzlich in einem Interview mit dem Berliner Tagesspiegel nach dem Geheimnis der Forschung in den USA im Vergleich zu Deutschland befragt. Seine Antwort: "Der Unterschied liegt nicht so sehr im Ausbildungssystem, sondern im Optimismus des Landes. In Deutschland ist das Glas immer halb leer, in den USA ist es halb voll. Es ist eine andere Atmosphäre." Daran kann man arbeiten.

Ende


Zum Weiterlesen

Eric Abrahamson: Change Without Pain. Boston 2004
Yasmine Chahed, Malte Kaub, Hans-Erich Müller: Konzernsteuerung börsennotierter Aktiengesellschaften in Deutschland. Edition der Hans-Böckler-Stiftung 109, Düsseldorf 2004

Jim Collins: Good to Great. New York 2001

Gary Hamel: Wie IBM im E-Business zum Kraftprotz wurde. Harvard Business Manager 1/2001, S. 9-18

Fredmund Malik: Führen. Leisten. Leben, 4. Aufl., München 2002

Hans-Erich Müller: Wie Global Player den Kampf um Talente führen. In: Harvard Business Manager 6/2001, S. 16-25

Matthias Müller: Die Institution des Betriebsrates aus personalwirtschaftlicher Sicht. Dissertation, Wirtschaftsuniversität Wien 2004

Oswald Neuberger: Führen und führen lassen, 6. Aufl., Stuttgart 2002

Joseph E. Stiglitz: Die Roaring Nineties. München 2004

Rolf Wunderer: Führung und Zusammenarbeit, 5. Aufl., Neuwied 2002

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