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Magazin Mitbestimmung

: Kapitalismus und Glück

Ausgabe 06/2005

Als hätte Franz Müntefering es bestellt, erschien zur schon fast legendären "Kapitalismuskritik" Richard Layards Buch "Die glückliche Gesellschaft". Er führt vor, wie man den Kapitalismus attackieren, eine Revolution ausrufen und dennoch eine pragmatische Agenda entwerfen kann.

Der Kapitalismus löst seine Glücksverheißung nicht ein. Haben Politiker und Ökonomen zu lang einer Illusion von Wachstum und Wohlstand nachgejagt?
Wir haben heute mehr Einkommen, bessere Gesundheit, bessere Arbeitsbedingungen als vor 50 Jahren. Aber offensichtlich ist die Mehrung von Reichtum und materiellem Wohlstand keine hinreichende Bedingung für Glück. Trotz des enormen Wirtschaftswachstums werden die Menschen im Westen seit Jahrzehnten nicht glücklicher.

Warum?
Weil es vieles, was Glück ausmacht, nicht auf dem Markt gibt. Der vernachlässigt, was oft viel wichtiger ist, um glücklich zu sein: Bindungen und Beziehungen in der Familie, am Arbeitsplatz, in Gemeinden und Gemeinschaften. Die Menschen verschwenden maßlose Energien darauf, reicher zu werden. Und versäumen, Energie in ihre sozialen Beziehungen zu investieren. Der Preis sind gestörte Familienverhältnisse und soziale Beziehungen, Drogen, Depressionen, Medienkonsum, Vertrauensschwund, Verbrechen, Gewalt.

Sollten wir diese Bilanz nicht etwas differenzieren?
In jeder Gesellschaft fühlen sich die Reichen besser als die Armen, aber unterm Strich sind die reichen Gesellschaften nicht glücklicher. Dort nimmt das durchschnittliche Einkommen zu, aber nicht das Glücksempfinden. In ärmeren Ländern kann mehr materieller Reichtum sehr wohl auch mehr Glück bedeuten. Zusätzliches Einkommen lindert Not.

Massenarbeitslosigkeit sieht das Glücksversprechen des Kapitalismus auch nicht vor.
Arbeit bringt nicht nur Geld, sondern liefert auch Sinn. Sie zu verlieren gehört deshalb zum Schlimmsten, was einem zustoßen kann. Das Einkommen sinkt, das Selbstwertgefühl wird zerstört, die Kontakte am Arbeitsplatz gehen verloren, man wird nicht mehr gebraucht. Arbeitslosigkeit macht so unglücklich wie eine gescheiterte Ehe. Sie beeinträchtigt schließlich auch das Glücksempfinden derer, die Arbeit haben, und macht schlechte Stimmung im Land. Die Regierungen müssen der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit höchste Priorität einräumen.

Unsere ostdeutschen Schwestern und Brüder fühlen sich nicht gerade als Glückskinder.
Vor der Vereinigung verglichen sie sich mit den Menschen im Ostblock. Da schnitten sie gut ab. Seither vergleichen sie sich mit den Westdeutschen. Das macht sie ärmer und weniger glücklich.

Glück hängt vom Vergleich ab?
Das Bedürfnis nach gesellschaftlichem Rang ist menschlich. Deshalb schauen Menschen auf ihr relatives Einkommen. Viele würden sogar weniger Lebensqualität hinnehmen, wenn sie im Vergleich zu anderen aufsteigen könnten. Viele nehmen eine Lohnkürzung hin, wenn auch alle anderen weniger bekommen. Dann bleibt das Glücksempfinden gleich, ebenso, wenn das Einkommen aller gleichermaßen steigt. Aber gewinnen andere, beschädigt das das eigene Glück. Für die Gesellschaft ist der Kampf um relatives Einkommen ein absurder Wettlauf.

Die herrschende Lehre in der Ökonomie tickt anders.
Das Menschenbild der Wirtschaftstheorie ist viel zu schematisch. Ökonomen interessieren sich nicht für die Bedürfnisse der Menschen, nicht dafür, ob sie glücklich sind. Sie betrachten nur die Kaufkraft. Sie sehen menschliche Beziehungen nur als Mittel zum Zweck.

Sie entwerfen die Vision einer glücklichen Gesellschaft, des größtmöglichen Glücks für möglichst viele, und nennen das eine politische Revolution. Was unterscheidet diese Agenda des Glücks von der traditionellen sozialdemokratischen Agenda?
Sie konzentriert sich auf das Leben der Menschen, so wie sie es erfahren, nicht auf Kategorien wie den Klassenkonflikt oder Ähnliches. Sie geht von den Erfahrungen der Menschen aus, nicht von abstrakter Analyse. Sie orientiert sich an den Gefühlen und subjektiven Empfindungen der Menschen und nicht an Kaufkraft, Sozialprodukt und Wirtschaftswachstum.

Kann man den Leuten den Drang nach einem höheren Lebensstandard austreiben?
Lebensstandard funktioniert wie Alkohol und Drogen: Man braucht immer mehr davon. Man gerät in eine Tretmühle, in der man immer schneller strampeln muss, damit das Glücksempfinden wenigstens gleich bleibt. Das lenkt die Aufmerksamkeit darauf, wie Konsumkultur und Werbeindustrie unser Glücksempfinden beeinflussen.

Heißt das Konsumverzicht? Verzichten müssen die Leute doch schon genug.
Sie hätten mehr davon, mit dem glücklich zu sein, was sie haben und erreichen können. Stattdessen stehen sie unter Druck, etwas nur deshalb zu wollen, weil es andere schon haben. Wir sollten darüber nachdenken, ob uns eine Werbeindustrie gut tut, die endlos die Wünsche hochschraubt. Wir brauchen eine Gesellschaft, in der nicht so wichtig ist, was wir nicht haben - eine Gesellschaft, die sich auf die Wertschätzung anderer Menschen, auf Respekt gründet.

Das klingt, als sollte man ausgerechnet den Arbeitern erzählen: Hütet euch vor Besitz!
Wir müssen alle stärken, deren Erfahrung Benachteiligung ist, und ihnen helfen, ihr Leben zu bewältigen. Aber wir sollten nicht ständig das Gefühl der Unzufriedenheit bestärken.

Sie nennen Familie, Arbeit, soziales Umfeld, Gesundheit, persönliche Freiheit als die Glücksfaktoren, denen sich die Politik widmen sollte. Das tun moderne Mitte-Links-Regierungen ohnehin. Wo hilft ihre Vision einer glücklichen Gesellschaft weiter?
Die alte Agenda gründet darauf, dass mehr Gleichheit auch gut für das Glück der Gesellschaft ist. Weil Geld armen Leuten mehr bedeutet als reichen, gibt es einen Zugewinn an Glück, wenn man den Reichen Geld nimmt und es den Armen gibt. Das ist immer noch wahr, und deshalb glauben wir fest an die Gleichheit. Aber es gibt Felder, die nicht so sehr vom Gegensatz zwischen Arm und Reich geprägt sind, sondern etwas mit der Qualität des Lebens zu tun haben. Die unglücklichsten Menschen sind in allen Gesellschaftsschichten die psychisch Kranken. Und viele Menschen sind unglücklich, weil sie nicht respektiert werden. Es gibt viel mehr, was unglücklich macht, als nur materielle Ungleichheit.

Ist der Kapitalismus überhaupt ein brauchbares Fundament für eine Politik, die auch den Armen zu einem Glücksschub verhelfen kann?
Wir können weltweit vergleichen, wie glücklich die Armen in verschiedenen Gesellschaften sind. In den ehemals kommunistischen Ländern waren die Menschen auf allen sozialen Stufen unglücklich. Freie Gesellschaften produzieren mehr Glück für alle. Persönliche Freiheit ist ein wichtiger Faktor. Die Leute möchten ihr Leben selbst bestimmen.

Was bedeutet die Globalisierung für die politische Revolution, die Sie vorschlagen?
Die Menschen im Westen profitieren vom Wachstum des Welthandels. Oft ist das Gerede von Wettbewerbsverschärfung und Standortnachteilen nur eine Schauergeschichte. Zwar wachsen mit dem Tempo der Arbeitsplatzvernichtung die Turbulenzen in den westlichen Ökonomien. Und jedes Land, das seine Löhne zu schnell der Produktivität anpasst, wird global weniger wettbewerbsfähig. Aber auf Dauer werden die Menschen nach ihrer Produktivität bezahlt, steigen die Realeinkommen.
 
Überfordern wir unsere gebeutelten Politiker nicht, wenn wir von ihnen auch noch Glück erwarten? Reicht es nicht, wenn sie uns einige Probleme vom Hals halten?
Regierungen haben sich immer um die Bedingungen für Glück gekümmert. Wir wären weniger glücklich ohne Polizei, die dafür sorgt, dass wir sicher über die Straße kommen. Und die Deutsche Bundesbank hat sich gewiss auch bemüht, die Inflation niedrig zu halten, weil die Leute Sicherheit und Stabilität für ihr Glück brauchen. Eine Regierung sollte danach beurteilt werden, wieweit sie Glück mehrt und Leid mindert. Auch für ein Wirtschaftssystem gibt es keine bessere Begründung, als Bedingung für die Herstellung von Glück zu sein.

Ich stelle mir gerade diverse Politiker als Glücksbringer vor.
Politiker haben enorme Macht, den Glückszustand der Gesellschaft zu verändern. Ihr wichtigstes Instrument dabei ist das Bildungssystem. Die Schulen sollten sich mehr damit befassen, wie man mit den eigenen Bedürfnissen und Erwartungen umgeht, und sich mehr auf Persönlichkeitsbildung und Gemeinschaftserziehung konzentrieren. Ohne ethische und moralische Erziehung, ohne eine starke Sozialethik gibt es keine glückliche Gesellschaft.

In Deutschland hatten wir eine gute Tradition, über Lebensqualität zu reden. Die ist verschüttet. Taugt Glück als politisches Leitbild?
Eine Gesellschaft braucht eine klare Vorstellung vom gemeinsamen Wohl. Glück liefert sie. Glück ist, wenn man sich gut fühlt. Glück ist das übergreifende Ziel. Es gibt keinen anderen übergeordneten Zweck. Denn es ist einfach wichtig und nicht strittig. Deshalb ist es das beste Leitbild. Das Glück jedes Menschen ist gleich viel wert. Andererseits ist es wichtiger, Leid abzubauen, als mehr Glück herzustellen. Mitgefühl ist das ganze Geheimnis. Das ethische Prinzip des größten Glücks für möglichst viele hilft den Regierungen herauszufinden, was wirklich wichtig ist. Und den jungen Leuten, worauf sie ihr Leben ausrichten sollten. Das ist die Basis eines Wertesystems für unser Jahrhundert.

Was folgt aus all dem praktisch? Unsere Regierung ist bis jetzt nicht sonderlich erfolgreich, die Arbeitslosen zu beglücken.
Es gibt zwei strukturelle Faktoren, die höhere Beschäftigung verhindern: Die Arbeitslosen werden falsch behandelt, und die Löhne sind nicht flexibel genug. Der erste Grund ist für West-, der zweite für Ostdeutschland wichtig. Das Wichtigste für Arbeitslose ist nicht mehr Geld, sondern ein Job oder zumindest Hilfe bei der Jobsuche. Der erste Lösungsansatz ist deshalb, die Leute bei der Arbeitssuche massiv zu unterstützen.

Und der zweite?
Unterstützungszahlungen nur gegen Nachweis, dass die Leute einen Job suchen. Diese beiden Essentials wurden in Dänemark, den Niederlanden und in Großbritannien unter Labour eingeführt. Dort sanken die Arbeitslosenraten. In Frankreich und Deutschland dagegen nicht. Die Hartz-Reformen sind deshalb vernünftig. Aber es ist ein riesiges Problem, die entsprechende Arbeitsverwaltung aufzubauen. In England dauerte es Jahre, diese Politik zu implementieren.

Sind Sie sicher, dass die Hartz-Reformen unsere Arbeitslosen beglücken?
Arbeitslosigkeit macht unglücklich! Arbeitslose wären glücklicher, wenn sie Arbeit hätten. Deshalb ist es Aufgabe der Arbeitsverwaltungen, den Leuten neue Hoffnung zu geben und sie - wenn es sein muss - auch in Situationen zu drängen, die sich am Ende als besser erweisen.

Das schafft in Ostdeutschland auch nicht mehr Arbeitsplätze.
Dort sind die Löhne, gemessen an der Produktivität, zu hoch. Die Nachbarn haben dagegen ungleich niedrigere Lohnkosten. Deshalb macht es Sinn, die Löhne regional flexibel auszuhandeln.

Und dann macht Arbeit einfach glücklich?
Eine der größten Herausforderungen ist der Druck, die Arbeit auf Kosten der Qualität des Arbeitslebens zu intensivieren. Dagegen muss es Widerstand geben. Die Wirtschaft in Europa gerät zunehmend unter den Einfluss amerikanischer Business-Schulen, die den Leuten einreden, es sei in ihrem Interesse als Konsumenten und deshalb jedes Opfer wert, wenn nur die Effektivität der Arbeitsorganisation steigt. Aber schlussendlich sind die Konsumenten auch die Produzenten. Zwischen der Lebensqualität der Menschen als Konsumenten und als Produzenten ist eine ausgewogene Balance herzustellen.

Mehr und länger arbeiten fordern Politiker und Unternehmer allenthalben.
Die Deutschen sind sehr vernünftig und gönnen sich viel Urlaub und kurze Wochenarbeitszeiten. Längere Arbeitszeiten können natürlich das Bruttosozialprodukt steigern. Aber wenn die einen mehr arbeiten und verdienen, dann hat das zur Folge, dass andere unglücklicher werden. Möglicherweise wird dann mehr gearbeitet als sozialverträglich wäre. Leistungsabhängige Bezahlung kurbelt diesen Wettlauf noch an.

Die predigen die Neoliberalen aber auch ständig.
Leistungsabhängige Bezahlung verursacht mehr Stress, entwertet alle Anreize jenseits des Geldes, zerstört das Berufsethos und demoralisiert die Arbeitnehmer. Sie führt zu Spannungen zwischen Leuten, die miteinander kooperieren müssen. Und diese Beziehungen müssen oft überwacht werden. Deshalb sollten wir gegenüber Rankings von Beschäftigten vorsichtig sein. Bewertungen sind oft höchst subjektiv und willkürlich. An den wenigsten Arbeitsplätzen ist eine objektive Messung der Leistung möglich. Viele Regierungen haben deshalb bei der Reform des öffentlichen Dienstes schwere Fehler gemacht.

Wie steht es mit dem Patentrezept Abbau des Kündigungsschutzes?
Es wird behauptet, dass Kündigungsschutz die Schaffung von Arbeitsplätzen behindert. Er verhindert aber auch Entlassungen. Beides gleicht sich aus und hat wenig Einfluss auf die Arbeitslosenquote.

Steuersenkung gehört ebenfalls zu den Glaubenssätzen neoliberaler Ökonomen.
Höhere Einkommen machen die Leute letztlich nicht glücklicher. Dafür opfern sie zwar ihr Familienleben, ihren Kinderwunsch, ihre Freundschaften. Aber das geht auf Dauer nicht gut. Exzessive Arbeit unattraktiv zu machen ist der dritte Grund für Steuern - neben Geld für öffentliche Dienstleistungen und Umverteilung. Steuern können helfen, das Gleichgewicht zwischen Arbeit und Leben zu bewahren. Sie können ein Instrument zur Beendigung des Statuswettlaufs und von zu viel Arbeit sein. Wenn man die Steuern senkt, arbeiten die Leute mehr und haben weniger Zeit für Dinge, die für ihr Glück maßgeblich sind.

Wo können Sie bereits heute die meisten Elemente der Glücksagenda entdecken?
Die Skandinavier sind am glücklichsten. Sie haben eine ausgeprägt egalitäre Grundhaltung. Und viel Respekt und Mitgefühl für andere. Sie investieren auch ausgeprägt egalitär in Bildung und Erziehung ihrer Kinder. Die Gleichheitsidee hat Auswirkungen auf alle Lebensbereiche. Besonders fällt auch auf, wie viel Vertrauen sich die Leute gegenseitig schenken. Zum Glücklichsein gehört, wie sehr man seinen Mitmenschen trauen kann. Solidarität ist für das Glücksempfinden sehr wichtig.

Zur Person

Lord Richard Layard (71), ist Arbeitsmarktexperte und Ökonom und lehrte 20 Jahre an der London School of Economics (LSE). Dort ist er nach wie vor Direktor des "Centre for Economic Performance". Er gilt als Vater der Welfare-to-Work-Programme. Nach dem Wahlsieg von Tony Blair 1997 prägte er die britischen Arbeitsmarktreformen. In seiner jüngsten Publikation "Die glückliche Gesellschaft - Kurswechsel für Politik und Wirtschaft" (Campus-Verlag, 2005) entwirft er - gestützt auf Ergebnisse von Soziologie, Psychologie, psychologischer Ökonomie, Hirnforschung und Genetik - die Grundzüge eines post-neoliberalen gesellschaftlichen Leitbildes.

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