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Magazin Mitbestimmung

: INTERVIEW "Bei Outsourcing haben wir Zähne gezeigt“

Ausgabe 11/2011

Die stellvertretende ver.di-Vorsitzende Andrea Kocsis über ihren Aufstieg von der Briefträgerin, den jüngsten Generationentarifvertrag bei der Post und ein Outsourcing-Verbot

Mit Andrea Kocsis sprachen in Berlin Redakteurin Cornelia Girndt und die freie Journalistin Karin Flothmann./Foto: Stephan Pramme

Andrea Kocsis, heute ist Freitag. Was waren die Highlights der Woche?
Es war sehr turbulent. Am 6. Oktober haben wir mit der Post AG einen beachtenswerten Generationentarifvertrag abgeschlossen. Für die älteren Beschäftigten ermöglicht er alternsgerechtes Arbeiten mit Zeitwertkonten und Altersteilzeit. Für die Auszubildenden haben wir vereinbart, dass 2580 von ihnen unbefristet in Vollzeit übernommen werden. Am Montag konnte ich diesen Tarifvertrag auf einer großen Betriebsversammlung in Wittlich vorstellen. Die Beschäftigten waren begeistert.

Und sonst Büroalltag?
Nein. Gestern hatten wir hier im ver.di-Haus eine Veranstaltung über den „schleichenden Abbau des Sozialstaates“ mit Referenten wie Albrecht Müller und Heribert Prantl; es war anstrengend, aber inhaltlich klasse.

Wie schafft man den Sprung von der Briefträgerin zur stellvertretenden Gewerkschaftschefin?
Als ich bei der Post anfing hat mein Vater, der Mitglied der ÖTV war, gesagt: „Du musst Gewerkschaftsmitglied werden.“ Bei uns zu Hause in Mülheim gab es immer viele Debatten um soziale Gerechtigkeit. So passte es, dass ich mich ziemlich schnell als Arbeitnehmervertreterin engagiert habe. Mit den Aufgaben ist ein gesundes Selbstbewusstsein gewachsen. Ich habe bei meiner Gewerkschaftsarbeit immer Mentoren gehabt, und nicht zuletzt war meine Karriere in der Organisation ein Ergebnis der Frauenquote.

Im Ihrem ver.di-Fachbereich Speditionen und Logistik sind überwiegend Männer tätig sind. Wie kommt frau damit klar?
Ich kann auch schon mal die Klappe aufreißen, wenn es notwendig ist. Manchmal ist es gar nicht verkehrt, Frau zu sein. Männer, auch die der Arbeitgeberseite, sind erst mal ein bisschen irritiert, aber im Endeffekt gegenüber einer Frau zugänglicher. In Tarifverhandlungen hat das geholfen.

Es hört sich an, als hätten Sie Freude an den Gestaltungsmöglichkeiten, die Tarifpolitik bietet?
Ich freue mich sehr darüber, dass ich bei ver.di jetzt die Tarifpolitik zu verantworten habe – ich überblicke ja bereits ein Spektrum, einerseits den mitgliedermäßig gut organisierten Postbereich und andererseits den Speditions- und Logistikbereich, wo auch große Teile ohne Tarifbindung sind.

Warum gibt es bei der Post DHL nur 2,1 Prozent Azubis und im Fachbereich Postdienste bei den jungen Erwachsenen ein Mitgliederminus von 19 Prozent?
Es gab in den letzten Jahren schlicht weniger Auszubildende und weniger Übernahmen. Jetzt sind wir an einem Wendepunkt mit der vereinbarten Übernahme der 2580 Auszubildenden. Vorher war man davon ausgegangen, dass der Briefmarkt ein stark schrumpfender Markt ist, gleichzeitig hatten wir einen Kündigungsschutz bis 2015 vereinbart, was dazu führte, dass kaum mehr eingestellt und wenig ausgebildet wurde.

Die Post DHL ist heute ein global agierendes Dienstleistungsunternehmen. Wie läuft das?
Weltweit hat man eine Express- und eine Logistiksparte aufgebaut, der Ex-Vorstandsvorsitzende Zumwinkel hat in jenen Jahren die halbe Welt aufgekauft, sodass die Deutsche Post DHL heute in über 220 Ländern aktiv ist. Inzwischen ist klar: Der Briefmarkt schrumpft nicht so extrem, und der Pakektbereich wächst – wegen der vielen Internetbestellungen. Mittlerweile wurden im Expressbereich auch wieder Geschäfte aufgegeben – in den USA etwa.

Wie ist die Atmosphäre im Aufsichtsrat?
Deutlich besser. Während der Finanz- und Wirtschaftskrise ist immer mehr Anteilseignern klar geworden, dass nicht alles verkehrt war, was wir als Gewerkschaften gefordert haben. Die aktuelle Situation ist doch sehr bedrohlich. Und das führt dazu, dass wir viel deutlicher wahrgenommen werden, man mit uns diskutiert, angefangen bei der Frauenquote bis hin zur Frage der sozialen Verantwortung eines Konzerns.

Wenn die Politik den Gewerkschaften mehr zuhört, gibt es dann Chancen, die prekären Arbeitsbereiche, die auch bei der privatisierten Briefpost entstanden sind, besser abzusichern?
Ich hoffe, dass das ein Ergebnis der Diskussion ist, die wir mit der Politik, aber auch mit Konzernvorständen führen. Wir haben schon vor 20 Jahren prognostiziert, dass der Wettbewerb im schrumpfenden Briefmarkt nur über die Löhne geführt werden wird. Wir sehen heute, dass die Briefdienstleister, die zu extrem schlechten Arbeitsbedingungen Menschen beschäftigen, nicht am Markt bleiben werden, selbst, wenn sie nur vier Euro Stundenlohn bezahlen. In einem schrumpfenden Marktsegment ein zweites flächendeckendes Netz aufzubauen – das ist ökonomisch schwierig. Insofern haben wir im Moment einen Rückgang des Wettbewerbes im Briefbereich.

Der Postmindestlohn ist aus juristischen Gründen gescheitert. Gibt es noch mal eine zweite Chance für die Branche insgesamt?
Derzeit leider nicht. Im Moment gibt es keinen einzigen Arbeitgeber, auch nicht die Deutsche Post AG, die Tarifverhandlungen über einen Mindestlohntarifvertrag führen will, um diesen Lohn dann für allgemein verbindlich erklären zu lassen.

Und jetzt? Wo doch die Regierungskoalition mehr Bereitschaft für Branchenmindestlöhne signalisiert.
Es ist sehr positiv, dass das Thema Mindestlohn in der Mitte der Union angekommen ist und beraten wird. Allerdings: Egal, wie man das Kind nennt, wir brauchen einen einheitlichen, flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn als unterste Lohngrenz für alle Beschäftigten.

Wäre es nicht nahe liegend, die Beschäftigten bei den Postkonkurrenten als Mitglieder zu gewinnen und Tarifverhandlungen zu führen?
Das ist die originäre Arbeit einer Gewerkschaft, und wir haben es in den letzten Jahren wirklich versucht. Aber Menschen in prekärer Beschäftigung sind deutlich schwerer gewerkschaftlich zu organisieren als Menschen, die ein ordentliches Arbeitsverhältnis haben. Viele haben sich diese Jobs nicht ausgesucht, sondern werden von den Arbeitsagenturen dorthin geschickt und gezwungen, schlecht bezahlte Arbeit anzunehmen. Sie sind befristet, sie arbeiten in Teilzeit. Es gibt Repressalien gegen Gewerkschaftsmitglieder, gegen Betriebsräte. Deshalb sagen wir, genau für diese Menschen brauchen wir den gesetzlichen Mindestlohn.

Auch die Logistikbranche ist kein leichtes Terrain für Gewerkschaften.
Entsprechend haben wir in diesem Branchensegment mehr Hauptamtliche eingesetzt. Sie müssen arbeitsrechtlich beraten und die Gründung von Betriebsräten intensiv begleiten, was bei der Post unsere Ehrenamtlichen selbst organisieren. In den größeren Logistikbetrieben existieren zwar gut entwickelte Mitbestimmungsstrukturen und flächendeckende Tarifverträge. Wir konnten auch Beschäftigte motivieren, für bessere Tarifabschlüsse in den Arbeitskampf zu gehen. Auf der Arbeitgeberseite aber haben wir eine sehr hohe Tarifflucht. Das sorgt dafür, dass die Tarifverträge deutlich unterschritten werden. Auch hier wird also der Wettbewerb über die Löhne ausgeführt. Das ist kein branchenspezifisches Thema. Es führt dazu, dass wir in Deutschland insgesamt eine Erosion der Tarifvertragslandschaft haben.

Das heißt, wenn die Arbeitgeberverbände nicht mehr präsent sind, geht der eine Pfeiler der Tarifpolitik verloren.
Genau. Das ist auch einer der Gründe, warum wir sagen: Wir brauchen einen gesetzlichen Mindestlohn für alle. Wir verlieren unsere Verhandlungspartner, wir haben extremes Lohndumping, wir können die Menschen in diesen schlechten Arbeitssituationen nur schwer organisieren. Deswegen haben wir gar keinen anderen Ausweg, wir brauchen einen Boden in diesem Fass, sonst dreht sich die Spirale weiter nach unten.

Wieso werden Dienstleistungen in Deutschland relativ schlecht bezahlt und haben so ein schwaches gesellschaftliches Ansehen?
Deutschland war immer die Industrienation. Wir sind Exportweltmeister, aber eben nicht der Dienstleistung. Daher ist die Branche ins Hintertreffen geraten. Das verändert sich: Alle sehen, wie der Dienstleistungsbereich wächst und Beschäftigung trägt. Wir machen uns stark für eine offensive Dienstleistungspolitik, die weggeht von Deregulierung und Liberalisierung.

Vielfach sind selbst Wachstumsmärkte schlecht entlohnt ­–­ etwa industrielle Dienstleistungen und die Logistik.
Früher hat die Automobilindustrie ihre Autos selbst von A nach B transportiert. Heute beauftragt sie externe Dienstleister. Für die Logistik ist das ein Wachstumsbereich – obwohl man eigentlich nicht von Wachstum sprechen kann, denn früher waren es die Autobauer, die die gleiche Arbeit taten. Dienstleistung ist oft ein Outsourcing-Produkt.

Unser Titelthema beschäftigt sich genau damit. Und mit den dadurch schwieriger gewordenen Branchen- und damit Gewerkschaftsabgrenzungen. Was ist da zu tun?
Das Thema haben wir – ver.di und IG Metall – auf der Tagesordnung. Der Logistikbereich wächst durch Outsourcing, weil die Unternehmen billiger produzieren wollen. Und er wächst auch, weil sich auf der Logistikseite neue Dienstleistungen entwickeln. Sicher wird es schwierig, wenn Logistiker auch Vormontage anbieten und über diesen Weg versucht wird, Löhne zu drücken und Arbeitsbedingungen zu verschlechtern Allerdings: Eine Blaupause gibt es nicht. Dazu ist die betriebliche Wirklichkeit zu komplex und auch zu sehr im Fluss. Wir werden hier gemeinsam zu differenzierten Lösungen kommen, die im Interesse der Beschäftigten liegen. Davon bin ich überzeugt.

Outsourcing kann man schwerlich verhindern. Auch im Briefbereich wollte die Post doch Arbeiten nach außen verlagern.
Da hat ver.di durchaus Zähne gezeigt: In unserem jüngsten Tarifvertrag haben wir bis zum Jahr 2015 den Ausschluss der Fremdvergabe in der Briefzustellung vereinbart. Und bei den Paketdiensten haben wir einen Stopp vereinbart – also nicht über die 990 Bezirke hinauszugehen, die bereits vertraglich fremdvergeben sind.

Das ist so etwas wie eine rote Karte fürs Outsourcing.
Genau, ein Outsourcing-Verbot. Das ist ein Ergebnis von Tarifmächtigkeit.

Zur Person

Andrea Koscic ist angenehm unprätentiös, eine lebensbejahende Rheinländerin. Es ist Freitagnachmittag, aber die 46jährige ver.di-Vize-Vorsitzende wirkt entspannt und ist voll konzentriert. „Innerliche Gelassenheit auszustrahlen und andere nicht noch nervös machen, wenn sie es schon sind“, sei eine wesentliche Fähigkeit für ihren Job, sagt sie. In ihrem seitlich verglasten Berliner Büro hat man einen weiten Ausblick auf den Lauf der Spree. Sie ist gern hier und im trubeligen Berlin. Genauso wie im ländlichen Mettmann bei Düsseldorf, wo sie die Wochenenden mit Mann und dem angeheirateten Kind verbringt.

Auf dem ver.di-Kongress im September wurde Andrea Kocsis wiedergewählt als eine von nun zwei stellvertretenden ver.di-Vorsitzenden. Sie führt weiterhin die Bundesfachbereiche Postdienste und Speditionen und Logistik – und verantwortet seit Neuestem auch die Grundlinien der Tarif- und Mindestlohnpolitik. Andrea Kocsis hat eine rasante Karriere gemacht: Ihr Studium der Sozialarbeit und Romanistik finanzierte sie Mitte der 80er Jahre mit einem Ferienjob als Briefträgerin. Es folgten in Düsseldorf eine Festanstellung bei der Post, Betriebsrats- und Gewerkschaftsarbeit zuletzt in der ver.di-Landesleitung in NRW. Rund 20 Jahre nach der Zeit als Briefträgerin ist Kocsis stellvertretende Aufsichtsratsvorsitzende der Post AG. Und am 15. Dezember kommt eine weitere Aufgabe hinzu – als Vorstandsmitglied der Hans-Böckler-Stiftung.

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