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Magazin Mitbestimmung

: INTERVIEW 'Das sichert Jobs'

Ausgabe 09/2006

Die IG BCE erlaubt fallweise ihren Verbandsunternehmen die 40-Stunden-Woche und bis zu 10 Prozent weniger Lohn. Diese Öffnungsklauseln sind Bestandteil ihrer Tarifpolitik. Dennoch sind sie kein Freibrief für die Unternehmen. Wie funktioniert das, Werner Bischoff?


Mit IG BCE-Vorstandsmitglied Werner Bischoff sprach Redakteurin Cornelia Girndt in Düsseldorf.


Werner Bischoff, die IG BCE setzt seit 12 Jahren das Instrument der Öffnungsklauseln offen und auch offensiv ein. Wie aufwendig hat man sich diese Aushandlungen vorzustellen?
Erst loten wir in einem Prüfverfahren aus, ob das Ziel nicht auf eine andere Weise erreicht werden kann - ehe überhaupt Öffnungsklauseln verhandelt werden. Bevor wir an eine Flexibilisierung des Tarifvertrags gehen, wird von uns alles durchgekämmt, was sich an betrieblichen Sonderzahlungen und übertariflichen Leistungen im Laufe der Jahre angesammelt hat - vom Konfirmations- bis zum Kartoffelgeld. Es muss erstmal in die betrieblichen Schubladen geschaut werden, ehe die Öffnungsklauseln in Anspruch genommen werden.

Was wird noch geprüft?
Außerdem fragen wir nach Optimierungsmöglichkeiten, die noch nicht ausgeschöpft wurden. Das Heben von Reserven im Betrieb ist ein möglicher positiver Nebeneffekt dieser strategischen Vorgehensweise. Damit kommt Bewegung in die Verhandlungen. Wenn Unternehmen glauben, sie hätten mit einer Öffnungsklausel eine Sparbüchse zur Verfügung, unterliegen sie einem Irrtum.

Aus welchem Anlass werden gemeinhin Öffnungsklauseln beantragt, wie läuft das im wirklichen Leben?
Das ist von Betrieb zu Betrieb verschieden. Bei einer Absatzflaute will ein Unternehmen sein Fachpersonal nicht verlieren. Die Belegschaft geht dann beispielsweise von der 37,5-Stunden-Woche auf 35 Stunden runter bei entsprechendem Lohnverzicht. Es kann aber auch sein, dass ein Unternehmen auf Grund des Kostendrucks seine Arbeitszeit ausweiten will. Oder weil man sich rechtzeitig auf Wettbewerbsrisiken einstellen will.

Wie rechtzeitig?
Es wäre ein falsches Verständnis, wenn die Inanspruchnahme von Öffnungsklauseln als der vorletzte Schritt vor dem Insolvenzverwalter begriffen würde. Klar ist: Mit Öffnungsklauseln allein kann dauerhaft kein Betrieb gerettet werden. Auch deshalb sind die Vereinbarungen grundsätzlich befristet.

Setzt die IG BCE auch externe Berater ein, um zu prüfen, ob ein Antrag auf Öffnung berechtigt ist?
Vorrangig ist das ein Kerngeschäft unserer Organisation. Weil wir eine Öffnungsklausel immer auch im Kontext unserer Tarifsystematik sehen müssen. Zum anderen stimmen wir ein Öffnungsverfahren sehr eng innerhalb der IG BCE ab - zentrale Koordinierung in Hannover, rechtzeitiger und intensiver Erfahrungsaustausch mit den Landesbezirksleitern und Bezirksleitern und vor allem mit den Betriebsräten.

Bei Bedarf schaltet sich auch die betriebswirtschaftliche Abteilung der IG BCE ein. Wird da eine Checkliste abgearbeitet?
Nein. Eine Öffnungsklausel ist ein tarifpolitisches Instrument. Deshalb ist es vorrangig eine tarifpolitische Entscheidung, ob man einer zeitweiligen Absenkung der Tarifstandards zustimmt. Da kann eine Checkliste nur ein Hilfsmittel sein. Ein vernünftiges, sozialpartnerschaftliches Verhältnis im Betrieb vereinfacht natürlich die Gespräche und Verhandlungen über eine Öffnungsklausel.

Ob man einer solchen zustimmt, ist also ein Abwägungsprozess. Gibt es hier auch hin und wieder Differenzen mit dem Chemie-Arbeitgeberverband?
Ja, selbstverständlich gibt es die. Die allermeisten Fälle können wir aber einvernehmlich lösen, weil wir ein Vertrauensverhältnis haben, das über viele Jahre gewachsen ist.

Verfügt ihr auch über eine Art Controlling, ob die Unternehmen die Verabredungen einhalten?
Selbstverständlich muss eine Vereinbarung eingehalten werden, was denn sonst? Verträge sind nicht der Beliebigkeit anheimgegeben. Öffnungsklauseln sind auch keine Einbahnstraße. Wir achten sehr genau darauf, ob beispielsweise die zugesagten Investitionen getätigt werden, Standorte erhalten bleiben oder es keine betriebsbedingten Kündigungen gibt.

Die Konzessionen machen ja die Arbeitnehmer. Lasst ihr im Betrieb die IG BCE-Mitglieder über Annahme oder Ablehnung einer Öffnungsklausel abstimmen?
Von dieser Form der scheinbaren Demokratisierung halte ich nichts. Die Betriebsräte haben ein Mandat und damit das Vertrauen von ihren Belegschaften erhalten, und wenn sie ihren Job gut machen, dann bekommen sie ein neues Mandat. Wenn nicht, besteht die Möglichkeit der Abwahl. Im Übrigen ist es ja nicht so, dass wir uns im Hinterzimmer mit dem Arbeitgeber zusammensetzen und klammheimlich eine Öffnungsklausel vereinbaren. Nein, auf Transparenz legen wir größten Wert. Offenheit ist Voraussetzung für Akzeptanz.

Die Beschäftigten sind nicht so unbedingt begeistert von Verzichten und Öffnungsklauseln. Hier hält ja nicht selten die Gewerkschaft ihr breites Kreuz hin.
Klar, hin und wieder gibt es auch sehr muntere Betriebsversammlungen. Wir legen die Dinge detailliert auf den Tisch und leisten ganz konkrete Überzeugungsarbeit. Am Ende zählen dann die Argumente und die Sicherung der Arbeitsplätze.

Kann die Öffnungspolitik mit dem Flächentarif in Konflikt geraten?
Ein Beispiel: Die tarifvertraglich abgesicherte Altersvorsorge wird zum Teil aus dem 13. Monatseinkommen finanziert. Folglich steht uns dieses Geld nicht für abweichende Vereinbarungen zur Verfügung. Man kann den Euro nicht zweimal ausgeben.

"Öffnungsklauseln sind kein Freibrief und kein Wunschzettel für Unternehmer", solche Mahnungen hört man verstärkt aus der IG BCE. Was ist da passiert?
Noch bis 2004 hatten wir bei der Öffnungsklausel zur Arbeitszeit ein Verhältnis von 60 zu 40. Sechzig Prozent der Unternehmen wollten die Arbeitszeit ausweiten und 40 Prozent eine Arbeitszeitverkürzung. Dies änderte sich nach einer Zeit. Es wurde offensichtlich schick, in der 40-Stunden-Woche zu denken. Natürlich machen wir das so nicht mit.

Die Ausnahmen drohten also zur Regel zu werden. Und was sagte euer Tarifpartner, der Bundesarbeitgeberverband Chemie, dazu?
Zur Regel drohte das nicht zu werden, aber die Zahl der Anträge nahm schon erheblich zu. Unsere gemeinsame Auffassung mit dem Arbeitgeberverband ist: Es kann nicht sein, dass man aus Fantasielosigkeit nun die 40-Stunden-Woche wie ein Dogma vor sich herträgt. Gefragt sind vielmehr passgenaue, flexible Lösungen.

Stellt so ein Versuch nicht die Politik der Öffnungsklauseln in Frage?
Wir lassen uns die Arbeitszeitverkürzungen, die wir über viele Jahre erkämpft haben, nicht mit einem Federstrich wieder auf eine 40-Stunden-Woche hochziehen. Grundsätzlich muss klar sein: Wir ermöglichen die Öffnungen im Tarifvertrag gezielt - aber nicht generell. Das sehen unsere Tarifverträge seit 12 Jahren vor - und es war richtig, diesen Weg zu gehen.

Aber nicht einfach.
Die IG BCE wurde zunächst scharf kritisiert, nicht zuletzt auch von der gewerkschaftsnahen Wissenschaft. Nun sehen wir natürlich mit einer gewissen Genugtuung, dass diese betriebliche Öffnungspolitik mehr und mehr auch Praxis in anderen Gewerkschaften wird.

Immer noch befürchten manche, der Flächentarifvertrag werde durchlöchert.
Tatsache ist doch: Weil wir - neben anderen Faktoren - diese Differenzierung über Öffnungsklauseln haben, trägt das große Dach des Flächentarifs in der chemischen Industrie. Bei der Vielzahl der Sparten könnte es sonst auch 25 Tarifverträge geben. Das wollen wir nicht, denn Zersplitterung geht auf Kosten der Gestaltungsmöglichkeiten. Der Arbeitgeberverband sieht dies ähnlich. Dinge wie unsere wirklich gute tarifliche Altersvorsorge oder die Steigerung der Ausbildungsplätze um sieben Prozent von 2003 bis 2007 lassen sich so leichter bewegen.

Werner Bischoff, du warst Verhandlungsführer der IG BCE im Konflikt mit Conti um die Schließung des Reifenwerkes Stöcken. Warum hat der Conti-Vorstandsvorsitzende eine existierende Standortvereinbarung aufgekündigt?
Wir haben mit dem Unternehmen Continental über zwei Jahre verhandelt, die Mitarbeiter des Reifenwerkes haben Geld und Mehrarbeit für die Standortsicherung eingebracht. Gleichzeitig waren betriebsbedingte Kündigungen für einen bestimmten Zeitraum ausgeschlossen. 100 Tage nach Abschluss der Standortvereinbarung wollte Conti wieder aussteigen. Vertragsbruch konnten und werden wir in keinem Fall akzeptieren.

Das hätte Nachahmer finden können. War die IG BCE deshalb so alarmiert?
Conti hat ja keine Verluste geschrieben, sondern nur nicht "genügend" Gewinn gemacht. Wir stehen auf dem Standpunkt: Ein solcher Konzern muss auch mal in einem Bereich eine Rendite unterhalb der Konzernrendite fahren können, wenn es darum geht, in einer schwierigen Situation Arbeitsplätze zu erhalten.

Das war der eigentliche Grundkonflikt?
Und es war der Grund, warum wir diese breite Unterstützung und Solidarität in der Öffentlichkeit erfahren haben, was unsere Verhandlungsmacht stärkte. Conti ist in Hannover ein Symbol für industrielle Fertigung überhaupt.

Die IG BCE hat im Conti-Konflikt ein kämpferisches Bild abgegeben, wo man doch sonst eher friedvolle Sozialpartnererklärungen erwartet. Werden die Konflikte schärfer?
Gerade eine sozialpartnerschaftlich orientierte Gewerkschaft muss kampffähig sein, wir verhandeln auf Augenhöhe. Conti hat gezeigt: Wir sind jederzeit in der Lage, unsere Mitglieder zu mobilisieren und auch öffentliche Unterstützung zu bekommen. Wir stehen zu den Öffnungsklauseln, wir sind für einen sozialpartnerschaftlichen Umgang. Wer aber diese Ebene verlässt, erlebt sehr schnell eine IG BCE, die dann ebenfalls auf einer anderen Ebene agiert.

Aber der Druck von den Kapitalmärkten und Shareholdern ist ja auch sehr stark geworden…
Entscheidend ist, wie man damit umgeht, und das ist eine Frage der Konzernphilosophie. Denn unter dem Druck der Kapitalmärkte stehen auch andere Unternehmen.

Hat der Arbeitgeberverband etwas bewirken können gegenüber dem Mitglied Conti?
Wir haben den BAVC natürlich aufgefordert, sich zu positionieren. Das betrifft ja auch die Glaubwürdigkeit der Arbeitgeberseite, wenn eine bewährte Verbandspolitik von einem Mitgliedsunternehmen in Frage gestellt wird. Öffentlich hat der BAVC verhalten reagiert, aber intern hat es intensive Gespräche gegeben. Letztendlich waren es unsere Aktionen, die den Erfolg gebracht haben.

Was ist das wichtigste Ziel, das du mit dieser tariflichen Öffnungspolitik verbindest?
Mein Hauptziel ist: Möglichst kein Arbeitnehmer soll seinen Arbeitplatz verlieren. Wenn dies dennoch passiert, dann soll er oder sie durch Umschulung oder Vermittlung im und um das Unternehmen einen neuen Arbeitsplatz finden. Das ist unser Erfolgsmaßstab. Und das hat auch Vorrang vor Abfindungsregelungen, die immer nur die zweitbeste Lösung sein können.




Zur Person
Werner Bischoff, 58, gelernter Ziseleur, ist seit 1997 für die Tarifpolitik verantwortlich als Mitglied des geschäftsführenden Hauptvorstands der IG Bergbau, Chemie, Energie. Außerdem war Bischoff zehn Jahre lang bis 2005 für die SPD im Landtag Nordrhein-Westfalen. Er ist Mitglied im Aufsichtsrat der Continental AG, Degussa AG und bei RWE.




"Das gehört zu unserer Tarifsystematik"

Werner Bischoff hat einen Stapel an Unterlagen mitgebracht, jedes Blatt in Planquadrate unterteilt. Er fährt mit dem Finger darüber: "Welches Unternehmen welche Öffnungsklausel nutzt, das haben wir hier alles dokumentiert", sagt der oberste Tarifpolitiker der IG BCE. Hier die Zustimmung zum Arbeitszeitkorridor, bei dem alles möglich ist zwischen 35 und 40 Wochenstunden. Dort die Jahresleistung, das 13. Monatsgehalt kann schwanken. Und hier, das sind die Entgeltkürzungen, die können bis maximal 10 Prozent gehen, aber meist liegen sie drunter. "Damit haben wir einen Überblick, was jetzt hier diese Abweichung für die Wettbewerber in der Reifen- oder Automobilzulieferindustrie bedeutet. Wir können einschätzen, was passiert, wenn ich heute einem Unternehmen der Glasindustrie eine bestimmte Möglichkeit einräume", sagt Bischoff.

Anfang der 90er Jahre begann die Öffnungspolitik. Damals wollte der Bundesarbeitgeberverband Chemie (BAVC) einen Sondertarifvertrag für die unter Wettbewerbsdruck stehende Chemiefaserindustrie. Das lehnte die IG Chemie kategorisch ab, stattdessen wurde 1994 die erste Öffnungsklausel vereinbart. Seit 12 Jahren haben IG BCE und Arbeitgeberverband immer weiter gefeilt an ihrem Tarifwerk und dabei auch Verfahren standardisiert, wie man zwischen Tarif und Tarifabweichung hin und her manövriert. Abweichend vom Tarif arbeiten derzeit in der chemischen Industrie 54 000 Arbeitnehmer, das sind 12 Prozent der Beschäftigten und betrifft 250 Betriebe (von 1800).

"Dafür gibt es klare Mechanismen", sagt Bischoff und zählt sie auf. Erstens - ohne eine verlässliche und enge Verbindung zur betrieblichen Interessenvertretung kann es keine funktionierende Öffnung von Tarifverträgen geben. Zweitens muss die Gewerkschaft die Fäden in der Hand haben - bis hin zum berühmten Zustimmungsvorbehalt, dem Vetorecht, das beide Tarifparteien haben. Und drittens müssen Gewerkschaft und Arbeitgeberverband an einem Strang ziehen und über so viel Autorität verfügen, dass sie einzelne Unternehmen, die aus dem Verbandskonsens ausscheren, zur Ordnung rufen können.

Auf die Frage, ob es denn bei der IG BCE betriebswirtschaftliche Checklisten gibt, nach denen die Anträge der Unternehmen abgearbeitet werden, schaut Werner Bischoff erst verdutzt und dann sagt er: "Wir entscheiden tarifpolitisch, diese Öffnungsklauseln sind in unserer Tarifsystematik verankert." Das heißt: Sie sind kein Notfall, kein Ausrutscher, und schon gar keine Lebenslüge, die man am besten verschweigt.

Öffnungsklauseln sind bei der IG BCE Teil ihrer regulären Tarifpolitik; sie sind ein befristetes Ausscheren, um wieder beim Flächentarif anzukommen; und sie sind Mittel zum Zweck, um nach wie vor Löhne und Arbeitsbedingungen unter dem großen Dach des Flächentarifs verbindlich zu regeln - zum Vorteil der Arbeitnehmer. Der Chemiegewerkschaft und ihrem Pendant, dem Bundesarbeitgeberverband Chemie (BAVC), scheint dieser Spagat der kontrollierten Dezentralisierung bis heute zu gelingen.

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