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Magazin Mitbestimmung

Von KAY MEINERS: Hausbesetzer-Hymne

Ausgabe 10/2016

Das politische Lied Anfang der 1970er Jahre formiert sich in West-Berlin eine musikalisch und politisch kompromisslose Band.

Von KAY MEINERS

Jung, revolutionär – und nach dem ersten Fernsehauftritt ein Bürgerschreck.  Das ist die Politrock-Band Ton Steine Scherben, die 1970 in West-Berlin gegründet wird. Die Mitglieder der „Scherben“ sind alle um die 20. Und sie haben mit Rio Reiser einen begnadeten Komponisten und einen idealen Frontmann in ihren Reihen.Es gibt keine frechere Stimme in Berlin.

Rio Reiser, bürgerlich Ralph Christian Möbius, will eine Art neuer Volksmusik zu schaffen, die eine proletarische Jugend anspricht: Lehrlinge, Schüler, Studenten. Seine Lieder heißen „Ich will nicht werden, was mein Alter ist“ oder „Die letzte Schlacht gewinnen wir“. Mit solchen Texten wird die Band identitätsstiftend für anarchistische und linksradikale Kreise.

Am 8. Dezember 1971 besetzt die Band mit Publikum nach einem Auftritt an der TU Berlin ein Gebäude des ehemaligen  Bethanien-Krankenhauses in Kreuzberg,  direkt an der Berliner Mauer. Der Betrieb in dem Mitte des 19. Jahrhunderts errichteten Komplex ist kurz vorher geschlossen worden. Die neuen Bewohner benennen ihr Heim nach Georg von Rauch, einem Anarchisten, der vier Tage vorher bei einem Schusswechsel mit der Polizei umgekommen ist. Es gibt bald einen vorläufigen Nutzungsvertrag. Doch am 19. April 1972 wird das Haus gewaltsam von der Polizei geräumt.

Das ist der Anlass, aus dem Reiser den Rauch Haus Song schreibt. „Der Mariannenplatz war blau, soviel Bullen waren da (…).“ … beginnt das Lied, das auf dem Albums „Keine Macht für Niemand“ veröffentlicht wird. Am bekanntesten wird aber der Refrain „Und wir schreien’s laut: Ihr kriegt uns hier nicht raus! Das ist unser Haus, schmeißt doch erstmal Schmidt und Press und Mosch aus Kreuzberg raus!“ Schmidt, Press und Mosch sind damals in Berlin berüchtigte Immobilienspekulanten. Der Senat legalisiert Bethanien später als Modellprojekt.

Der WDR dreht unter dem Titel „Das ist unser Haus“ einen Dokumentarfilm. Der Film ist ein faszinierendes Zeitdokument. Er zeigt, mit wie viel Idealismus in Bethanien gelebt wird, aber auch wie Machtkämpfe im Haus entbrennen, wie Berliner Arbeiter die Hausbesetzer scharf kritisieren und wie Bewohner beschuldigt werden, sich unsolidarisch zu verhalten. Auch Rio Reiser sehen wir, wie er den Rauch Haus Song intoniert, vor aufgeputschten Zuhörern, die mitsingen und mitklatschen. Das Lied ist ihr Lied. Es ist zur Hymne der Hausbesetzer geworden.

Foto: Ullstein

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