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Magazin Mitbestimmung

: Handfeste Grundlagen für die Betriebspolitik

Ausgabe 03/2012

FORSCHUNG Die Entgelt-Rahmenabkommen (ERA) in der Metall- und Elektroindustrie gelten als Meilenstein der Tarifpolitik. Die Bilanz der Begleitforschung zeigt, dass wesentliche Ziele erreicht wurden. Und identifiziert künftige betriebspolitische Handlungsfelder. Von Sebastian Brandl

SEBASTIAN BRANDL ist Professor für Soziologie an der Hochschule der Bundesagentur für Arbeit; bis 2010 Referatsleiter in der Forschungsförderung der Hans-Böckler-Stiftung und zuständig für die ERA-Begleitforschung

Gut 30 Jahre hat es gedauert, die Aufteilung in Arbeiter und Angestellte in der Metall- und Elektroindustrie zu überwinden – von den ersten Gewerkschaftsforderungen Ende der 70er Jahre bis zur Umsetzung der Entgeltrahmenabkommen in jedem einzelnen Betrieb. Zwischen 2003 und 2005 wurden in den Tarifbezirken die neuen Rahmentarifverträge vereinbart, anschließend folgte die Umsetzung in den Unternehmen – in einer Zeit, die von Verteilungskonflikten und der Auseinandersetzung um die Zukunft des Flächentarifvertrags geprägt war. Die ERA-Umsetzung war damit nicht risikofrei für die IG Metall und die Betriebsräte. Die Ambivalenzen spiegeln sich in den Ergebnissen der von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten wissenschaftlichen Begleitforschung wider.

HARTER WEG ZUM ERFOLG_ Das zentrale Ergebnis der Begleitforschung lautet, dass der Flächentarifvertrag wie schon lange nicht mehr die betriebliche Eingruppierung und Entlohnung prägt – in den meisten tarifgebundenen Betrieben stellen die ERA-Tarifverträge nun wieder den geltenden Bewertungs- und Entgeltmaßstab dar. Auch die Einebnung der überholten Status- und Bewertungsunterschiede zwischen Arbeitern und Angestellten – und damit die statusunabhängige Gleichbehandlung aller Beschäftigten – ist gelungen. Die Bewertungs- und Eingruppierungssystematiken der Arbeitsplätze wurden modernisiert und den veränderten Arbeitsanforderungen und Leistungsbedingungen angepasst. Damit wurden wesentliche Ziele der Tarifreform erreicht. Doch dieser Weg war nicht ohne Hürden und harte Auseinandersetzungen in den Betrieben.

Entgegen entsprechender Vereinbarungen auf Kostenneutralität versuchten viele Arbeitgeber, den ERA-Prozess zu nutzen, ihre Personalkosten zu senken. Zugespitzt zeigte sich das im Tarifgebiet Baden-Württemberg. Hier wollte der Arbeitgeberverband den ERA-Flächentarifvertrag dazu nutzen, seine Verbandsfunktion gegenüber nach oben abweichenden betrieblichen Entgelten in Stellung zu bringen. Mit einer offensiven Politik der Rückführung betrieblicher Entgelte auf Tarifnormen hat Südwestmetall die Debatte um zu hohe Tarifabschlüsse gegenüber seinen Mitgliedern verkehrt: Nicht die Tarifnormen, sondern die betriebliche Lohndrift wurde als Ursache der als zu hoch eingestuften Löhne benannt.

Auch wenn Südwestmetall dies nicht konsequent durchhielt, zeigte es, dass Flächentarifverträge situativ zum Instrument der Arbeitgeber werden können. Letztlich hat aber das Verhalten der Arbeitgeberverbände, auch in den anderen Tarifbezirken, zur Stabilisierung des Flächentarifs beigetragen. Freilich führte dieser Prozess zu einer immer stärkeren Betonung der aus ERA eigentlich ausgeklammerten Verteilungsauseinandersetzung, während Gerechtigkeitsfragen in den Hintergrund traten.

GELEGENHEITSFENSTER FÜR KRITIK_ Dies spiegelt sich in den Einschätzungen der Beschäftigten in Baden-Württemberg, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen. Sie interpretieren ERA nicht primär als Gerechtigkeitsprojekt. Materielle Aspekte und Anerkennungsfragen sind für sie maßgeblich. Komplexität und Intransparenz, die hohen Erwartungen an ein gerechtes Entgeltsystem sowie die hohe Zahl an sogenannten Überschreitern – Beschäftigte, die vor ERA höher eingruppiert waren – führten zu teils heftiger Kritik.

Der mit den Über- und Unterschreitern verknüpfte Befund liegt in der Anerkennungsproblematik. Viele Beschäftigte fühlen ihre Leistungen bisher unzureichend gewürdigt – und zwar unabhängig davon, ob sie vor ERA als Überschreiter „zu hoch“ eingruppiert waren oder ob ihnen als Unterschreiter Entgelt und Status „vorenthalten“ wurden. Der strikte Anforderungsbezug förderte dieses Gefühl der Nichtanerkennung von (Lebens-)Leistung und Loyalität. Diese Aspekte waren im Vorfeld von Tarif- und Betriebsakteuren auf beiden Seiten unterschätzt worden.

Doch haben Kritik und Unzufriedenheit nicht zu einer Abkehr von der Gewerkschaft oder den Betriebsräten geführt. Betriebsräte schneiden in der Einschätzung durch die Beschäftigten im Vergleich deutlich besser ab – insbesondere dann, wenn es ihnen gelang, materielle Erfolge für die Beschäftigten zu erzielen und diese am Einführungsprozess zu beteiligen. Nicht so gut wird die Betriebsräte wird die IG Metall, doch deutlich schlechter wird das Management eingeschätzt.

Auch die Einschätzung von ERA durch die Betriebsräte wird von der materiellen Seite und der sozialen Anerkennung bestimmt. Wie die Beschäftigten schätzen sie ihre eigene Rolle im Einführungsprozess besser ein, wenn es ihnen gelang, Entgelte zu sichern. Zudem ist für sie der Ablauf der betrieblichen Einführung relevant. Ließ der Arbeitgeber einen beteiligungsorientierten Prozess zu, erhielten sie mehr Einflussmöglichkeiten und Anerkennung. Doch das war nicht überall so. Viele Betriebsräte erklärten sogar, das Betriebsklima habe sich mit ERA verschlechtert.

Die geäußerte Kritik kann aber nicht pauschal dem neuen Tarifwerk zugeschrieben werden. Vielmehr eröffnete die betriebliche ERA-Umsetzung den Beschäftigten ein Gelegenheitsfenster, virulente Probleme und Unzufriedenheiten im Betrieb zu thematisieren.

KÜNFTIGE AUFGABEN_ ERA hinterlässt somit Chancen und Aufgabenfelder für die zukünftige Betriebspolitik. Hierbei spielen zwei Erfahrungen des Umsetzungsprozesses eine wichtige Rolle: Zum einen erwies sich eine beteiligungsorientierte Umsetzung als die erfolgreichere Strategie. Zum anderen gewannen die Betriebsräte erheblich an Entgelt- und Konfliktkompetenz.

Betriebsräte und IG Metall konnten mit einer offensiven, beteiligungsorientierten Politik punkten. Während die Beschäftigten oft ERA nutzten, um ihre Unzufriedenheit zu artikulieren, versuchten Arbeitgeberverbände und Betriebe, Lohnkosten zu senken. Auf diese unerwarteten Herausforderungen reagierten die IG Metall und viele Betriebsräte mit einem Strategiewechsel. Eine eher normenkonforme Umsetzungsorientierung wich ihrer Politisierung.

Es ging nicht mehr um den Wortlaut des Tarifvertrags, sondern darum, mit den Beschäftigten den Konflikt um die Eingruppierung erfolgreich zu bewältigen. Nicht in allen Betrieben gelang es, zwischen aufgestauten Unzufriedenheiten, den ERA-Regelungen und den davon abweichenden Arbeitgeberansinnen zu differenzieren. Insgesamt aber erwies sich die Abkehr von der Stellvertreterpolitik hin zu Mitgliedermobilisierung als der erfolgreiche Weg.

Diese Politisierung erweiterte und verstärkte den Kompetenzgewinn der Betriebsräte in Eingruppierungs- und Beteiligungsfragen. Aus der Notwendigkeit, alle bestehenden Arbeitsplätze in der Metall- und Elektroindustrie neu zu bewerten, erwuchs eine enorme Anforderung. Die neuen Kompetenzen können dabei helfen, ERA in den kommenden Jahren betriebspolitisch zu vertiefen.

ENTGELTGLEICHHEIT UND LEISTUNGSPOLITIK_ Hierzu gehören die im Umsetzungsprozess kaum bearbeitete Entgeltgleichheit zwischen Frauen und Männern und die Leistungspolitik. Die schiere Menge an Anforderungen im Neueingruppierungsprozess und die geschilderten Auseinandersetzungen vereinnahmten die Verantwortlichen und verlagerten die Bearbeitung dieser Themenfelder in die Zukunft. Für beide Bereiche stellen die ERA-Tarifverträge jetzt allerdings eine verbesserte Handhabe für Betriebsräte bereit.

Insbesondere die ganzheitliche Berücksichtigung aller Anforderungen, die für eine Tätigkeit prägend sind, ermöglicht es, die Einkommensdifferenzen zwischen Frauen und Männern anzugehen. Um die abstrakten Definitionen betrieblich ausfüllen zu können, bedarf es jedoch eines Bewusstseins für Entgeltungleichheit und geschlechterbezogene Strukturdaten. Ferner ist die Sensibilisierung und Beteiligung der Betroffenen notwendig. ERA kann in dieser Hinsicht nicht als abgeschlossen gelten.

Auch die Hoffnungen, mit ERA den Einstieg in die Leistungsgestaltung bei Angestellten zu erreichen, waren hoch. Schließlich bieten die ERA-Tarifverträge hierfür erstmals Mitbestimmungsrechte für die Betriebsräte. Doch wurden diese Erwartungen im Einführungsprozess letztlich nicht erfüllt. Es fehlte an den notwendigen Kompetenzen und an Zeit. Im Bereich der Leistungspolitik waren die Erwartungen wohl auch zu hoch, wenn von einer einfachen Übertragung aus dem Arbeiterbereich ausgegangen wurde. Auch dort war Leistungspolitik schließlich kein einmaliger tariftechnischer Vorgang.

Die Untersuchungen verdeutlichen hingegen, dass die Rationalisierung im Angestelltenbereich zu einer systematischen Überlastung der Beschäftigten geführt hat. Die oft zu hohen Ziele und die Offenheit der Zielerreichung werden den Angestellten überantwortet, und deren Ausfüllung bleibt oftmals unsichtbar gegenüber Vorgesetzten. Alleine der ERA-Einführung die Lösung dieser Probleme zu überantworten würde zu kurz greifen. Aber ERA hat die Voraussetzungen für den Umgang mit diesen Problemen geschaffen.

Um die Möglichkeiten zu nutzen, bedarf es der im ERA-Einführungsprozess anfänglich nicht vorhandenen Kapazitäten und Kompetenzen auf Betriebsratsseite. Zentral zu klären ist, was „Leistung“ ist und was geeignete Methoden sind, Leistung im Angestelltenkontext zu steuern. Zielvereinbarungen sind diesbezüglich umstritten, gelten sie in der Regel doch als Instrumente zur Dynamisierung und nicht zur Begrenzung von Leistung. Antworten auf diese Fragen zu finden erfordert eine Abkehr von reiner Stellvertreterpolitik und den aktiven Einbezug der Angestellten. Betriebsräte müssen eher deren individuellen Handlungsrahmen im Austausch mit dieser Beschäftigtengruppe stärken und absichern.

POTENZIALE IM BETRIEB_ Mit der betrieblichen ERA-Einführung und dem Abschluss der Begleitforschung ist der ERA-Prozess nicht beendet. Die Verbesserung der Durchlässigkeit zwischen Arbeiter- und Angestelltentätigkeiten, Entgeltgleichheitsfragen, Leistungspolitik und die Beteiligungsorientierung sind betrieblich weiter auszufüllen. Die Forschungsergebnisse verdeutlichen, welche Potenziale und Handlungsressourcen im Umsetzungsprozess entstanden sind.

In dieser Hinsicht können die Ergebnisse der ERA-Einführung und mithin der Begleitforschung nur eine Zwischenbilanz sein. Ob die Interessenvertretungen und die Betriebe die mit dem Einführungsprozess und der Begleitforschung offenkundig gewordenen Chancen aufgreifen, wird sich zeigen. Nicht nur wissenschaftlich wäre es gewinnbringend, den längerfristigen ERA-Effekten in vertiefenden Untersuchungen nachzugehen.

Die Kritik der Beschäftigten an der Umstellung auf ERA kann nicht pauschal dem neuen Tarifwerk zugeschrieben werden. Der Prozess bot ein Gelegenheitsfenster, Probleme im Unternehmen und Unzufriedenheit mit der Arbeit zu thematisieren.

DIE FORSCHUNGSPROJEKTE

Gefördert durch die Hans-Böckler-Stiftung gingen fünf Forschungsprojekte regionalen Differenzen und ausgewählten Aspekten der ERA-Umsetzung auf betrieblicher Ebene nach. Einzelbände und ein vor Kurzem erschienener Sammelband (Brandl/Wagner) geben Einblick in Intentionen, Abläufe, Ergebnisse und Schlussfolgerungen des Umsetzungsprozesses. Alle Bände sind in der edition sigma, Berlin, erschienen:

Reinhard Bahnmüller/Werner Schmidt: Riskante Modernisierung des Tarifsystems. Die Reform der Entgeltrahmenabkommen am Beispiel der Metall- und Elektroindustrie Baden-Württembergs. 2009

Gerd Bender/Gerd Möll: Kontroversen um die Arbeitsbewertung. Die ERA-Umsetzung zwischen Flächentarifvertrag und betrieblichen Handlungskonstellationen. 2009

Sebastian Brandl/Hilde Wagner (Hrsg.): Ein „Meilenstein der Tarifpolitik“ wird besichtigt. Die Entgeltrahmentarifverträge in der Metall- und Elektroindustrie: Erfahrungen – Resultate – Auseinandersetzungen. 2011

Andrea Jochmann-Döll/Edeltraud Ranftl: Impulse für die Entgeltgleichheit. Die ERA und ihre betriebliche Umsetzung auf dem gleichstellungspolitischen Prüfstand. 2010

Nick Kratzer/Sarah Nies: NEUE LEISTUNGSPOLITIK BEI ANGESTELLTEN. ERA, Leistungssteuerung, Leistungsentgelt. 2009

Martin Kuhlmann/Hans Joachim Sperling: Die Umsetzung des neuen Entgeltrahmentarifvertrags in Niedersachsen. 2012, im Erscheinen

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