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Magazin Mitbestimmung

: Hallo Pizza, ist das fair?

Ausgabe 07+08/2011

ALLGEMEINVERBINDLICHE TARIFVERTRÄGE Die Gewerkschaft NGG und der Arbeitgeberverband DEHOGA hatten die beiden untersten Lohngruppen in der Gastronomiebranche in NRW für allgemeinverbindlich erklären lassen. Aber selbst ein Stundenlohn von 6,50 Euro war einem Pizzadienst-Betreiber zu viel. Er klagte dagegen. Jetzt ist auch der Gesetzgeber gefragt. Von Karin Flothmann

Karin Flothmann ist Journalistin in Berlin/Foto: Ulrich Baatz

Die Gegner eines Tariflohns frohlockten im Internet: „Ein Franchisenehmer macht sich für die Branche verdient!“, schrieben sie in holprigem Deutsch im ­Business-Netzwerk Xing, „er gewinnt vor dem Verwaltungsgericht in Nordrhein-Westfalen.“ Gewonnen hatte ein Betreiber von „Hallo Pizza“, einem Pizzalieferservice in Moers bei Duisburg. Geklagt hatte dieser Unternehmer dagegen, dass die untersten beiden Lohngruppen des Tarifs im Hotel- und Gaststättengewerbe für allgemein verbindlich erklärt worden waren. Damit hätte er seinen Lieferanten, die als ungelernte Aushilfskräfte beschäftigt sind, rund 6,30 Euro pro Stunde zahlen müssen. Denn das sieht der Tarif von 2008, den die Gewerkschaft NGG und der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband (DEHOGA) ausgehandelt hatten, für die unterste Entgeltgruppe vor. DEHOGA und NGG hatten beantragt, dass dieser Tarif vom Arbeitsminister des Landes für allgemein verbindlich erklärt wird. Damit galt er seit September 2008 auch für Arbeitgeber, die nicht dem Arbeitgeberverband ­DEHOGA angehörten.

Das war nur bis Dezember 2008 der Fall. Dann verklagte „Hallo Pizza“ das Land NRW. Und bekam im November 2010 recht. Das Verwaltungsgericht Düsseldorf argumentierte damals mit Zahlen. Denn ein ausgehandelter Tarifvertrag muss für mindestens 50 Prozent der Beschäftigten einer Branche Gültigkeit haben, bevor er für allgemein verbindlich erklärt werden kann. Das Gericht zog Daten des Statistischen Jahrbuches von 2009 heran. Und befand – anhand von Zahlen, die bei Abschluss der allgemeinen Verbindlichkeit noch gar nicht vorlagen –, insgesamt würden 243 319 Menschen in der Hotel- und Gaststättenbranche von NRW arbeiten, davon seien aber nur 121 288 bei tarifgebundenen Arbeitgebern beschäftigt. Das seien im Ergebnis weniger als 50 Prozent.

„Wir sehen das nach wie vor anders“, sagt Landesschlichter Bernhard Pollmeyer. „Die Zahlen, auf die wir uns bei der Allgemeinverbindlicherklärung beziehen, sind richtig.“ Pollmeyer sitzt dem Tarifausschuss vor, in dem je drei Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertreter über die von den Sozialpartnern eingereichten Anträge auf Allgemeinverbindlichkeit verhandeln und ein Votum abgeben müssen. „Wir haben Berufung gegen das Verwaltungsgerichtsurteil eingelegt, weil wir davon ausgehen, dass die von uns zugrunde gelegten Zahlen das Quorum von 50 Prozent erreichen“, sagt Pollmeyer heute. Wann und wie das Oberverwaltungsgericht in Münster den Fall entscheiden wird, ist jedoch ungewiss. Klaus Hübenthal, Hauptgeschäftsführer des DEHOGA NRW, ist zuversichtlich: „Ich sehe der Berufung optimistisch entgegen, genau wie die beklagte Landesregierung“, sagt er. Und er ist davon überzeugt: „Das Urteil wird rechtshistorische Bedeutung haben.“

Weil zum ersten Mal in NRW über Lohnhöhen entschieden wird – und über den sogenannten Phantomlohn. Denn mittlerweile ist der zugrunde liegende Tarifvertrag 2010 durch einen Nachfolgetarifvertrag zwischen NGG und DEHOGA abgelöst worden. Er sieht für die niedrigste Lohngruppe einen Stundenlohn in Höhe von rund 6,60 Euro vor. Doch alle Beschäftigten, die in Betrieben arbeiten, die nicht im Arbeitgeberverband organisiert und damit nicht tarifgebunden sind, profitieren davon nicht. Im Gegenteil. „Ihre Löhne liegen oft bei gerade einmal fünf Euro pro Stunde“, weiß Sabine Alker, Landesbezirkssekretärin bei der NGG in NRW.

Zwischen 2006 und 2008 war das anders. Der damalige Tarifvertrag zwischen NGG und DEHOGA war ebenfalls für allgemein verbindlich erklärt worden. Zumindest auf dem Papier hatten Aushilfskellner oder Küchenhilfen damals zwei Jahre lang Anspruch auf etwas höheren Lohn. In manchen Fällen wurden trotzdem nur fünf Euro pro Stunde gezahlt. Und manchmal kamen die Sozialversicherungsträger dem auf die Schliche. Sie verglichen Reallohn und Arbeitszeit miteinander, legten den Lohn der Allgemeinverbind­licherklärung zur Berechnung der Sozialversicherungsbeiträge zugrunde – also einen Phantomlohn – und forderten von den jeweiligen Arbeitgebern entsprechend höhere Zahlungen ein. Den Beschäftigten stand damals ein höherer Lohn zu, auch wenn sie andere Verträge unterschrieben hatten. Der sogenannte Phantomlohn ist ebenfalls in mehreren Gerichtsverfahren anhängig. Und diese bisher ausgesetzten Verfahren warten noch auf ihren Abschluss. Auch für diese Fälle, so vermutet der DEHOGA-Hauptgeschäftsführer Hübenthal, wird das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Münster rechtshistorische Bedeutung erlangen.

Landesschlichter Pollmeyer geht davon aus, dass für die Allgemeinverbindlicherklärung von NGG und DEHOGA ein „gesteigertes öffentliches Interesse“ gegeben ist. „‚Hallo Pizza‘ hat im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht selbst gesagt: ‚Wir zahlen nur 5,50 Euro, mehr können wir nicht ausgeben‘“, merkt er an. „Da muss ich doch ein gesteigertes öffentliches Interesse annehmen. Immerhin kann niemand von 5,50 Euro Stundenlohn leben. Und das heißt, der Staat muss mit ergänzenden Sozialleistungen einspringen.“ Außerdem habe im Gastronomiebereich die geringfügige Beschäftigung enorm zugenommen.

Sabine Alker von der NGG kann das nur bestätigen. „Die Gastronomiebranche ist eine der wettbewerbsintensivsten Branchen überhaupt“, sagt sie. Gleichzeitig ist die Branche sehr weit gefasst. Sie reicht vom Ausflugslokal über die Imbissbude mit Sitzgelegenheiten bis hin zum Fünf-Sterne-Restaurant. „Wer ein eigenes Restaurant eröffnen will“, so Alker, „braucht rund eine halbe Million Euro Startkapital.“ Ob sich diese Investition lohnt, stellt sich erst nach einiger Zeit heraus. Zehn Prozent der Restaurant-Neugründungen scheitern. Und bei rund einem Viertel aller Gaststätten wechselt jährlich der Inhaber.

Zweitgrößter Wirtschaftszweig_ Gleichzeitig herrschen harte Arbeitsbedingungen. „Eine 70-Stunden-Woche ist da nicht unüblich“, weiß Alker. Die meisten Restaurants und Gaststätten beschäftigen ihren Angaben zufolge etwa drei Personen. Darunter sind viele helfende Familienangehörige und viele Studentinnen und Studenten. „Dennoch ist der Hotel- und Gaststättenbereich von der Beschäftigtenzahl her der zweitgrößte Wirtschaftszweig in NRW.“ Ein Grund mehr, vernünftige Löhne auch für die niedrigsten Entgeltgruppen durchzusetzen.

Der DEHOGA ist da aufgeschlossen. „Die Allgemeinverbindlicherklärung ist ein altes Instrument des Tarifrechtes und kann in bestimmten Situationen für alle Beteiligten eine wichtige Leitplanke im Arbeitsmarktgeschehen sein“, sagt DEHOGA-Hauptgeschäftsführer Klaus Hübenthal. DEHOGA und NGG seien bei ihren Verhandlungen „sozusagen bei der ‚reinen Lehre‘, also bei Mindestarbeitsbedingungen geblieben“, wenn sie Tarife allgemein verbindlich erklärt hätten. „Wir berücksichtigen in unseren Abschlüssen die große Spannbreite von Betriebstypologien und -größen und die regionalen Marktverhältnisse in dem großen Flächenland Nordrhein-Westfalen.“ Gleichzeitig sieht Hübenthal gesetzlichen Handlungsbedarf. „Das Tarifvertragsgesetz hat zu Beginn der 50er Jahre das Quorum für eine Allgemeinverbindlicherklärung auf 50 Prozent festgelegt.“ Sprich: Erst wenn die tarifgebundenen Arbeitgeber 50 Prozent der Beschäftigten repräsentieren, kann eine Allgemeinverbindlicherklärung wirksam werden. „Seit den 50er Jahren hat sich die Arbeitswelt aber dramatisch verändert“, sagt Hübenthal. „Die klassische Vollzeitbeschäftigung hat nachgelassen. Teilzeitbeschäftigungen und geringfügige Beschäftigungen haben massiv zugenommen.“ Daher sei es in einigen Branchen immer schwerer geworden, das Quorum zu erreichen. „Es kommt nämlich nach dem Gesetz nicht darauf an, ob über die tarifgebundenen Unternehmen das erforderliche Beschäftigungsvolumen abgedeckt wird. Allein die Köpfe werden gezählt – auch die der geringfügig Beschäftigten und die der Schüler und Studenten.“ Auf diese Weise werden die Zahlen, die zur Erreichung des Quorums herangezogen werden, fast zur Farce.

Hübenthal plädiert daher für eine Gesetzesänderung. „Eine Anpassung durch Reduzierung der Beschäftigungsquote nach Köpfen oder die Umstellung auf Beschäftigungsvolumen wie bei den Berufsgenossenschaften ist dringend geboten.“ Andere finden, das Quorum sollte gesenkt werden. So legte die Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen Anfang des Jahres einen Antrag vor, in dem sie fordert, das Quorum solle auf 40 Prozent gesenkt werden.

Für Hübenthal sind tarifliche Mindestlöhne, wie sie über eine Allgemeinverbindlicherklärung festgelegt werden, ein handhabbares Instrument für die Tarifparteien. Gleichzeitig ist er strikt gegen einen gesetzlichen Mindestlohn. „Ist der zu hoch, vernichtet er Arbeitsplätze, ist er zu tief, bleibt er wirkungslos“, meint er. Und er fügt hinzu: „Wer kann die Möglichkeiten und Notwendigkeiten einer Branche besser bewerten als die Tarifvertragsparteien?“ Sabine Alker von der NGG kann dem letzten Satz zustimmen. Doch beim Mindestlohn ist sie vom Gegenteil überzeugt. „Für uns ist die Allgemeinverbindlicherklärung nur eine Hilfskrücke, um wenigstens im untersten Lohnsegment angemessene Löhne zu zahlen. Grundsätzlich wollen wir den gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro!“

ALLGEMEINVERBINDLICHKEIT

„Bei uns ist das sehr verbreitet“

„Die Allgemeinverbindlicherklärungen bringen Stabilität in das Gefüge der Tarifparteien“, sagt Maurice Rojer von der niederländischen Arbeitgeberorganisation AWVN, die 850 Unternehmen vertritt.

In den Niederlanden gehören sie sie zum alltäglichen Geschäft. „Drei Viertel unserer Tarife sind allgemein verbindlich für die ganze Branche gültig”, erläutert Maurice Rojer von der niederländischen Arbeitgeber­organisa­tion AWVN, die rund 850 Unternehmen vertritt. „Die Branchen, die wir vertreten, kommen aus der Industrie, dem Dienstleistungssektor und aus der Welt von Hafen, Transport und Logistik“, sagt Rojer. Und in all diesen Branchen existieren auch allgemein verbindlich erklärte Tarife, die zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften ausgehandelt und vom Ministerium für Arbeit in Kraft gesetzt wurden.

In den Niederlanden trat das Gesetz über die Allgemeinverbindlicherklärung bereits 1937 in Kraft. Wie in Deutschland findet ein Tarifvertrag, der für allgemein verbindlich erklärt wird, für alle Arbeitnehmer einer Branche Anwendung, egal ob die Arbeitgeber einem Verband angehören oder nicht. „Unsere Allgemeinverbindlicherklärungen sind ein sehr verbreitetes Instrument vor allem in kleinen und mittleren Unternehmen“, erklärt Rojer. Vorausssetzungen, dass ein Tarif verbindlich für alle Arbeitgeber wird sind: Der zugrunde liegende Tarifvertrag muss für eine „bedeutende Mehrheit“ der in der Branche Beschäftigten schon gelten. In der Regel sollte er für rund 55 Prozent Anwendung finden, erklärt Rojer. Sind die Arbeitgeber mit einem für allgemein verbindlich erklärten Tarifvertrag nicht einverstanden, so können sie beim Arbeitsministerium Einspruch erheben. Es bleibt dem Minister überlassen, ob er auf diesen Protest eingeht oder nicht. Dagegen gibt es nicht die Möglichkeit, zur Klage. Anders als in Deutschland existiert in den Niederlanden außerdem schon seit den 60er Jahren ein gesetzlicher Mindestlohn. Seit dem 1. Juli 2011 beträgt er 1435 Euro pro Monat, also rund 8,80 Euro Stundenlohn. „Die Tariflöhne, die allgemein verbindlich festgelegt werden, liegen meist über dem Mindestlohn“, erläutert Rojer. Das heiße jedoch nicht, dass das System „unweigerlich zu immer höheren Löhnen“ führe. „Allgemein verbindlich erklärte Tarife sind bei uns kein Monopoly!“, betont Rojer. Nein, die Gewerkschaften in den Niederlanden seien da sehr vernünftig. Allgemein verbindlich erklärte Tarife seien, die „Grundlinie des Tarifsystems“. Und mit dem sind sowohl Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer in der Regel zufrieden, ist Rojer überzeugt. „Die Allgemeinverbindlicherklärungen bringen Stabilität in das Gefüge der Tarifparteien.“ Dem Arbeitgebervertreter der AWVN ist an einem guten Verhältnis zu den Gewerkschaften gelegen: „Wir investieren mit diesen allgemein verbindlichen Tarifen in die guten und stabilen Beziehungen zu den Gewerkschaften.“ Und ganz nebenbei verhelfen diese Tarife den Arbeitgebern außerdem dazu, Billiganbieter und Schmutzkonkurrenten in ihre Schranken zu verweisen.

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