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Magazin Mitbestimmung

: Halb so wild

Ausgabe 05/2008

AUSLAND Die Gewerkschaften in Mittel- und Osteuropa sind für die Herausforderungen der Globalisierung unterschiedlich gewappnet. Eine Bestandsaufnahme in Rumänien, Polen und Slowenien.

Von HERIBERT KOHL, Publizist und Berater

Die Ankündigung des Handy-Herstellers Nokia, seine Bochumer Produktion binnen kurzem nach Rumänien zu verlegen, traf die Belegschaft und die deutsche Öffentlichkeit wie ein Schock. Warum nur, wo sich doch hier eine Erfolgsstory abzuspielen schien, und weshalb ausgerechnet Rumänien? Welche Anreize locken Nokia dorthin, wo nach Firmenaussagen zunächst einmal gut 60 Millionen Euro zu investieren sind?

Die staatlichen Investitionsanreize für diese Verlagerung scheinen weniger entscheidend zu sein, denn sie sind eher geringer als in anderen osteuropäischen Nachbarländern. Das neue Tigerland - so eine Studie des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bukarest - punktet vielmehr mit anderen Vorzügen: einem rasanten Wirtschaftswachstum und minimalen Arbeitskosten. Nokia will am neuen Standort Cluj (Klausenburg) 3500 Arbeitsplätze schaffen - weit mehr als zuvor im Bochumer Zweigwerk.

Als Absatzgebiete sind neben Rumänien und dem europäischen Markt auch der Nahe Osten und Afrika geplant. Mit Löhnen zwischen monatlich 200 und 300 Euro, wie von Nokia kalkuliert, erscheint diese EU-Region konkurrenzlos. Gleichwohl könnte die Gesamtkalkulation trotz eines extrem niedrigen Lohnkostenanteils in dieser Sparte am Ende nicht ganz aufgehen - wie oft bei Verlagerungsfällen, die von einigen Unbekannten abhängen.

DAS NEUE TIGERLAND_ Gewiss, der 2008 um fast ein Viertel auf knapp 150 Euro angehobene Mindestlohn ist vergleichsweise bescheiden. Aber daneben gibt es in Rumänien auch Tarifverträge, sowohl in praktisch allen Großunternehmen wie in den meisten Branchen - in Osteuropa sonst nicht gerade die Norm. In der Metall- und Elektro-branche betragen die Tarifabschlüsse gut das Dreifache des Mindestlohns. Bereits 15 Beschäftigte eines Betriebs können eine tariffähige Gewerkschaft gründen. Cartel Alfa als einer der größeren Gewerkschaftsbünde hat bereits damit begonnen, Mitglieder im neuen Nokia-Werk zu werben.

Ein einmal abgeschlossener Tarifvertrag gilt nach dem rumänischen Arbeitsgesetz automatisch für sämtliche Arbeitnehmer des Unternehmens oder der betroffenen Branche - also auch für Nichtmitglieder der vertragsschließenden Gewerkschaft. Diese müssen zum Ausgleich einen durch den nationalen Rahmentarifvertrag 2007-2010 erhöhten Anerkennungsbeitrag von jetzt 0,6 Prozent ihres Monatslohns an die Gewerkschaft leisten. Der Mindestlohn wuchs in den letzten Jahren rasanter als die ohnehin stark expandierenden Reallöhne.

Als Hürde für den von Nokia gewünschten Mehrschichtbetrieb erweisen sich die gesetzlich begrenzten Arbeitszeiten: Die EU-Höchstnorm von 48 Stunden pro Woche gilt auch in Rumänien. Überstundenzuschläge betragen generell 100 Prozent nach dem geltenden Rahmentarifvertrag, und mehr als zehn Überstunden pro Monat sind nicht zulässig. Nokia müsste daher Druck für eine Deregulierung machen oder Leiharbeiter einsetzen, soll das durch die Verlagerung erwartete Kalkül aufgehen.

Die Gewerkschaften sind in den rumänischen Betrieben vergleichsweise gut verankert - allerdings, wie überall, stärker in größeren als in neu gegründeten kleineren Unternehmen. Der Organisationsgrad ist mit landesweit rund 35 Prozent beachtlich - trotz eines überbordenden Verbandspluralismus von bisher fünf gewerkschaftlichen Dachverbänden plus einem Dutzend Arbeitgebervereinigungen auf nationaler Ebene. 2007 wurde die Fusion von drei Gewerkschaftsbünden zur Allianz ACSR eingeleitet. Daneben gibt es die christliche Cartel Alfa sowie eine weitere kleinere Gruppierung.

Sie alle sind Mitglieder im EGB. Auch der Dienstleistungsbereich hat neuerdings einen größeren Zusammenschluss ähnlich wie ver.di in Deutschland geschafft. Die bislang elf Arbeitgeberverbände sind ebenfalls dabei, sich in zwei übergreifenden Dachvereinigungen zusammenzuschließen. Der politische Einfluss der Sozialpartner dürfte von diesen Straffungen profitieren. Rumänien ist keineswegs ein Hort grenzenloser Freiheit, es ist nicht mehr der wilde Osten, von dem transnationale Unternehmen träumen. Doch wie sieht es in anderen osteuropäischen Ländern aus?

ZERSPLITTERTE GEWERKSCHAFTEN_ Polen, in den 80er und 90er Jahren Initiator des Aufbruchs in Osteuropa, ist mit seiner zerklüfteten Verbändelandschaft wie auch seinen sozialen Standards in manchem mit Rumänien vergleichbar. Als Folge ihrer politischen Polarisierung in der Wendephase sind die Gewerkschaften heute zersplitterter als vor zehn Jahren. Der Mindestlohn ist mit jetzt 311 Euro im Monat - nach einem Plus von über 20 Prozent gegenüber 2007 - doppelt so hoch wie in Rumänien, die Erhöhungen der Tarif- wie auch der Reallöhne fallen aber regelmäßig niedriger als die Produktivitätssteigerungen aus.

Viele Unternehmer zahlen "freiwillig" mehr als das tarifvertraglich vereinbarte Lohnplus, es herrscht damit eine positive Lohndrift. Dies wiederum macht den Beitritt zu einer Gewerkschaft nicht in dem notwendigen Maß attraktiv, um den permanenten Mitgliederschwund auf jetzt 14 Prozent aller Beschäftigten aufhalten zu können. Auch fällt die Präsenz der Gewerkschaften vor allem in den vielen neu gegründeten Klein- und Mittelbetrieben kaum ins Gewicht, eher in den privatisierten größeren wie auch den von ausländischen Investoren gehaltenen Unternehmen.

Zu einem Investment in Polen locken neben moderaten Gewerkschaften und einem deregulierten Arbeitsrecht erhebliche öffentliche Anreize. Dazu zählen unter anderem Steuernachlässe bis zu zehn Jahre, Subventionen für die Schaffung von Arbeitsplätzen in Höhe von 7000 Euro pro Person, staatliche Subventionen für Schulung und Umschulung sowie Investitionszuschüsse von 50 Prozent plus weiteren zehn bis 20 Prozentpunkte für kleinere und mittlere Unternehmen.

Polen ist nicht zuletzt aufgrund seiner tarifpolitischen Strukturen interessant für Unternehmen, die aus Kostengründen verlagern wollen. Es gibt praktisch keine Flächentarifverträge in der Privatwirtschaft, allenfalls Firmenverträge. Diese setzen immer eine Gewerkschaftsvertretung mit entsprechender Stärke voraus. Betriebsräte als Ersatz für eine fehlende gewerkschaftliche Interessenvertretung wurden zwar zur Umsetzung der EU-Richtlinie zur "Information und Konsultation" zum März dieses Jahres für Betriebe ab 50 Beschäftigten eingeführt.

Fast die Hälfte aller Arbeitnehmer in Polen, die in kleineren und mittleren Unternehmen tätig sind, bleibt damit aber von einer derartigen Belegschaftsvertretung ausgeschlossen. Betriebsräte als gewählte Repräsentanz neben einer vorhandenen oder sich erst nach dem Wahlakt bildenden Gewerkschaftsvertretung sind rechtlich nicht zulässig. Sie müssen ihre Tätigkeit in diesem Falle automatisch beenden. Diese Einschränkung war Voraussetzung für eine Kompromissfindung mit den Gewerkschaften, die sich den Regierungsplänen lange widersetzt hatten.

Was Polen ebenfalls mit Rumänien verbindet, ist die große Kluft zwischen Arm und Reich. Neben dem Kontingent der Mindestlohnbezieher gibt es hier wie dort Arbeitnehmergruppen mit sehr hohen Einkommen. 20 Prozent der Bevölkerung sind in beiden Ländern von Armut unmittelbar betroffen, deutlich mehr als im europäischen Durchschnitt, so der kürzlich erschienene 4. Kohäsionsbericht der EU. Voraussichtlich wird es weitere 15 Jahre dauern, bis beide Länder 75 Prozent des Pro-Kopf-Einkommens der EU 27 erreicht haben.

Für das katholisch geprägte Polen war die im Kontext der christlichen Soziallehre entwickelte Idee der sozialen Marktwirtschaft nie ein besonders zugkräftiges Thema. Ebenso wenig wie die Frage der uneingeschränkten Akzeptanz bestimmender Elemente des westeuropäisch geprägten EU-Sozialmodells, dessen Kernelement eine Koppelung von wirtschaftlicher Dynamik und sozialem Ausgleich ist.

LEUCHTTURM DES OSTENS_ Auch Slowenien, die vormals nördlichste Teil-republik Jugoslawiens, seit 1990 ein unabhängiger Staat, weist einen extremen Gewerkschaftspluralismus auf, der durch organisatorische Teilung entstanden ist. Mit ihrer anders gelagerten Vergangenheit des Selbstverwaltungssozialismus verfolgten die slowe-nischen Gewerkschaften jedoch einen anderen Kurs. Sanierung hatte hier immer Vorrang vor Privatisierung, nationale Sozialpakte federten die Umgestaltung ab.

Es klingt wie eine Erfolgs-story, was heute Stand der industriellen Beziehungen in Slowenien ist: Der gewerkschaftliche Organisationsgrad beträgt über 40 Prozent. Alle slowenischen Arbeitnehmer sind durch Branchentarifverträge abgedeckt. Und bereits 1993 wurden Betriebsräte mit starken Beteiligungsrechten eingeführt. Das Pro-Kopf-Einkommen liegt heute bei 93 Prozent des EU-Durchschnitts. Zudem gibt es einen Mindestlohn, dessen Niveau sich dem Spaniens annähert.

Ermöglicht wurde dies - ungeachtet der sieben als repräsentativ anerkannten Gewerkschaftsdachverbände - durch ein in wesentlichen Fragen koordiniertes Vorgehen der Arbeitnehmervertretungen sowie ein dichtes Netz industrieller Beziehungen auf den unterschiedlichsten Ebenen. Dazu gehören eine paritätische Arbeitnehmervertretung in Aufsichtsräten von Unternehmen über 1000 Beschäftigte sowie ein vom Betriebsrat vorzuschlagender Arbeitsdirektor ab einer Belegschaft von 500 Personen.

POSITIVER SOG MÖGLICH_ Was folgt aus diesem Ländervergleich für Westeuropa? Der gegenwärtige Verlagerungsdruck und damit die negative Sogwirkung auf unsere höheren Standards bei Löhnen und Arbeitszeiten können auf Dauer nur abgewendet werden, wenn gleichzeitig Erfolg versprechende Verteilungskämpfe in Osteuropa stattfinden. Das nach der EU-Erweiterung im Vergleich zu Westeuropa durchweg doppelt so hohe Wirtschaftswachstum im Osten könnte auch zum Motor einer expansiven Verteilungspolitik werden.

Dabei spielen auch die zunehmenden Engpässe auf den Arbeitsmärkten eine Rolle - als Folge massenhafter Abwanderungen wie auch des abrupten demografischen Wandels nach der Wende. Der Geburtenrückgang reißt erste spürbare Lücken in die Arbeitskräftebilanz. Die in jüngster Zeit steil anziehenden Raten der Mindestlöhne und effektiven Entgelte in Osteuropa sind auch eine Antwort auf diese neue Situation.

Eine europaweite Angleichung der Arbeits- und Lebensbedingungen wird zwar selbst unter günstigen Wachstumsbedingungen eine Zeit von mehreren Jahrzehnten in Anspruch nehmen - außer im Falle Sloweniens. Dem Karawanen-Kapitalismus, den der Fall Nokia jetzt wieder drastisch vor Augen führte, lässt sich effektiv aber nur durch verstärkte Kooperation aller europäischen Gewerkschaften begegnen.

Dazu gehören neben einer strategischen Abstimmung vor allem der Erfahrungsaustausch: über erfolgreiche Interessenvertretung im Betrieb, die Führung von Tarifverhandlungen und deren Verbesserung durch realitätsnahe Planspiele. Und nicht zuletzt die Organisation grenzüberschreitender Netzwerke und gewerkschaftlicher Aktionen, wie jüngst die Euro-Demo für mehr Kaufkraft und Lohngleichheit in Ljubljana.

Dass der EBR nicht im Vorfeld der Verlagerung von Nokia informiert und konsultiert wurde, verlangt als Reaktion mehr als die beim EuGH jetzt eingereichte Klage. Nur auf dem Weg der Umkehrung der sozialen Abwärtsspirale kann der Punkt näher rücken, wo die Unterschiede der Arbeitskosten nicht mehr als alleiniges Argument für den Standortwettbewerb innerhalb Europas herhalten können.


MEHR INFORMATIONEN

Heribert Kohl: WO STEHEN DIE GEWERKSCHAFTEN IN OST-EUROPA HEUTE? - ZWISCHENBILANZ NACH DER EU-ERWEITERUNG, FES-Kurzbericht Nr. 5, Bonn 2008

Europäische Stiftung für die Verbesserung der Lebens- und -Arbeitsbedingungen: Reports über die -Gewerkschaften ?in 14 osteuropäischen Ländern, Dublin 2007, www.eurofound.europa.eu/areas/industrialrelations/socialdialogue.htm

 

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