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Streikende Arbeiterinnen beim Neusser Autozulieferer Pierburg 1973 Magazin Mitbestimmung

Gelesen: Geschichte mit Zukunft

Ausgabe 04/2022

Im kollektiven Gedächtnis ist nur wenig Gewerkschaftsgeschichte gespeichert. Der Sammelband zeigt, welche Ressource für Interessenvertretung hier schlummert. Von Dirk Manten

Welche Symbole und Kampagnen der Gewerkschaften sind wirklich im kollektiven Gedächtnis der Bundesrepublik gespeichert? Das Plakat zur Kampagne „Samstags gehört Vati mir“? Die lachende 35-StundenSonne? Was wird erinnert aus über 150 Jahren Gewerkschaftsgeschichte? Zu wenig, finden die Autoren dieser Veröffentlichung aus der Reihe „Forschung aus der Hans-Böckler-Stiftung“. Ihre Diagnose: Die Erfolge der Gewerkschaften sind im öffentlichen Bewusstsein unterrepräsentiert.

Das ist nicht nur ein Problem der historischen Forschung. Gegenwart und Zukunft der Gewerkschaften werden auch durch Erinnerungskulturen geprägt. Im Vorwort fordern Stefan Berger, Wolfgang Jäger und Ulf Teichmann die Gewerkschaften daher dazu auf, sich „verstärkt an Errungenschaften und Erfolge im Feld der sozialen Demokratie (...) zu erinnern. Andernfalls würden soziale Rechte als gegeben und die Mitwirkung an der sozialen Verfassung der Gesellschaft entbehrlich erscheinen“.

Der Sammelband präsentiert die Ergebnisse der dreijährigen Arbeit der Expertenkommission „Erinnerungskulturen der sozialen Demokratie“, die der damalige DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann eingesetzt hatte. Unter „sozialer Demokratie“ versteht die Kommission dabei sowohl die ideengeschichtliche Verknüpfung von Freiheit, Gleichheit und sozialer Gerechtigkeit als auch die „soziale Bewegung, die diese Ideen umsetzen möchte“. Wie viele gesellschaftliche Felder die soziale Demokratie berührt, zeigen die verschiedenen Beiträge. Themen wie Sozialversicherung, Tarifverträge, Gleichheit, Mitbestimmung, Migration oder Gewerkschaften im National­sozialismus werden jeweils ausführlich untersucht.

In einem Beitrag beschäftigt sich der Historiker Wolfgang Jäger mit sozialer Demokratie in den Dauerausstellungen der historischen Museen, wie dem Deutschen Historischen Museum in Berlin oder dem Haus der Geschichte in Bonn. Ergebnis: Die Geschichte der abhängigen Arbeit und ihrer Organisationen findet sich in diesen Ausstellungen kaum. Im Zentrum steht vielmehr die „Meistererzählung der gelungenen politischen Demokratie“. Auch die Bedeutung der Gewerkschaften für Entstehung und Ausbau der Sozialversicherung in Deutschland wird in der politischen Öffentlichkeit, aber auch innergewerkschaftlich zu wenig gewürdigt, so der Sozialstaats-Experte Wilfried Rudloff.  Angesichts dieser Lücken empfiehlt die Kommission unter anderem, digitale Angebote zur Gewerkschaftsgeschichte auszubauen oder die Perspektive über den männlichen Facharbeiter hinaus auszuweiten: „Gewerkschaftliche Erinnerungskulturen schaffen Identifikationsmöglichkeiten, auch für potenzielle Mitglieder. Daher sollten die weibliche, migrantische, ostdeutsche und andere marginalisierte Perspektiven stärker berücksichtigt werden.“

In den Texten zeichnet sich Erinnerung an gewerkschaftliche Erfolge als Ressource ab, die im Kampf um gesellschaftliche Anerkennung und die Gewinnung neuer Mitglieder stärker genutzt werden kann. Arbeitszeitverkürzungen, Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall und die Demokratisierung der Arbeitswelt durch die Mitbestimmung zeigen, was auf dem Spiel steht.

Stefan Berger/Wolfgang Jäger/Ulf Teichmann (Hrsg.): Gewerkschaften im Gedächtnis der Demokratie. Welche Rolle spielen soziale Kämpfe in der Erinnerungskultur? Forschung aus der Hans-Böckler-Stiftung, Band 197. Bielefeld, Transcript-Verlag 2022. 654 Seiten, 45 Euro

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