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Magazin Mitbestimmung

: Forschung gegen Vorurteile

Ausgabe 07/2007

DEMOGRAFIE Die Forschungsförderung der Hans-Böckler-Stiftung revidiert verbreitete Mythen. So erhöhen altersgemischte Teams, oft als Ideal beschworen, nicht immer die Produktivität.


Von MATTHIAS HELMER. Der Autor arbeitet als Soziologe und freier Journalist in Göttingen.

"Firmen stellen wieder mehr Ältere ein". So oder ähnlich war es in jüngster Zeit häufiger in der Presse zu lesen. Vom allgemeinen Aufschwung auf dem Arbeitsmarkt - so die Botschaft - profitieren nicht nur junge Gutqualifizierte und die so genannten "marktnahen" Gruppen, sondern auch Personen, die älter als 50 Jahre sind. Passend dazu gab das Bundesarbeitsministerium bereits Anfang des Jahres die Erfolgsmeldung aus, dass im Zuge des Bundesprogramms "Perspektive 50plus - Beschäftigungspakte für Ältere in den Regionen" über 10?000 ältere Langzeitarbeitslose in Beschäftigung vermittelt worden seien, die Mehrheit davon in sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse. So erfreulich diese Zahlen sein mögen: Angesichts von über einer Million Arbeitslosen in der Altersgruppe über 50 sind sie nur ein Tropfen auf den heißen Stein.

MIT 50 KAUM NOCH EINE CHANCE_ Ungeachtet aller Erfolgsmeldungen haben Ältere nur unterdurchschnittlich am gegenwärtigen Jobaufschwung teil, insbesondere die Langzeitarbeitslosen. So konzedierte auch der Chef der Bundesagentur für Arbeit, Frank-Jürgen Weise, unlängst gegenüber der Frankfurter Rundschau: "Es gibt noch keine gute Antwort für das Thema Beschäftigung von Älteren." Wer das fünfzigste Lebensjahr überschritten hat, hat es schwer auf dem Arbeitsmarkt. Er ist zwar nicht unbedingt stärker von Kündigungen bedroht als die jüngeren Kollegen. Doch verliert jemand in diesem Alter seinen Job, sieht es düster aus - ein wichtiges Argument aller, die in der politischen Debatte die Rente mit 67 kritisieren, die stufenweise eingeführt werden soll.

Seit vielen Jahren liegt die Erwerbsquote Älterer in Deutschland unter dem europäischen Durchschnitt - nur 45 Prozent der Personen ab 55 Jahren waren im vergangenen Jahr erwerbstätig, im Vergleich zu rund 70 Prozent in den skandinavischen Ländern. Die schlechten Zahlen sind auch eine Folge der in Deutschland lange Zeit praktizierten Frühverrentungspolitik. Damit ist das Land noch ein gutes Stück von der Zielmarge der Europäischen Beschäftigungsstrategie aus dem Jahr 2000 entfernt. Sie sieht vor, vor dem Hintergrund des demografischen Wandels die Erwerbsbeteiligung der über 55-Jährigen mittelfristig auf 50 Prozent zu erhöhen. Wie können also die Arbeitsmarktchancen von Älteren verbessert werden? Was zeichnet diese Älteren eigentlich aus, wenn sich das so allgemein sagen lässt? Und wie wirken sich die rentenpolitischen Veränderungen der letzten Jahre konkret aus? Diesen Fragen sind mehrere Forschungsprojekte, gefördert von der Hans-Böckler-Stiftung, nachgegangen. Ihre Befunde präsentieren so manchen Aspekt der aktuellen Debatte in einem anderen Licht.

ERFORSCHUNG REGIONALER UNTERSCHIEDE_ Eine der Studien leitet Ernst Kistler am Internationalen Institut für empirische Sozialökonomie (INIFES) in Stadtbergen. Er ist ausgewiesener Experte auf seinem Gebiet, seit vielen Jahren befasst er sich mit Alterungsprozessen, besonders mit der Arbeitsmarktsituation Älterer. Befragt man ihn zum demografischen Wandel oder zur aktuellen Rentenpolitik, gerät der streitbare Wissenschaftler leicht in Rage: "Die größere politische Schandtat als die Rente mit 67 waren die Rentenreformen von 1991 und der folgenden Jahre. Die aktuellen Änderungen sind da nur das Sahnehäubchen!"

Kistlers Projekt misst den Status quo - den Übergang in den Ruhestand, das reale Rentenzugangsalter und die durchschnittliche Rentenhöhe, wobei er sich besonders um regionale Unterschiede kümmert - etwa um die großen Differenzen zwischen Ost- und Westdeutschland. Ostdeutsche Neurentner beziehen im Schnitt höhere Pensionen als jene im Westen. Der Unterschied beträgt, abhängig von der Region, zum Teil über 300 Euro pro Monat. Verantwortlich dafür sind die höhere Erwerbsbeteiligung von Frauen und die durchgängigen Erwerbsverläufe in der ehemaligen DDR. Westdeutsche Rentner sind aber nicht unbedingt schlechter gestellt, da sie häufiger über Vermögen oder Betriebsrenten verfügen. Ein weiterer Befund ist ein Gefälle zwischen Stadt und Land: Bewohner in Ballungsräumen gehen später in den Ruhestand und beziehen im Schnitt höhere Renten, begründet durch höhere Beschäftigungsquoten und eine andere Wirtschaftsstruktur. Die neu bewilligten gesetzlichen Renten schwankten im Jahr 2004 regional zwischen 580 und 830 Euro, mit starken Streuungen zwischen Branchen und Berufen.

Kistler und sein Forschungsteam wollen mit demografischen Zerrbildern aufräumen, wie sie noch immer in der Politik und in der Öffentlichkeit kursieren. Wie mit dem Mythos, dass schon bald das Erwerbspersonenpotenzial schrumpfen werde und es dadurch zu einem demografisch bedingten Fachkräftemangel komme. Dieses Szenario, mit dem unter anderem die aktuellen Änderungen bei Sozial- und Rentenpolitik begründet werden, basiere auf überzogenen Schätzungen und Prognosen, sagt Kistler. Ebenso realitätsfern, erklärt er, sei die Hoffnung, das Problem der Arbeitslosigkeit löse sich im Zuge der gesellschaftlichen Alterung von selbst: "Bevor die Bevölkerung deutlich schrumpft, bekommen wir es mit der Alterung der Erwerbspersonen insgesamt zu tun."

SCHARFER BLICK AUF DAS ZUGANGSALTER_ Mit der Frage, wie und wann sich der Eintritt in die Rente tatsächlich vollzieht, beschäftigt sich auch der Altersübergangs-Report, ein gemeinsames Projekt des Instituts für Arbeit und Qualifikation (IAQ) an der Universität Duisburg-Essen und der Hans-Böckler-Stiftung, das seit dem Jahr 2004 läuft und langfristige Veränderungen untersucht. In einer eigenen Teilstudie sind die Wissenschaftler des IAQ der Frage nachgegangen, wie sich die Einführung der Rentenabschläge vor zehn Jahren bislang ausgewirkt hat. Ergebnis: Vier von zehn Zugängen in Altersrente erfolgen heute mit Abschlägen. Das bedeutet zum Teil massive Einbußen für die Neurentner. Zwischen 1996 und 2005 ist das durchschnittliche Renteneintrittsalter um ein Jahr auf 63,0 Jahre gestiegen, wobei der Anstieg allein zwischen 2002 und 2005 rund ein halbes Jahr beträgt. Hier bestätigt die IAQ-Studie die Befunde der Kollegen vom INIFES: "Die wesentlichen Änderungen haben bereits in der jüngsten Vergangenheit stattgefunden. Die Veränderungen ab 2012 werden dagegen moderat sein", prognostiziert IAQ-Wissenschaftler Martin Brussig. Die Rente mit 67 werde das Problem der Rentenabschläge jedoch weiter verschärfen.

Ob jemand vorzeitig in den Ruhestand gehe oder nicht, hänge wesentlich von der Arbeitsmarktposition ab, erklärt Brussig. So sei von den gut qualifizierten 55- bis 65-Jährigen noch mehr als die Hälfte erwerbstätig. Dagegen wechsle jeder Fünfte, der in den drei Jahren vor Rentenbeginn arbeitslos, geringfügig beschäftigt oder dauerhaft krank war, so früh wie möglich in den Ruhestand. Brussig hat eine Polarisierung beobachtet: Insgesamt steigt zwar das Rentenzugangsalter, es nimmt aber auch die Zahl jener zu, die sich mit 60 vom Arbeitsmarkt zurückziehen. Brussig beobachtet zudem eine deutliche Zunahme der verdeckten Arbeitslosigkeit bei Personen über 50 - oft in Form des "erleichterten Leistungsbezugs" für Personen über 58 Jahre,

"Das ist kein gutes Zeichen für die Arbeitsmarktpolitik Älteren gegenüber", meint der Wissenschaftler. Der Schlüssel für eine abschlagsfreie Rente liegt jedoch genau in der Erwerbstätigkeit im Alter. Doch wie lässt sich diese steigern? Neben gezielten arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen sind hier vor allem die Unternehmen gefordert, für deren Mehrzahl immer noch die vermeintlichen Nachteile von älteren Beschäftigten zu überwiegen scheinen.

ÄLTERE ARBEITNEHMER AUF DEM PRÜFSTAND_ Zu wenig belastbar, zu unflexibel, zu wenig bereit, sich weiterzubilden - so lauten die gängigen Vorurteile gegen ältere Arbeitnehmer. Zu den Defiziten, die Personen ab spätestens 50 zugeschrieben werden, zählt auch deren verminderte Leistungsmotivation, Leistungsfähigkeit und Produktivität. Diese wiegen offenkundig die Vorzüge nicht auf, die den Älteren zugeschrieben werden - etwa ein höheres Maß an Erfahrung und mehr soziale Kompetenzen. Einige Beobachter befürchten, dass ältere Gesellschaften gegenüber jüngeren ins Hintertreffen geraten könnten - sie prognostizieren eine nachlassende Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit.

Inwieweit die genannten Vorurteile der Realität entsprechen, haben zwei aktuelle Studien im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung zu klären versucht. Die erste, durchgeführt an der Uni Mannheim von Axel Börsch-Supan, Matthias Weiss und Ismail Düzgün, beschäftigt sich mit dem Zusammenhang von Altern und Produktivität. Dabei wurden altersgemischte Arbeitsgruppen in einem LKW-Montagewerk untersucht. Der erste zentrale Befund: Alter und Erfahrung haben entgegengesetzte Effekte, die sich gegenseitig neutralisieren. Der zweite: Altersgemischte Gruppen machen mehr Fehler als altershomogene - ein überraschendes Ergebnis, wird doch häufig argumentiert, die unterschiedlichen Stärken von Jüngeren und Älteren würden sich in gemischten Arbeitszusammenhängen ergänzen und befruchten.

Matthias Weiss erklärt das Ergebnis so: "Heterogenität führt auch zu einer erschwerten Kommunikation und zu Gruppenbildung. In unserem Fall scheint dieser negative Effekt zu überwiegen." Ob dies generell so gilt, sollen weitere Untersuchungen zeigen. Die Mannheimer Forscher weisen mit Blick auf arbeitswissenschaftliche Studien darauf hin, dass das individuelle Alter und damit auch die Leistungsfähigkeit von einer Vielzahl an Faktoren abhängen, insbesondere auch von den Arbeitsbedingungen, unter denen jemand tätig ist.

Ralf Brinkmann, Professor für Wirtschaftspsychologie an der SRH Hochschule Heidelberg, hat sich mit der These einer abnehmenden Leistungsorientierung und -motivation bei älteren Beschäftigten auseinandergesetzt. Auch seine Forschungsergebnisse widersprechen den gängigen Defizithypothesen. "Von einem drastischen Abfall der beruflichen Leistungsmotivation mit steigendem Alter kann nicht ausgegangen werden", stellt Brinkmann fest. Ältere Beschäftigte würden vielmehr von anderen Motiven bestimmt. So spielen Fragen des beruflichen Wettbewerbs und des Fortkommens bei ihnen keine so große Rolle mehr wie bei Jüngeren. Auch sind sie weniger statusorientiert. Bedeutet das aber, dass Ältere auch weniger bereit sind, sich weiterzubilden? Nein, meint Ralf Brinkmann: "Bei der Mehrheit der befragten älteren Arbeitnehmer zeigt sich, dass sie am Thema Weiterbildung interessiert sind." Problematisch, meint er, sei vielmehr die Einstellung vieler Unternehmen in dieser Frage. Interessant ist auch Brinkmanns Ergebnis, dass innerhalb einer Altersgruppe größere Leistungsdifferenzen bestehen als zwischen verschiedenen Altersklassen.

Signifikante Unterschiede in Bezug auf die Untersuchungsdimensionen "Wettbewerbsorientierung", "Engagement", "Zielsetzung" und "Erfolgszuversicht", wurden zudem eher zwischen männlichen und weiblichen Befragten festgestellt: Für alle vier Dimensionen liegt der Wert der über 50-jährigen Frauen über dem der Männer, während es in der Altersgruppe 41 bis 50 noch umgekehrt ist. Interessant auch, dass laut der Studie die Einstellung von jüngeren Beschäftigten und Vorgesetzten gegenüber älteren Kollegen nicht so negativ ist, wie zumeist verbreitet wird. Dieser Befund deckt sich mit Forschungsergebnissen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) und anderen Instituten - was aber die Frage aufwirft, warum es Ältere trotzdem so schwer haben, einen neuen Job zu finden. Vorläufig lässt sich nur diagnostizieren, dass Reden und Handeln offenbar weit auseinanderklaffen.

Sebastian Brandl, Referatsleiter in der Abteilung Forschungsförderung der Hans-Böckler-Stiftung und zuständig für den Bereich "Altersgerechte Erwerbsarbeit", koordiniert viele Forschungsprojekte rund um den demografischen Wandel. Mit Sorge verfolgt er, dass der Anteil der Betriebe, die spezielle Maßnahmen für ältere Beschäftigte aufsetzen, tendenziell sogar wieder sinkt. "Und das, obwohl das Thema immer stärker öffentlich diskutiert wird", meint er. Dringend wünscht er sich eine stärkere Sensibilisierung vor Ort - in Betrieben, Kommunen und bei Betriebsräten. Älteren Jobsuchenden ist der Wiedereintritt in reguläre Beschäftigung nach wie vor weitgehend versperrt. Wie wichtig für Ältere solide Informationen sind, um wenigstens die geringen Chancen zu nutzen, die ihnen der Arbeitsmarkt heute eröffnet, zeigt der Befund einer Studie des IAB, die der Arbeitsmarktforscher Lutz Bellmann betreut hat. Ihr Ergebnis hat Brandl überrascht. Demnach haben ältere Jobsuchende besonders bei kleineren und mittleren Unternehmen vergleichsweise gute Einstellungschancen - meist bewerben sie sich aber bei größeren Unternehmen.  
                                                                          

Mehr Informationen

Andreas Ebert/Ernst Kistler/Falko Trischler:
AUSRANGIERT - ARBEITSMARKTPROBLEME -ÄLTERER IN DEN REGIONEN. Düsseldorf,
Edition der Hans-Böckler-Stiftung Band 189, 2007

Ernst Kistler: DIE METHUSALEM-LÜGE. München, Carl Hanser Verlag 2006

Lutz Bellmann/Tilo Gewiese/Ute Leber: BETRIEBLICHE ALTERSSTRUKTUR IN DEUTSCHLAND. In:
WSI-Mitteilungen, 8/2006, S. 427-432

Axel Börsch-Supan/Ismail Düzgün/Matthias Weiss: ALTER UND ARBEITSPRODUKTIVITÄT IN ARBEITSGRUPPEN: EVIDENZ VOM FLIEßBAND. Vortrag zum Download unter www.boeckler.de/pdf/

Der ALTERSÜBERGANGS-REPORT des IAQ im Internet unter www.iaq.uni-due.de/auem-report

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