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Magazin Mitbestimmung

: Europas Traum - Europas Wirklichkeit?

Ausgabe 11/2004

Gewerkschaftliches Gedankengut ist hierzulande - so scheint es - in der Defensive. Aus amerikanischer Sicht freilich steuert es Kernelemente einer Zukunftsvision bei. Die höheren Weihen, politische Durchschlagskraft und Wirkungsmächtigkeit erhalten diese Überzeugungen allerdings erst eingebettet in eine europäische Perspektive, so die Botschaft von Jeremy Rifkin.

Mit Jeremy Rifkin sprach Herbert Hönigsberger, Sozialwissenschaftler und Politikberater in Berlin.

Wovon träumen wir Europäer?
Träume liefern eine Vision davon, wo man hin und wie man sein will. Universelle Menschenrechte, soziale Rechte, Frieden, Lebensqualität, Nachhaltigkeit, Inklusion, Solidarität, kulturelle Vielfalt und Verschiedenheit, Balance zwischen Arbeit und Spiel - das ist der europäische Traum. Natürlich wissen die Europäer, dass die Realität dahinter zurückbleibt. Aber die Welt schaut auf dieses Experiment. Denn der amerikanische Traum verblasst, während der europäische Konturen gewinnt. Er ist schon jetzt moralisch überlegen. Doch ausgerechnet in diesem Moment kriegen viele Europäer kalte Füße. Anstatt selbstbewusst ein Gespür für dieses große Experiment zu entwickeln und zu sich selbst zu finden, glauben viele immer noch, auf das amerikanische Modell setzen zu müssen. Andere mögen die Vision, zweifeln aber, dass sie wirklich werden kann.

Warum verblasst der amerikanische Traum?
Wer lernte und hart arbeitete, konnte Erfolg haben, ungeachtet der Herkunft. Dieses Versprechen war unser sozialer Kitt. Bis Ende der 60er Jahre wurde es für jede Menge Immigranten Wirklichkeit. Seither hat es sich vollständig überlebt. Die Europäer haben auf dem Weg in die Zukunft die Führung übernommen. Amerika ist zerrissen und in der Sackgasse. Da verheißen wir individuellen Aufstieg - und rangieren beim Abstand zwischen Arm und Reich an 24. Stelle! In allen EU-Ländern ist dieser Abstand geringer. Über die Hälfte der Amerikaner glaubt deshalb nicht mehr so recht an unseren Traum. Und ohne ihn bleibt der amerikanischen Psyche nicht viel. Nur ihr Europäer strickt noch gehörig an diesem überholten Mythos.

Wie ist es um Amerika bestellt?
Um die Wirtschaft nach der Rezession von 89 bis 92 anzukurbeln, haben wir massiv Kreditkarten ausgeschüttet und jedermann in Schulden gestürzt. Präsident Bush setzte zwei Steuersenkungen drauf. Jetzt haben wir das größte Defizit unserer Geschichte. Und auch die Bankrotte erreichten Rekordniveau. Wir haben die Leute wieder in Arbeit gebracht, aber viele nur für einige Stunden pro Woche. Gleichzeitig schieden Millionen aus dem Arbeitskräftepool aus. Zwei Prozent der arbeitsfähigen Männer und 25 Prozent aller Inhaftierten weltweit sitzen in amerikanischen Gefängnissen. Unsere reale Arbeitslosigkeit nähert sich der EU-Marke. Wir haben die schlechtesten Bedingungen für die Schaffung von Arbeitsplätzen seit 1929. Bei der sozialen Sicherung und Lebensqualität sind die Europäer vorbeigezogen, bei der Bildung zumindest auf der Grund- und Sekundarstufe ebenso. 40 Millionen Amerikaner sind nicht krankenversichert. In Europa gibt es mehr Ärzte pro Kopf, und die Menschen leben länger. Ihre Babys sterben nicht massenhaft wie unsere. Unsere Städte sind gefährlich. Und wir haben eine viermal höhere Mordrate.

Dann träumen wir besser mal auf europäisch.
Der europäische Traum ist das genaue Gegenteil des unseren. Uns hat man von Kindesbeinen an gelehrt, Freiheit sei Autonomie und Mobilität. Deshalb sind wir so hinter dem Geld her. Denn nur wer Geld hat, ist überlebensfähig und wird nicht herumgeschubst. Ihr Europäer denkt Freiheit in einem Beziehungsgeflecht, in Verbindung und Verbundenheit mit anderen, denn ihr habt seit jeher gemeinschaftlicher gelebt. Freiheit ist die Fähigkeit, in diesem Beziehungsgeflecht manövrieren zu können und Zugang zu vielfältigen Gemeinschaften zu finden. Unser Traum gründet auf individuellem Reichtum. Für euch steht gemeinschaftlich erzeugte Lebensqualität für alle im Mittelpunkt.

Was unterscheidet uns außerdem, was trennt uns sogar?
Amerika und Kapitalismus sind identisch. In Europa erfreut sich der Kapitalismus nicht der gleichen Wertschätzung. Amerikaner verehren das Wirtschaftswachstum. Ihr seid mehr an einer nachhaltigen Entwicklung interessiert. Der amerikanische Traum fußt auf Effizienz und Arbeitsethos, wir amerikanischen Workaholics arbeiten länger als Koreaner und Japaner. Europäer wollen Arbeit und Spiel kunstvoll ausbalancieren. Amerikaner leben, um zu arbeiten, Europäer arbeiten, um zu leben. Wir sind auf Eigentumsrechte fixiert und auf Bürgerrechte. Sie sind die Basis unseres Individualismus und Elemente unserer Autonomie. Europäer sind auf soziale Rechte fokussiert. Und sie halten die Menschenrechte hoch: Man muss die Todesstrafe abschaffen, um EU-Mitglied zu werden.

Löst sich gar die westliche Wertegemeinschaft auf?
Komm in den Schmelztiegel, brich deine kulturellen Brücken ab, werde Amerikaner: Der amerikanische Traum fordert Assimilation. Eure Identität ist vielschichtiger. Ihr habt Bindungen an eure Geburtsorte, an die Regionen, in denen sie liegen. Und an Deutschland. Viele fühlen sich als Europäer, sogar als Weltbürger. Europa ist außerdem so multikulturell wie keine andere Region. Der amerikanische Traum ist extrem religiös, protestantisch. Der europäische dagegen ist im Kern säkular. Außerdem sind wir ausgesprochen patriotisch, und das Militärische ist allgegenwärtig. Für Europäer ist Krieg ein Unding. Die Europäer waren die blutrünstigsten Kerle, die je gelebt haben. Der Kontinent ist blutgetränkt wie kein anderer. Nach 1000 Jahren Schlachthaus steht jetzt Frieden ganz oben.

Wie universell ist die europäische Vision?
Im Gegensatz zur amerikanischen ist sie in der Tat universell. Ein weites Land, schier grenzenlos - es scheint, als sei Amerika der einzige Ort, an dem man den amerikanischen Traum träumen konnte, aber nirgendwo sonst, nicht in Singapur, nicht auf den Philippinen, nicht in der Türkei. Die gemeinschaftsorientierte europäische Vision dagegen ist auf die Globalisierung zugeschnitten, der erste Versuch eines globalen Bewusstseins. Unsere zerbrechliche und verwundbare Welt kann nur gemeinschaftlich organisiert werden.

Wenn die europäische Vision universell ist - ist sie dann auch Vorbild für Amerika?
Die Amerikaner sollten nach Europa schauen, weil dort etwas Neues entsteht. Aus Europa haben wir schon mal unsere Hoffnungen importiert. Sie kamen mit den Auswanderern während der letzten Etappe der Reformation und der ersten der Aufklärung. Wir haben die europäischen Visionen jener Zeit eingefroren. Wir glauben an das Individuum und seinen Gott, an Markt, Nationalstaat, Technik, Wissenschaft. Die Kontinentaleuropäer haben sich dieser Vision nie völlig ausgeliefert. Europa ist seit 1000 Jahren dicht besiedelt, die Menschen waren gezwungen, gemeinschaftlich zu leben. Nachdem sie die Reformation hervorgebracht hatten, haben sie sie mit älteren, kommunitär-paternalistischen Ideen gemäßigt. Heraus kamen der Wohlfahrtsstaat und der demokratische Sozialismus. Das ist in Amerika nie passiert.

Welche realen, materiellen Prozesse unterfüttern den europäischen Traum?
Revolutionäre Technologien erzwingen massive Veränderungen. Nationale Märkte und Staaten werden zu eng für weltumspannende Aktivitäten. Die Marktwirtschaft und die Nationalstaaten waren nicht dazu gedacht, sich einer globalen Kommunikationsrevolution anzupassen. Wir wohnen der Geburt eines neuen Wirtschaftssystems, neuer Herrschaftsmodelle und Regierungsinstitutionen bei, die sich von Marktkapitalismus und Territorialstaat so sehr unterscheiden wie diese von Feudalökonomie und Monarchie. Die Nationalökonomien werden von einer weltweiten Netzwerkwirtschaft herausgefordert, und die Nationalstaaten werden in neuen regionalen Politikräumen wie der EU subsumiert. In der interdependenten globalen Hochrisikogesellschaft finden Staaten und Unternehmen allmählich in kooperativen Netzwerken zusammen.

Bietet die Wirklichkeit der EU Anlass zum Träumen?
Die EU ist einerseits die größte Ökonomie, der größte Markt, die größte Exportmacht der Welt. Das Sozialprodukt übertrifft das der USA. Aus Europa kommt die Mehrzahl der größten Banken und Unternehmen. Europa führt bei den Schlüsselindustrien. Und die Arbeitsproduktivität war noch Anfang 2003 in sieben EU-Ländern, einschließlich Deutschland, höher. Andererseits ist die EU der erste transnationale politische Raum, der je geschaffen wurde, und das fortgeschrittenste transnationale Regierungsmodell. Deshalb schaut die Welt auf ihre Erfolge und Fehlschläge und hofft auf Orientierungshilfen. Die Legitimität der EU gründet nicht auf der Kontrolle eines Territoriums, sondern auf einem Verhaltenskodex. Die EU repräsentiert eine Idee. Sie beruht nicht auf militärischen Siegen und nicht auf militärischer Macht, sondern auf Frieden. Sie gründet auf Biosphärenpolitik, nicht auf Geopolitik. Sie ist der Prototyp einer anderen Globalisierung. Die Verfassung weitet als erste der Geschichte die universellen Menschenrechte aus. Und sie werden durch eine extraterritoriale Körperschaft durchgesetzt. Universelle Menschenrechte liefern eine ideelle Basis für die Globalisierung. Sie sind ein Mechanismus, mit dem sich die Entwicklung eines globalen Bewusstseins in Gang setzen lässt.

Tun Sie damit den Brüsseler Eurokraten nicht zu viel der Ehre an?
Die EU ist ein Netzwerk, und nicht diese Riesenhorde von Bürokraten. In Brüssel stehen weniger Leute auf der öffentlichen Gehaltsliste als in jedem deutschen Bundesland. Die EU ist weder Superstaat, noch bloßes Instrument, mit dem die Nationalstaaten ihre Eigeninteressen verfolgen. Sie ist etwas Drittes, eine Art Forum für polyzentrisches Regieren. Ständig konkurrieren jede Menge Interessen, ständig schließen horizontale Netzwerke Allianzen, um ihre Agenda durchzusetzen. Es gibt keine leitende zentrale Intelligenz, niemand führt, niemand hat die Macht, das Spiel zu dominieren und das Ergebnis festzulegen. Die Akteure haben nur die Möglichkeit, Richtung und Dynamik des Prozesses mitzubestimmen. Diese ausgeklügelte Nicht-Determinierbarkeit macht die EU elastisch und unverwüstlich.

Einige europäische Regierungen sind dabei, den Wohlfahrtsstaat umzubauen, manchmal auch zu demontieren. Beschädigt das den europäischen Traum?
Diese Regierungen gehen absolut den falschen Weg. Denn die sozialen Programme sind Manifestation des europäischen Traums. Es gibt einen Weg, die Wirtschaft anzukurbeln, ohne die Gesellschaft arm zu machen: Die Fortsetzung der europäischen Integration, der Ausbau der einzigartigen Infrastruktur. Dazu gehören ein nahtloses Kommunikationssystem, geschlossene Energieversorgungs- und Verkehrsnetze, eine gemeinsame Polizei, ungehinderte Kapital- und Arbeitskraftströme. Damit kann man die Ökonomie stimulieren und den Traum unterfüttern.

Und was ist der deutsche Beitrag?
Deutschland ist das Herz des europäischen Traums, die Zugmaschine. Es ist das erste Land in der Geschichte, das seine Macht mit anderen bewusst und bereitwillig teilt. Deutschland hat eine lange Geschichte mit hervorragenden Leistungen und unglaublich dunklen Seiten. Nach zwei Weltkriegen und dem Holocaust wurde Deutschland zu einem Beispiel für einen anderen Weg: Deutschland hat wie kein anderes Land anderen geholfen, auf ein gemeinsames Niveau zu kommen. Seit drei Generationen wollen die Deutschen in einer Welt leben, die dem europäischen Traum entspricht. Zurzeit aber ist Deutschland voller Pessimismus, Selbstzweifel und Zynismus. So kann man keinen Traum verwirklichen.

Wer kann mithelfen, den Traum zu verwirklichen?
Die Erasmus-Studenten beispielsweise möchten ein offenes Europa voranbringen. Aber vor allem die Zivilgesellschaft ist das Gegengift zu einer Welt, in der deregulierte Märkte zunehmend kapitalistische Gier und Ausbeutung enthemmen, während die Macht der Regierungen abnimmt, Reichtum umzuverteilen und soziale Leistungen bereitzustellen. Zivilgesellschaftliche Organisationen vertreten Interessen, derer sich Unternehmen und Regierungen nicht annehmen. Aber auch die Arbeiterbewegung hat seit jeher wichtige Sequenzen des europäischen Traums beigesteuert, und sie kann sich mit Angeboten der EU-Verfassung identifizieren. Die garantiert das Recht auf unentgeltliche Arbeitsvermittlung, die Begrenzung der Höchstarbeitszeit, auf bezahlten Jahresurlaub, auf Information und Konsultation, was Amerikanern bizarr, ja verdächtig erscheinen würde. Die gemeinsamen Kampagnen von Sozialaktivisten und Gewerkschaftern beispielsweise beim Boykott von Nike zeigen eine weitere Perspektive. Die Gewerkschaften können Teil und Motor der europäischen Vision sein, die Gemeinschaftsbeziehungen über individuelle Autonomie, Lebensqualität über Reichtum, nachhaltige Entwicklung über unbegrenztes materielles Wachstum, Menschenrechte und die Rechte der Natur über Eigentum, Kooperation über Machtausübung stellt.

Jeremy Rifkin

ist ein populärer Unruhestifter und Querdenker mit feinem Gespür für die Themen der Zeit: Ende der 60er Jahre war er bei den Vietnamkriegs- und Bürgerrechtsprotesten in den USA dabei, seine "Foundation on Economic Trends" in Washington, D.C., hat hier ihre Wurzeln - und liefert seither, wie Die Zeit schrieb, "mit sozialwissenschaftlichen Analysen der US-Opposition griffige Slogans: gegen die techno-kommerzielle Erschöpfung der Natur, den gentechnischen Umbau des Menschen, die Ausmusterung der industriellen Reservearmee." Der Wirtschaftswissenschaftler unterrichtet auch an der renommierten Wharton School of Business in Philadelphia. Vor allem aber gehört er zu den Gesprächspartnern aus dem angelsächsischen Raum, bei denen das Stichwort "trade union" eine erkennbar positive Assoziationskette auslöst.

Vor kurzem nun ist sein Buch "Der Europäische Traum. Die Vision einer leisen Supermacht" im Campus Verlag, Frankfurt/NewYork, erschienen. Gewidmet hat er es unter anderem der "Generation der Erasmus-Studenten in Europa", den Teilnehmern am Erasmus-Programm, mit dem die EU den europaweiten Austausch der Nachwuchsakademiker fördert, im Studienjahr 2002/2003 immerhin 124000 Studierende. Für Rifkin verkörpern sie Europas Zukunft.

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