zurück
Magazin Mitbestimmung

: Europa braucht einen New Deal

Ausgabe 03/2009

STRUKTURDEFEKTE Warum die Europäische Union in der Kapitalismuskrise ihr Wirtschafts- und Sozialmodell tiefgreifend reformieren muss.

Von Frank Bsirske, Vorsitzender der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft, ver.di

Wie in einem Brennglas offenbaren die Wirtschaftskrise und die Instabilität der europäischen Währung: Die Wirtschafts- und Sozialverfassung der EU leidet an einem doppelten Strukturdefekt, dessen Grundlagen mit der Einheitlichen Europäischen Akte von 1987 und dem Maastrichter Vertrag aus dem Jahr 1993 gelegt wurden.

Der erste Defekt besteht darin, dass die Wirtschafts- und Währungsunion der EU asymmetrisch konstruiert ist. In Gestalt der Europäischen Zentralbank wurde zwar eine europäische Währungsregierung geschaffen, aber auf die Installierung einer Europäischen Wirtschaftsregierung, die für die europäische Fiskalpolitik verantwortlich wäre, verzichtet. Die EU ist deshalb in der aktuellen schwersten Wirtschaftskrise seit 1929 nicht in der Lage, ein eigenständiges Konjunkturprogramm zur Bekämpfung der Krise aufzulegen. Ihr sind die Hände gebunden, und mit nur mäßigem Erfolg versucht sie, die Konjunkturprogramme der Mitgliedstaaten zu koordinieren.

INSTABILE EUROZONE_ Der zweite Defekt ist darin zu sehen, dass mit der EEA und dem Vertrag von Maastricht zwar ein einheitlicher Binnenmarkt und eine gemeinsame Währung geschaffen wurden, aber bewusst darauf verzichtet wurde, gemeinsame europäische Regeln für die Tarifpolitik, für die wohlfahrtsstaatlichen Politiken und für die Unternehmenssteuern zu schaffen. Das Ergebnis sind Wettbewerbstaaten, die sich unterbieten, bei Löhnen, Steuern oder den Ausgaben für den Wohlfahrtsstaat.

Offenbar aber haben die marktradikalen Konstrukteure dieses Systems übersehen, dass sich diese Abbauprozesse ungleichmäßig vollziehen, bei einigen Staaten stärker, bei anderen Staaten schwächer. Im Resultat ist es deshalb in der Eurozone zu einer dramatischen Verschiebung der preislichen Wettbewerbsfähigkeit zwischen den verschiedenen Staaten gekommen - zu Gunsten vor allem Deutschlands, zu Lasten vor allem der südlichen Mitgliedstaaten. Da diese Ungleichgewichte in einem gemeinsamen Währungsgebiet nicht mehr durch Auf- und Abwertungen der Währungen austariert werden können, ist die innere Stabilität der Eurozone so stark unterhöhlt worden, dass an den Devisenmärkten Anfang dieses Jahres die Wahrscheinlichkeit eines Zusammenbruchs der Eurozone bereits mit 30 Prozent gehandelt wurde.

EINE EUROPÄISCHE WIRTSCHAFTSREGIERUNG_ Mit dem Maastrichter Vertrag wurde die Wirtschafts- und Währungsunion begründet und die Wirtschaftspolitik im Sinne des Neoliberalismus neu konstruiert. Die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank wurde einseitig auf die Preisstabilität ausgerichtet und europäisiert. Gleichzeitig wurde die Finanzpolitik der Nationalstaaten vorrangig auf die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte verpflichtet. Trotz eines flexiblen Umgangs mit dem Stabilitätspakt und trotz seiner jüngsten Reform besteht in der EU kein Raum für eine mutige anti-zyklische Bekämpfung von Wirtschaftskrisen, wie wir sie in den USA, in Japan und jüngst in China beobachten konnten.

In der aktuellen Weltwirtschaftskrise sind die Mängel der wirtschaftspolitischen Verfassung der EU deutlich zu Tage getreten. Die EU-Staaten haben zunächst uneinheitlich und unabgestimmt, ja mit konträren Positionen reagiert. Herausgekommen sind dabei schließlich je nationale Rettungsschirme zur Überwindung der Finanzmarktkrise und je nationale Konjunkturprogramme. Deutschland hat sich erst nach harter, nicht zuletzt auch internationaler Kritik zu einem zweiten Konjunkturprogramm durchringen können, obwohl das Wirtschaftswachstum im letzten Quartal 2008 um 2,5 Prozent gesunken ist und auch in der ersten Hälfte 2009 um zwei bis vielleicht fünf Prozent fallen wird. Auch die EZB hat erst gar nicht und dann zu spät die Zinsen gesenkt. Hier werden die großen Schwächen der wirtschaftspolitischen Konstruktion der EU überdeutlich.

Die EU kann keine konsistente Wirtschaftspolitik betreiben. Eine alle EU-Staaten betreffende Krise - das zeigt die momentane Situation - wird so zu spät, gegebenenfalls uneinheitlich und mit zu geringen Mitteln bekämpft. Die Rezession fällt so stärker aus und sie dauert länger als notwendig.

An diesen Punkten setzen die Reformforderungen unseres Manifestes zur Europapolitik an (siehe "Mehr Informationen"). Die EZB muss gleichrangig den Zielen hohes Wirtschaftswachstum, Vollbeschäftigung und hohe Geldwertstabilität verpflichtet werden. Gleichzeitig ist der starre Stabilitäts- und Wachstumspakt abzuschaffen. Nur so können die Staaten der EU in einer Krisensituation mit einer Ausweitung der öffentlichen Verschuldung die Nachfrage stimulieren. Langfristig ist es erforderlich, die EU mit einer eigenen ergänzenden Steuerhoheit und einem größeren Budget auszustatten. Frankreich fordert dies unter dem Begriff einer Europäischen Wirtschaftsregierung schon seit vielen Jahrzehnten, um eine effektive europäische Konjunktur- und Wirtschaftspolitik, insbesondere im Euro-Raum zu ermöglichen.

Regeln für Wettbewerb statt Wettbewerb der Regeln_ Sehr bewusst haben die EU-Staaten bei der Ausarbeitung ihrer beiden sozialökonomischen Leitprojekte - Binnenmarkt und WWU - darauf verzichtet, gleichzeitig auch eine Sozialunion, eine Steuerunion und ein europäisches System der Kollektivverhandlungen zu schaffen.

Doch indem die Lohn-, Sozial- und Steuerpolitik ausdrücklich auf der Ebene der Mitgliedstaaten verbleiben, ist Dumping vorprogrammiert. In einem solchen System konkurrieren die Nationalstaaten auf der Basis der Lohn- und Sozialkosten sowie der Höhe der Unternehmenssteuern um die Investitionen des internationalen Kapitals. Die europäische WWU hat einen generellen Wettlauf um den Abbau der Lohnkosten, den Abbau des Wohlfahrtsstaates und die Senkung der Unternehmenssteuern in Gang gesetzt.

Es zeigt sich, wie problematisch das System der Wettbewerbsstaaten ist. Die EU-Kommission hat Anfang 2009 in einem Arbeitspapier davor gewarnt, dass die Eurozone auseinander falle. Eine Spitzengruppe mit Deutschland, den Niederlanden, Finnland und Österreich habe ihre Wettbewerbsfähigkeit deutlich verbessert. Dagegen bildeten Frankreich, Italien, Spanien, Portugal und Griechenland eine Gruppe, deren Lage sich teilweise dramatisch verschlechtert habe. Dies gelte vor allem für Italien.

Um die Dumpingpraktiken in einem System der Wettbewerbsstaaten zu begrenzen, die auch zu einem Zerfall der Eurozone führen könnten, sind Re-Regulierungen in der Lohn-, Steuer- und Sozialpolitik auf der europäischen Ebene erforderlich. In der Lohnpolitik bemühen sich die Gewerkschaften seit der Doorner Erklärung von 1998 und der Verabschiedung von Koordinationsrichtlinien durch verschiedene europäische Branchenverbände, den Prozess des Lohndumpings in der EU zu verhindern. Diese Anstrengungen müssen deutlich intensiviert werden. Denn die Verschärfung der innereuropäischen Lohnkonkurrenz, die in der Eurozone insbesondere von der Senkung der Lohnstückkosten in Deutschland ausgeht, konnte bislang sowenig korrigiert werden, wie die Umverteilung der Einkommen zu Gunsten des Kapitals, die fast alle EU-Staaten in den letzten fünfzehn Jahren erlebt haben.

Darüber hinaus sollten sich die europäischen Gewerkschaften für einen europäisch definierten Mindestlohn einsetzen. Dieser sollte in einem ersten Schritt mindestens 50 Prozent, perspektivisch 60 Prozent des in den einzelnen EU-Ländern existierenden Durchschnittslohns betragen.

Es ist auch dringend erforderlich, dem eskalierenden Steuerdumping in der EU einen Riegel vorzuschieben. Deutschland hat seine Unternehmenssteuern inzwischen soweit gesenkt, dass die effektive Steuerbelastung für Unternehmen im unteren Drittel der EU liegt. Diese Steuerdumpingpolitik, die insbesondere auch von Irland, den Niederlanden, der Slowakei und Estland praktiziert wird, führt zu Wettbewerbsverzerrungen zwischen den nationalen Standorten und zu enormen staatlichen Einnahmeverlusten. Das kann nicht die Leitlinie für europäische Politik sein. Kurzfristig müssen deshalb Mindeststeuersätze und längerfristig gemeinsame Unternehmensteuersätze in der EU durchgesetzt werden.

Schließlich müssen auch die sozialen Sicherungssysteme auf der europäischen Ebene zwingend koordiniert werden, um einen weiteren wettbewerbsbedingten Abbau der Wohlfahrtsstaaten zu stoppen. ver.di schlägt das so genannte Korridormodell vor. Danach wären in der EU für verschiedene Gruppen von Staaten - je nach Entwicklungsniveau - Bandbreiten, also Korridore von Sozialleistungsquoten festzulegen. Damit würde die Dimension des Wohlfahrtsstaates an das ökonomische Entwicklungsniveau der jeweiligen Staaten gekoppelt. Die Gruppe der Reicheren hätte einen höheren Korridor als die Gruppe der Ärmeren.

Durch die Vereinbarung derartiger Korridore wäre der Politik des Sozialdumpings ein Riegel vorgeschoben. Einzelne Länder könnten sich durch eine unterdurchschnittliche Sozialleistungsquote keine Wettbewerbsvorteile verschaffen. Das würde die Dumpingdynamik brechen und eine soziale Fortschrittspolitik möglich machen.

DIE SOZIALEN GRUNDRECHTE VOR DEM EUGH RETTEN_ Im Sinne der derzeitigen Wirtschafts- und Sozialverfassung der EU hat auch der EuGH in jüngster Zeit seine Rechtsprechung marktradikalisiert. Er hat die europäischen Verfassungsgrundrechte - immerhin ein stolzes Produkt der französischen Revolution - auf den zweiten Platz verwiesen. Menschenwürde und Meinungsfreiheit, auch die Tarifautonomie, will der EuGH "in Einklang" mit Marktfreiheit und Wettbewerb gebracht wissen. Diese in kurzen Abständen verkündeten Urteile (Viking, Laval, Rüffert und Luxemburg) sind und bleiben ein Skandal (siehe Beiträge von Rödl und Monks in diesem Heft). Der Aufruf von Fritz Scharpf zum zivilen Ungehorsam gegenüber dieser Rechtssprechung ist verständlich, seine Befolgung würde sich aber letztlich als stumpfes Schwert erweisen.

Es gilt vielmehr, dem EuGH die Instrumente wegzunehmen, mit denen er die europäische Idee verwundet. Die Tarifautonomie muss wieder den Platz erhalten, der ihr in Verfassungen vieler Mitgliedsstaaten der EU zugewiesen ist. Das EU-Primärrecht muss dahingehend verändert werden, dass der Vorrang der Grundrechte vor den so genannten "Grundfreiheiten" verbindlich sicherstellt ist. Das hat die Unterstützung aller europäischen Gewerkschaften. Wir müssen zu schnellem Handeln finden. Nur so kann verhindert werden, dass frei ausgehandelte Tarifverträge, die ja nach deutschem Rechtsverständnis Gesetzescharakter haben, im europäischen Waren- und Dienstleistungsverkehr gegenüber den "Grundfreiheiten" zweitrangig werden. Zusätzlich muss die Entsenderichtlinie so geändert werden, dass die Arbeits- und Entlohnungsbedingungen entsandter Arbeiternehmer und Arbeitnehmerinnen - bei Anwendung des Günstigkeitsprinzips - zweifelsfrei und umfassend dem Arbeits- und Tarifrecht am Leistungsort folgen.

CHANCEN EINER EPOCHALEN WENDE_ Unsere Forderungen für ein alternatives Wirtschafts- und Sozialmodell der EU sind allesamt im Vertrag von Lissabon nicht enthalten. Dieser schreibt vielmehr alle Strukturmängel fort, das System der Wettbewerbsstaaten ebenso wie die fiskalpolitische Handlungsunfähigkeit der EU. Auch der Vertrag von Lissabon schützt uns nicht vor der Fortsetzung der marktradikalen Rechtsprechung des EuGH, denn er trägt eine neoliberale Handschrift. Die EU muss jedoch angesichts der Weltfinanzmarkt- und Wirtschaftskrise realisieren, dass der Neoliberalismus grundlegend gescheitert ist. Seine Konzepte haben die Welt an einen Abgrund geführt.

Krisen beinhalten immer auch das Potenzial zu grundlegenden Veränderungen. So haben die Krisen der 1930er und 1970er Jahre das wirtschafts- und sozialpolitische Leitbild grundlegend verändert - in den USA der 30er Jahre mit dem wirtschafts- und sozialpolitisch umwälzenden New Deal Roosevelts. So kann und muss die derzeitige epochale Krise des Welt- und des Eurokapitalismus Ausgangspunkt sein für eine Neubestimmung des Verhältnisses von Markt und Staat, von privatem und öffentlichem Eigentum und von Ökonomie und Sozialem sein.

Wir brauchen Konzepte für eine tief greifende, dem Sozialen verpflichtete Gesellschaftsreform. Wir brauchen nachhaltige Veränderungen in der Regulierung des Kapitalismus. Dazu gehört, aus den nationalstaatlichen Käfigen auszubrechen und sich auf europäischer Ebene neue Handlungsfelder zu erschließen.


Mehr Informationen

Das Manifest zur Europapolitik. Grundzüge eines alternativen Wirtschafts- und Sozialmodells für die EU, auf das sich dieser Aufsatz stützt, wurde vom ver.di-Gewerkschaftsrat am 30. September letzten Jahres verabschiedet. Dieser Text liegt auch auf Englisch und Französisch vor und kann beim Bundesvorstand von ver.di über die E-Mail-Adresse europa@verdi.de bezogen werden.

Frank Bsirske hat auch die Osnabrücker Erklärung 2008 "Das soziale Europa ist die Zukunft" unterstützt, die in allen EU-Sprachen unter www.zauber-eu.de vorliegt.


 

Zugehörige Themen

Der Beitrag wurde zu Ihrerm Merkzettel hinzugefügt.

Merkzettel öffnen