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Magazin Mitbestimmung

: Editorial

Ausgabe 10/2004

Wir sind nicht faul!

Von Kay Meiners

Stundenlang brütete unser Titelgrafiker Roland Henß über alten Clownfotos und Zirkusplakaten, befreite die Motive von Nostalgie, von allzu komischem und melancholischem Ballast, bis er die reine Aussage herausgearbeitet hatte: ein Bild, das zur Stimmung in Deutschland passt, zur Diskussion um längere Arbeitszeiten, um Hartz IV, um die hohe Arbeitslosigkeit. Viele Beobachter diagnostizieren einen "Rollback", so wie Zeitforscher Jürgen P. Rinderspacher im Interview mit dem Magazin Mitbestimmung (Seite 10). Mit ihm über Hektik und Muße zu reden, das hat immer auch einen Hauch von Utopia - aber Denkanstöße liefert eine solche Begegnung allemal.

Sind wir wirklich zu materialistisch, wie Rinderspacher meint, oder sind wir, was fast noch schlimmer wäre, am Ende faul? Die These, wir arbeiteten zu wenig, lässt sich kaum erhärten: Zwar haben wir mehr Urlaubstage als die meisten Europäer. Aber zur Wahrheit gehört auch, dass wir, wie Hartmut Seifert in seinem Beitrag (Seite 30) schreibt, eine der höchsten Wochenarbeitszeiten in Europa haben. Auch der Vergleich der realen Jahresarbeitszeiten in Europa, wie ihn das Institut Arbeit und Technik in Gelsenkirchen anstellt, zeichnet ein eher unverfängliches Bild. Vollzeitbeschäftigte in Deutschland liegen danach mit 1760 Stunden jährlich (Stand 2002) im Mittelfeld der EU. Aber solche Zahlen werden zu selten gedruckt, weil sie sich schlecht instrumentalisieren lassen.

Lieber schlägt man sich gegenseitig Altbekanntes um die Ohren: Die Arbeitgeber fordern Mehrarbeit ohne Lohnausgleich; sie behaupten, das diene dem Gemeinwohl, und meinen doch zuallererst ihr eigenes. Und die Gegenseite behauptet zuweilen ebenso stur, Arbeitskosten seien in Deutschland kein Thema. Die Betriebsräte wissen es längst besser. Was uns wirklich fehlt, ist eine Diskussion um das richtige Maß. Was es ausmacht, darauf muss man durch Aushandlungsprozesse eine Antwort finden. Fair wird die Lösung nur sein, wenn die Macht in diesen Verhandlungen nicht asymmetrisch verteilt ist.

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