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Magazin Mitbestimmung

: Durchwachsene Bilanz

Ausgabe 03/2005

Um Anthony Giddens, den geistigen Wegbereiter eines "Dritten Weges" für die europäische Sozialdemokratie, scheint es ruhig geworden zu sein. Im Gespräch in seinem Londoner Stammlokal stießen wir jedoch auf einen angriffslustigen Intellektuellen.

Die Mitte-Links-Regierungen in Europa verbreiten wenig Glanz. Hat das Konzept des Dritten Weges eine strategische Niederlage erlitten?
Der "Dritte Weg" ist der Versuch, das sozialdemokratische Denken zu aktualisieren und den Veränderungen in der Welt anzupassen. Er ist kein geschlossenes Programm, kein endgültiges Konzept, sondern ein weltweiter Prozess, in dem verschiedene Ideen verschmolzen werden, der Prozess des sozialdemokratischen Revisionismus. Aber es besteht ein Unterschied zwischen einem Ideengebäude und praktischer Politik. Regierungen sind Gefangene ihrer Umstände, sie machen Fehler und gehen Kompromisse ein. Deshalb wird die Idee des Dritten Weges nicht durch das Schicksal irgendeiner Regierung diskreditiert.

Was läuft falsch bei der praktizierenden Sozialdemokratie?
Einige Regierungen haben Probleme, weil sie ihre Politik nicht ausreichend verändert haben - nicht weil sie zu viel verändert hätten. In Großbritannien beeinflusst der Irak die Stimmung maßgeblich. Schröder zog als eingeschworener Revisionist ins Amt. Die Agenda 2010 steht dem ursprünglichen Schröder-Blair-Manifest durchaus nahe, kam aber erst Jahre später. Und einige gesellschaftliche Gruppen akzeptieren die Reformen nur schwer, obwohl sie wegen der Wachstumsschwäche und der hohen Arbeitslosigkeit unausweichlich erscheinen. Einige Parteien haben das Thema innere Sicherheit nicht ernst genommen. Andererseits gab es Erfolge in Osteuropa. Und die Rolle des Zufalls in der Politik belegt Spanien.

Hat die durchwachsene Bilanz mit zu viel oder zu wenig Drittem Weg zu tun?
Die analytische Antwort ist eindeutig: zu wenig. Das Schröder-Blair-Manifest verlangte die Art Liberalisierung, die in den skandinavischen Ländern zu einer dynamischen Ökonomie führte. Gewiss ist es leichter, kleine Gesellschaften zu reformieren. Aber die skandinavischen Sozialdemokraten haben die Dinge nach dem Muster des Dritten Weges geordnet. Dort ist die sozialdemokratische Vision am weitesten fortgeschritten, wurden Liberalisierung und soziale Gerechtigkeit vernünftig ausbalanciert, aber in einem praktischen Reformprozess und nicht durch dogmatische Rezepte.

In den letzten Jahren haben Sie die Notwendigkeit einer Selbstkritik des Dritten Weges betont und eine Reihe von konzeptionellen Weiterungen vorgenommen.
Früher wurde die Debatte durch die Notwendigkeit angetrieben, den vorherrschenden neoliberalen und thatcheristischen Positionen, aber auch dem Neokonservatismus in der internationalen Politik etwas entgegenzusetzen. Damals gab es viel, wogegen, aber nicht viel, wofür wir waren. Aber wer Wahlen gewinnen will, muss positive und konstruktive Vorstellungen entwickeln.

Die deutsche Diskussion über den gewährleistenden Staat beispielsweise liefert eine bessere Konzeption als der nur ermöglichende Staat. Der gibt den Bürgern zwar Ressourcen, Bildung etc., überlässt sie dann aber sich selbst. In Deutschland wird vom Staat verlangt, bei öffentlichen Leistungen auch gewisse Standards zu garantieren und die Bürger nicht mit ihren Problemen allein zu lassen. Bei der öffentlich-privaten Koproduktion öffentlicher Güter und Dienste sind die Autonomie der Individuen und das Bedürfnis an getesteten und standardisierten Leistungen auszubalancieren. Und die Idee regulierter Märkte ist nicht nur eine Alternative zu entfesselten Märkten, sondern bündelt die sozialdemokratische Vorstellung von Marktwirtschaft.

Welche Fehleinschätzungen werfen Sie sich vor?
Eine zu reaktive Position eingenommen und nicht stärker das positive konzeptionelle Gerüst betont zu haben, an dem sich eine erneuerte Sozialdemokratie hätte aufrichten können. Aber an den meisten ausgearbeiteten Positionen ist nichts zu revidieren. Kritiker haben den Dritten Weg als unverbindlichen Mittelweg gedeutet. Aber es war intellektuell notwendig, auf die Globalisierung, die neue Ökonomie und die Dienstleistungsökonomie, auf den Aufstieg des Individualismus und die demografischen Veränderungen zu reagieren. Den neuen Terrorismus hatte niemand auf dem Zettel.

Was hat die Globalisierung verändert?
Anfang der 90er Jahre war es schwierig, einen Diskurs über Globalisierung auf die politische Tagesordnung zu setzen. Jetzt ist es umgekehrt. Weil alle von Globalisierung schwadronieren, wird der Begriff entleert. Globalisierung als neue Form wirtschaftlicher Abhängigkeit auf den Weltmärkten ist eine wirklich wichtige Veränderung. Andererseits kann die Globalisierung nicht für alles verantwortlich gemacht werden. Der Aufstieg der New Economy, der demografische Wandel, die Veränderungen in den familiären Beziehungen sind nur lose mit der Globalisierung verknüpft. Immerhin gibt es bei den Globalisierungsgegnern ein Umdenken. Viele sagen nun zu Recht: Wir sind eine Bewegung für globale soziale Gerechtigkeit.

Soziale Gerechtigkeit ist Kern jedes sozialdemokratischen Programms. Der tote Philosoph auf dem Londoner Highgate-Friedhof dagegen hielt diese Idee im Kapitalismus für eine Illusion.
Der Gentleman ruhe in Frieden. Niemand weiß, ob Marx heute nicht selbst Revisionist wäre. In der Geschichte der Sozialdemokratie stand die Idee von sozialer Gerechtigkeit in einer gemischten Ökonomie seit jeher im Zentrum. Das Anliegen ist, die Wirtschaft zu dynamisieren, Jobs zu schaffen und gleichzeitig soziale Gerechtigkeit herzustellen. Aber die ganze Komposition der Gesellschaft hat sich verändert.

Die Armut hat heute andere Wurzeln, und andere soziale Gruppen verarmen. Nach wie vor müssen wir auf bewährte Mechanismen wie progressive Besteuerung zurückgreifen. Aber wir brauchen auch gezielte Programme für Gruppen, die abgehängt werden. Kinderarmut oder den Problemen allein erziehender Elternteile kann man nicht mit traditionellen Einkommenstransfers begegnen. Man muss neue Wege gehen, beispielsweise mit der negativen Einkommenssteuer.

Sind nationale Arbeitsmarktreformen ohne makroökonomische Flankierung noch ein Weg zur sozialen Gerechtigkeit?
Wir müssen in Europa zu einer vernünftigen Balance zwischen Flexibilität auf den Arbeitsmärkten und sozialer Sicherheit kommen. Die Sozialdemokraten in Skandinavien haben für diesen Kompromiss Pionierarbeit geleistet. Auf rigide regulierten Arbeitsmärkten sträuben sich Interessengruppen gegen Veränderungen. Flexibilität kann ein Medium sozialer Gerechtigkeit sein, wenn die Arbeitsmarktstrukturen Leute aussperren und die Arbeitslosigkeit hochtreiben.

Aber die makroökonomischen Rahmenbedingungen müssen neu justiert werden. Wir brauchen eine allgemeine, übergreifende makroökonomische Steuerung, allerdings nicht mehr wie in den 60er und 70er Jahren. Man kann nur begrenzt mit limitierten, nationalen Steuerungsinstrumenten in transnationale Prozesse intervenieren. Immerhin ist das Instrumentarium der Länder der Euro-Zone weniger eng.

Wie passen Privatisierungen zu dieser Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit?
Wesentlich ist die Unterscheidung zwischen Staat und öffentlicher Sphäre. Moderne Sozialdemokraten räumen der öffentlichen Sphäre und öffentlichen Gütern breiten Raum ein. Aber manche öffentliche Güter kann nicht der Staat am besten produzieren, es sei denn, man wagt sich an eine Staatsreform. Manchmal erfüllt eine Privatisierung den öffentlichen Zweck besser als traditionelle Formen öffentlicher Versorgung. Nicht jede Privatisierung bedeutet sofort und ausschließlich Neoliberalismus. Ein bürokratischer Staat kann ebenso eine Barriere gegen soziale Gerechtigkeit und wirtschaftliche Effizienz errichten wie nackter Liberalismus.
 
Ist der Sozialdemokratie vor lauter Reformen das Mitgefühl für ihre traditionellen Wähler abhanden gekommen? Versteht sie die Unterschichten nicht mehr?
Die Klassenstruktur aller westlichen Industrieländer hat sich geändert. Keine linke oder Mitte-Links-Partei kann regieren - außer als kleinerer Koalitionspartner -, wenn sie nur die Unterschichten anspricht. Aber man braucht politische Macht, um wirklich etwas für sie tun zu können. Dazu muss man einen substanziellen Anteil der Wähler gewinnen. Das geht nicht, ohne die Interessen breiter Gesellschaftsschichten aufzugreifen. Deshalb ist Klassenpolitik fragwürdig und eine Politik der sozialen Inklusion zeitgemäßer.

Viele, auch dramatische Lebensrisiken - dass geschiedene Frauen oder Kinder in der Armut enden, selbst viele Probleme armer Leute - sind nicht wesentlich oder nur bis zu einem gewissen Gras klassenspezifisch. Politik, die den Armen hilft, funktioniert nur im Namen der Mehrheit! Die muss tolerieren, was für die Armen getan wird. Oder die Linke verliert die Macht.

Unterschätzt das Projekt des Dritten Weges nicht soziale Spaltungen, rücksichtslose ökonomische Interessen, gesellschaftliche Egoismen?
Niemand, der sich dem Konzept des Dritten Weges verbunden fühlt, unterschätzt die politischen Gegensätze der vergangenen 20 Jahre. In der Gesellschaft haben wir jede Menge Spaltungen und Zersplitterung. Und es gibt keinen automatischen gesellschaftlichen Konsens. Sehr wohl aber muss man diejenigen zusammenbringen, die die Sozialdemokratie wegen ihres Versuchs wählen sollen, in der Politik soziale Gerechtigkeit und wirtschaftliche Effektivität zu verbinden. New Labour hat einen beträchtlichen öffentlichen Stimmungsumschwung erreicht. Die britische Gesellschaft ist sozialdemokratischer geworden. Eine thatcheristische Position wird nur von etwa 25 Prozent vertreten.

Immer wieder betonen Sie Ungewissheit und Nicht-Vorhersehbarkeit als eine verlässliche Konstante der Politik. Ist Ihre Mahnung bei der Politik angekommen?
Eine Regierung kann und soll die gesellschaftliche Entwicklung beeinflussen. Nationale Politik bleibt auch in einer globalisierten Welt wichtig. Und wenn man links steht, glaubt man an eine aktive Regierung - ob sie ihre Macht nun national oder transnational ausübt. Aber unser aller Leben wird durch neue Formen der Ungewissheit geprägt. Die Welt wird uns immer wieder überraschen. Plötzlich treten Phänomene auf, die wir nicht antizipiert haben. Der globale Terrorismus ist dafür ein Beispiel, zeigt aber auch, dass man reagieren kann. Regierungen neigen allerdings nicht dazu, über die Wahrscheinlichkeit unvorhersehbarer Ereignisse viel nachzudenken. Sie verdrängen sie lieber, bis sie plötzlich damit konfrontiert werden.

Was wird aus Blair, was wird aus Schröder?
Blairs Zukunft hängt zu einem gewissen Teil davon ab, ob der Irak einen stabileren Kurs einschlägt oder ob es zu weiteren Tragödien kommt. Sein Erfolg wird eher durch äußere Ereignisse beeinflusst als durch Innenpolitik, wo er nach wie vor die Oberhoheit über die Agenda hat. Er hat die Torys in einen Wettbewerb um die bessere Versorgung mit öffentlichen Diensten gezwungen, er hat die Wahlfreiheit im Bildungswesen und im Gesundheitssystem thematisiert und kontinuierlich Geld in beide Systeme gepumpt.

Großbritannien ist eines der wenigen Länder Europas, in denen die Staatsquote gestiegen ist. Dieser Wandel ist nachhaltig und Blair auf dem Weg zu einer dritten Amtsperiode - ein historisches Ereignis. Schröders Position ist wesentlich schwieriger. Die Reformen, die Deutschland braucht, sind schwer zu bewerkstelligen und noch schwerer zu kommunizieren. Und noch jedes Wahlvolk bestraft die Regierung dafür, was die Gesellschaft wirklich braucht.

Das Interview mit Anthony Giddens führte Herbert Hönigsberger, Sozialwissenschaftler und Politikberater in Berlin.


 

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