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Juristin Yu-Fan Chiu in Universitätsbibliothek Magazin Mitbestimmung

Altstipendiatin: Die Streikexpertin

Ausgabe 01/2024

Die Juristin Yu-Fan Chiu setzt das Thema Arbeitsrecht in Taiwan auf die akademische Agenda. Von Andreas Schulte

Für Yu-Fan Chiu war der Beruf der Juristin lange Zeit nur einer unter vielen. In ihrer Heimat studierte die Taiwanesin daher mit eher überschaubarer Leidenschaft. Sie habe sich für Jura entschieden, weil das damals sehr angesehen war, sagt sie heute. Bei Laune hielt sie sich, indem sie Vorlesungen und Seminare anderer Fächer besuchte. „Vor allem Philosophie und Soziologie hatten es mir angetan“, erzählt sie.

Doch dann machte es eines Tages trotzdem klick: In den Nullerjahren schwappte aus Japan das Thema Arbeitsrecht nach Taiwan herüber. Ein Professor, der dort promoviert hatte, brachte es auf Chius Lehrplan. Das Forschungsgebiet elektrisierte die angehende Juristin, die sich dann auch gleich mit einer Aktivistengruppe für die Rechte von Beschäftigten einsetzte.

Arbeitslose etwa erhielten in jener Zeit vom Staat kaum Unterstützung. In einem Unternehmen beispielsweise erkrankten viele Beschäftigte an Krebs, weil der Betrieb jahrelang mit verunreinigtem Wasser gearbeitet hatte. Als Berufskrankheit wurde dies nicht anerkannt. „Die Arbeitnehmerschaft hatte nur eine schwache Lobby, die von der Regierung nicht ernst genommen wurde“, erzählt Chiu. Niemand vermochte sich gegen die Unternehmen durchzusetzen. „Gewerkschaften gab es damals nur innerhalb von Unternehmen“, sagt Chiu. „Sie konnten zwar mit dem Arbeitgeber verhandeln, aber es gab kein Mitbestimmungsgesetz und ein gewerkschaftliches Streikrecht nur in Ansätzen.“

Wöchentlich geht sie mit ihren Mitstreitern auf die Straße. Doch es bringt wenig. „Die Zeit war noch nicht reif. Wir haben nichts erreicht“, räumt sie ein. Ihr Engagement zeichnet aber den Weg für die persönliche Karriere vor. Im Jahr 2005 heuert sie bei der Taiwan-Telecom-Gewerkschaft als Rechtsanwältin an. Im Jahr 2008 macht sie in Taiwan ihren Master. Thema war die Zulässigkeit von Streikposten in Taiwan. 2009 zieht es sie erstmals nach Deutschland. Wieder weist das Arbeitsrecht ihr den Weg. „An den gesetzlichen Regelungen in Japan und Deutschland haben wir Aktivisten uns in Fragen des Arbeitsrechts immer stark orientiert“, schwärmt sie. „Das war wie eine Verheißung. Ich wollte in der Wirklichkeit sehen, was wir bislang nur aus Büchern kannten.“

Ein halbes Jahr zieht sie eisern einen Deutsch-Crashkurs durch. Danach studiert sie in Göttingen Arbeitsrecht und absolviert 2011 ihren Master of Law über Kirche und Streikrecht. 2015 schließt sie ihre Promotion über alternative Streikformen ab. Dabei hilft ihr ein Stipendium der Hans-Böckler-Stiftung, auf die sie eher durch Zufall im Internet gestoßen ist.

Chiu erinnert sich gern an die Zeit ihres Studiums in Deutschland samt Praktikum bei der IG Metall. Bis heute pflegt sie den regelmäßigen Austausch mit Forschenden in Göttingen und mit Gewerkschaften. Fast jährlich kommt sie zu Besuch. Aber in Deutschland sesshaft zu werden, kommt für sie trotzdem nicht infrage. „Ich setze mich für die Rechte von Arbeitnehmern ein“, sagt sie. „Und da gibt es in Taiwan viel mehr zu tun als in Deutschland.“ Zwar existiert auch dort mittlerweile ein Arbeitsrecht nach westlichem Zuschnitt, doch vieles ist neu und wird noch nicht gelebt.

Das Jahr 2016 allerdings habe vielen Taiwanesen die Augen geöffnet: Bei einem Streik für bessere Arbeitsbedingungen legen rund 2500 gewerkschaftlich organisierte Flugbegleiter Teile des Luftverkehrs lahm. Der Streik ist nicht verboten, aber wohl nur möglich, weil die in diesem Jahr neu gewählte Regierung Verständnis für die Arbeitsniederlegung signalisiert. „Seither gibt es ein Umdenken in Taiwan“, sagt Chiu.

Auf dieser Welle reitet die mittlerweile 44-jährige Juristin. Ihre Kurse und Workshops an der Yang-Ming-Chiao-Tung-Nationaluniversität sind sehr gut besucht. Während Arbeitsrecht in Deutschland als bewährte Errungenschaft wahrgenommen wird, ist es in Taiwan en vogue. „Die Beschäftigung mit dem Arbeitsrecht boomt“, sagt die außerordentliche Professorin Yu-Fan Chiu. Daran hat sie ihren Anteil.

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