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Magazin Mitbestimmung

Tarifpolitik: Die Sozialpolitik wieder in die Pflicht nehmen

Ausgabe 01+02/2014

Die Rentenreform der großen Koalition wird nichts daran ändern: Das Ziel der Politik bleibt die Verlängerung der Lebensarbeitszeit. Für einen flexiblen Übergang in die Rente sollen die Tarifparteien sorgen. Die Gewerkschaften stoßen dabei schnell an Grenzen. Von Joachim F. Tornau

Das Tempo war genauso beeindruckend wie die Zahlen. Gerade einmal ein Monat war nach ihrer Vereidigung als neue Bundesarbeitsministerin vergangen, da legte Andrea Nahles bereits ihren Gesetzentwurf zur Reform der Alterssicherung vor. Mit geschätzten Kosten in Höhe von rund 160 Milliarden Euro bis zum Jahr 2030 gilt das „Rentenpaket“ schon jetzt als teuerstes Projekt der schwarz-roten Bundesregierung. Ende Januar wurde es vom Kabinett beschlossen – und die sozialdemokratische Ressortchefin bekannte, einen „ganz kleinen Moment des Stolzes“ verspürt zu haben.

„Wir bringen das Paket schnell auf den Weg, denn die Menschen erwarten zurecht, dass wir Wort halten und die gemeinsam erkannten Gerechtigkeitslücken zügig beseitigen“, sagte Nahles bei der Vorstellung des Pakets. Von „ganz konkreten Verbesserungen, die direkt bei den Menschen ankommen“ sprach die Ministerin und betonte: „Das ist nicht geschenkt, sondern verdient.“

Mütterrente und Rente mit 63 lauten die zentralen Schlagworte. Heiß wird in der Öffentlichkeit über das Für und Wider der Pläne debattiert. Doch einen wirklichen Kurswechsel in der Rentenpolitik bedeutet der Gesetzentwurf keineswegs. Die Rente mit 67, beschlossen 2006 von der damaligen großen Koalition, steht nicht zur Disposition. Maßnahmen, die den vorgezogenen Ruhestand erleichtern oder gleitende Übergänge in die Altersrente fördern könnten, sind nicht vorgesehen. Zwar soll, wer auf mindestens 45 Beitragsjahre in der Rentenversicherung kommt, nach dem 63. Geburtstag aufhören können zu arbeiten, ohne Einbußen bei der Rente. Aber das betrifft nur eine Minderheit.

Grundsätzlich bleibt auch Schwarz-Rot der Linie der Vorgängerregierungen treu: Das Ziel ist die Verlängerung der Lebensarbeitszeit – nicht die Verkürzung. „Seit 20 Jahren“, erklärt der Politikwissenschaftler und ver.di-Gewerkschafter Norbert Fröhler, „befinden sich die Alterssicherung und die Arbeitsmarktpolitik in einem permanenten Umgestaltungsprozess, der den vorzeitigen Erwerbsausstieg zusehends erschwert und den Rentenübergang ‚entflexibilisiert‘ hat.“ Um nur einige Stichworte zu nennen: Nicht nur wurden die Regelaltersgrenze angehoben und empfindliche Abschläge bei früherem Rentenbezug eingeführt, auch die staatlichen Zuschüsse zur Altersteilzeit wurden gestrichen und die Optionen, mit dem Umweg über andere Sozialleistungen aus dem Arbeitsleben auszusteigen, stark eingeschränkt.

STAATLICHER RÜCKZUG MIT FOLGEN Die Aufgabe, trotz alledem einen vorzeitigen oder gleitenden Renteneinstieg zu ermöglichen, schob der Staat auf die Tarif- und Betriebsparteien ab. Mit welchen Folgen, hat Fröhler mit Kollegen in einem von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Forschungsprojekt untersucht. Und sie kommen zu einem ernüchternden Ergebnis: Auf weniger als zehn Prozent schätzen die Wissenschaftler den Anteil der privatwirtschaftlichen Unternehmen, in denen zu Beginn des Jahres 2010 ein Angebot zum abgesicherten flexiblen Rentenübergang bestand. Am weitaus verbreitetsten waren damals – kurz nach dem Auslaufen der Förderung durch die Arbeitsagentur – Altersteilzeitregelungen. Aber auch Langzeitkonten, auf denen Lohnbestandteile oder Überstunden angespart werden können, und Kombinationsmodelle, bei denen Arbeitslosengeld oder eine vorgezogene Rente durch betriebliche Leistungen aufgestockt oder ein Teilzeitjob durch eine Teilrente ergänzt wird, spielten eine gewisse Rolle.

„Insgesamt hat sich gezeigt, dass die ‚Entflexibilisierung‘ des staatlichen Rentenübergangs bislang keine ‚Re-Flexibilisierung‘ auf kollektivvertraglicher Ebene nach sich gezogen hat“, bilanziert Fröhler. „Einerseits konnten die staatlichen Einschränkungen weder auf tariflicher noch auf betrieblicher Ebene­ ausgeglichen werden. Andererseits zeigen sich auch hier Tendenzen einer ‚Entflexibilisierung‘.“ Der Kreis der Berechtigten werde oft eng gezogen, das Mindestalter hoch angesetzt, ein individueller Rechtsanspruch ausgeschlossen und die Finanzierung weitgehend auf die Arbeitnehmer abgewälzt. Denn zumeist seien es die Arbeitgeber, die ihre Vorstellungen durchsetzen könnten, der „staatliche Rückzug aus der Übergangsgestaltung“ habe die Verhandlungsposition von Gewerkschaften und Betriebsräten geschwächt, meint Fröhler.

SONDERSTELLUNG DER CHEMIE-INSDUSTRIE Doch es gibt auch Gegenbeispiele. Bei der Chemiegewerkschaft IG BCE blickt man mit großer Zufriedenheit auf das Erreichte. „Wir haben die Regelungen getroffen, die wir brauchen“, sagt IG-BCE-Tarifjurist Michael Mostert. Seit 2010 zahlen tarifgebundene Unternehmen der chemischen Industrie jährlich 300 Euro pro Beschäftigtem in einen betrieblichen Demografiefonds ein; der Betrag erhöht sich analog zu den Löhnen. Wofür das Geld eingesetzt wird, ist auf Unternehmensebene festzulegen. Infrage kommen Langzeitkonten, Altersteilzeit- und Teilrentenmodelle, betriebliche Altersvorsorge oder eine spezielle Zusatzversicherung gegen Berufsunfähigkeit – in beliebiger Kombination. 2013 stieg der einzuzahlende Betrag vorläufig um weitere 200 Euro, mit denen wahlweise auch die „reduzierte Vollzeit 80“ für ältere Beschäftigte realisiert werden kann: eine Viertagewoche bei vollem Lohnausgleich.

In Ostdeutschland haben die Chemiearbeiter zudem auf eine Verkürzung der 40-Stunden-Woche verzichtet; dafür fließen jährlich 2,5 Prozent der Brutto­entgeltsumme in betriebliche Arbeitszeitfonds, die ebenfalls für den Rentenübergang verwendet werden können. „Es kommt uns darauf an, ein möglichst breit gefächertes Instrumentarium für verschiedene Beschäftigtengruppen zur Verfügung zu haben“, sagt Mostert. Ziel ist, die Arbeitsbelastung im Alter so zu verringern, dass Arbeitnehmer länger durchhalten. Wie die Regelungen bei Bayer umgesetzt sind.

Weiteren gesetzgeberischen Handlungsbedarf sieht die IG BCE insbesondere in einem Punkt: Die Regeln für den Bezug einer Teilrente müssten gelockert werden. Derzeit können ältere Arbeitnehmer ein verringertes Erwerbseinkommen dadurch ausgleichen, dass sie bis zu zwei Drittel ihrer Altersrente vorzeitig in Anspruch nehmen. Für den vorgezogenen Rentenanteil werden allerdings die üblichen Abschläge fällig – sofern dem nicht durch zusätzliche Beitragszahlungen vorgebeugt wurde. „Dafür konnten wir mit dem Demografiefonds Vorsorge treffen“, sagt der Tarifexperte. Problematisch sei jedoch das gesetzliche Mindestalter von 63 Jahren. „Das ist für viele Arbeitnehmer möglicherweise schon zu spät.“ Schließlich sei in der chemischen Industrie fast jeder dritte Beschäftigte den gesundheitlichen Beeinträchtigungen durch Schichtarbeit ausgesetzt. Sinnvoll, findet Mostert, wäre deshalb eine Absenkung der Altersgrenze auf 60 Jahre.

GELUNGENE ABSCHLÜSSE IN EINZELNEN BETRIEBEN_ Vergleichbare Tarifverträge zum Rentenübergang wie in der Chemieindustrie gibt es in keiner anderen Branche. Im Organisationsbereich der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di wurden viele Altersteilzeitregelungen gekündigt oder sind ausgelaufen. Heute beruhen allein die komfortablen Altersteilzeit- und Vorruhestandsmodelle des privaten Bankgewerbes noch auf Flächentarifverträgen. Ansonsten kann Jörg Wiedemuth, Leiter der tarifpolitischen Grundsatzabteilung beim ver.di-Bundesvorstand, nur auf gelungene Abschlüsse in einzelnen Betrieben verweisen – ganz aktuell etwa bei der Leipziger Versorgungs- und Verkehrsgesellschaft. Das kommunale Unternehmen muss Personal abbauen und war deshalb bereit, älteren Beschäftigten per Abfindung eine vorgezogene Rente ohne Abschläge und große Einkommenseinbußen zu ermöglichen.

„Das Beste, was es derzeit bei uns gibt, ist der Generationenvertrag bei der Deutschen Post“, sagt Wiedemuth. Das preisgekrönte Modell wurde 2011 ausgehandelt. Es kombiniert Altersteilzeit und Zeitwertkonten. Bei allem Stolz auf dieses neuartige Konzept räumt Wiedemuth jedoch ein: „Es ist kein Modell, das alle Problemlagen abdeckt.“ Weil Zeitwertkonten nicht ohne Weiteres zu einem anderen Arbeitgeber mitgenommen werden können, eignen sie sich kaum für Branchen mit hoher Fluktuation. Und erst recht nicht dort, wo Niedriglöhne und Teilzeitjobs vorherrschen. Eine Verkäuferin im Einzelhandel etwa wird sich ein Ansparen auf einem Zeitwertkonto wohl allenfalls dann leisten können, wenn ihre Einkünfte nicht das einzige Familieneinkommen sind. „Der staatliche Rückzug aus der Finanzierung der Altersteilzeit ist nicht flächendeckend und für alle Beschäftigten ausgleichbar, nicht einmal annähernd“, sagt ver.di-Sekretär Jörg Wiedemuth. „Damit sind die Tarifparteien überfordert.“

ALTERSFLEXI FÜR BAUARBEITER_ Vor ähnlichen Problemen wie die Dienstleistungsgewerkschaft beim Einzelhandel steht die Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (IG BAU) bei ihrer gesamten Klientel. Dabei ist der Bedarf gerade hier besonders groß: Bis zum 67. Lebensjahr auf dem Bau zu schuften schafft kaum jemand, erst recht nicht in Vollzeit. Und für eine individuelle Vorsorge reichen die Einkommen in der Regel nicht aus.„Die Lücken vor der Rente sind in unseren Branchen besonders lang und besonders schwierig zu schließen“, sagt Martin Mathes, zuständig für Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik beim Bundesvorstand der IG BAU.

Der Lösungsvorschlag, den die Gewerkschaft erarbeitet hat, hört auf den Namen „Flexibles Altersübergangsgeld“ oder kurz: „Altersflexi“. Für Bauarbeiter im Alter zwischen 58 und 63 Jahren, die aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr so weitermachen können wie bisher und denen deshalb die Kündigung droht, soll eine neue Form des Kurzarbeitergelds geschaffen werden. Sie sollen ihre Arbeitszeit flexibel reduzieren können und für nicht geleistete Stunden 60 Prozent des Lohns bekommen. Neben einem Zugangsverfahren mit medizinischen und betrieblichen Kriterien gehören zum Konzept der IG BAU auch „Transferberater“, die Arbeitnehmern und Betrieben bei der Suche nach neuen Tätigkeiten und Fördermöglichkeiten helfen sollen.Die Kosten für die öffentlichen Haushalte beziffert die Gewerkschaft mit rund 50 Millionen Euro im Jahr – vor­ausgesetzt, auch die Unternehmen beteiligen sich wie geplant an der Finanzierung. „Beide Seiten müssen mit ins Boot“, sagt Mathes. Im vergangenen Jahr haben die Gespräche über die innovative Idee begonnen.

SOZIALPOLITISCHEN DRUCK ERZEUGEN_ Auch die IG Metall sieht den Staat in der Pflicht, ganz grundsätzlich allerdings: Die Gewerkschaft fordert die Rückkehr zu „mehr flexiblen Wahlmöglichkeiten im Rentenrecht“, wie Christoph Ehlscheid, Leiter des Bereichs Sozialpolitik beim IG-Metall-Vorstand, erklärt. „Sonst heißt es für immer mehr Beschäftigte: zu kaputt für die Arbeit, zu jung für die Rente.“ Zugleich bemüht sich auch die IG Metall um tarifliche Regelungen: Man komme nicht umhin, Antworten auf das jetzt schon große und zukünftig wohl noch wachsende Interesse der Beschäftigten an Altersteilzeit zu finden, sagt Ehlscheid.

So gilt in der Metall- und Elektroindustrie seit 2010 der „Tarifvertrag zum flexiblen Übergang in die Rente“, der älteren Arbeitnehmern Altersteilzeit ermöglichen soll. Wie er bei der Firma Bosch umgesetzt ist – siehe Seite 26.Nach diesem Tarifvertrag dürfen immer nur maximal vier Prozent einer Belegschaft in Altersteilzeit sein. Das ist nicht allzu viel: Bei der Beschäftigtenbefragung der IG Metall im vergangenen Jahr äußerte mehr als die Hälfte der rund 510 000 Teilnehmer, dass sie die Regelung gerne nutzen würden. Dagegen bedauerten 20 Prozent, dass die Entgelteinbußen für sie immer noch zu hoch seien. Gleichwohl ist die Situation in der Metall- und Elektroindustrie weitaus besser als in vielen kleineren Branchen im Organisationsbereich der IG Metall, wo es derzeit nicht einen einzigen Tarifvertrag zur Altersteilzeit gibt.

Was vor diesem Hintergrund bei künftigen Tarifabschlüssen erreicht werden soll, darüber will die Gewerkschaft bis zum Sommer eine „intensive Debatte“ führen, sagt Ehlscheid. Ob die Quoten erhöht werden sollen. Ob es eine höhere Aufstockung für Beschäftigte der unteren Entgeltgruppen geben müsse, die nicht selten die anstrengendsten Tätigkeiten verrichten, sich Altersteilzeit aus finanziellen Gründen aber nicht leisten können. Ob drohende Rentenabschläge auszugleichen seien. Oder ob es vielleicht doch ganz andere Modelle für den Rentenübergang brauche. „Wir werden in der Diskussion nichts ausschließen“, betont der IG-Metall-Sekretär.

Doch wie auch immer die tarifvertraglichen Regelungen in Zukunft aussehen werden: Ausreichen, davon ist Ehlscheid überzeugt, werden sie nie. Die IG Metall will sich deshalb nicht auf das Ringen um möglichst gute Tarifverträge beschränken, sondern immer auch sozialpolitischen Druck erzeugen. „Wir können und dürfen die Tarifpolitik nicht zum Reparaturinstrument für die Rentenpolitik machen“, sagt Ehlscheid. Ein Satz, den auch seine Kollegen aus den anderen großen Gewerkschaften unterschreiben würden.

MEHR INFORMATIONEN

Norbert Fröhler/Thilo Fehmel/Ute Klammer: FLEXIBEL IN DIE RENTE. Gesetzliche, tarifliche und betriebliche Perspektiven. Berlin, edition sigma 2013. 702 Seiten, 45,90 Euro

Norbert Fröhler: NEUE WEGE IN DEN RUHESTAND? Zur tariflichen und betrieblichen Regulierung des vorzeitigen Erwerbsausstiegs. Düsseldorf 2014. Unter der Bestellnummer 30422 kostenlos zu beziehen über Setzkasten GmbH, mail@setzkasten.de

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