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Magazin Mitbestimmung

Demografischer Wandel: Die Potenziale der Älteren

Ausgabe 01+02/2014

Die Zeiten von Frühverrentung oder Schonarbeitsplätzen sind vorbei. Ob in der Kita, am Hochofen oder bei VW – für Unternehmen ist es wichtiger denn je, ihre Mitarbeiter so lange wie möglich zu halten. Vor allem Branchen mit körperlich harter Arbeit lassen sich etwas einfallen. Von Susanne Kailitz

Kurz nach der Wende veränderte Dagmar Elsner ihre Kita radikal: Schreibtische und große Stühle flogen raus. „Damit wollten wir ein anderes Verhältnis von Erzieherinnen und Kindern schaffen. Es sollte nicht mehr so sein, dass die Erzieherin von oben auf das Kind blickt, das vor ihrem Schreibtisch steht und so zum Bittsteller wird“, erinnert sie sich. Doch was auf der pädagogischen Ebene gut funktionierte und die Leiterin einer städtischen Dresdner Kita, die damals in ihren Dreißigern war, für eine gute Idee hielt, setzte ihrem Team körperlich zu. „Gerade für ältere Kolleginnen war es unbequem, ständig auf den kleinen Stühlen oder auf dem Boden sitzen zu müssen.“

KLEINE STELLSCHRAUBEN Heute ist Dagmar Elsner selbst 59, und in ihrer Kita gibt es wieder normal große Stühle und Tische für ihre Mitarbeiterinnen, zum Kuscheln steht ein bequemer Sessel bereit, in dem die Erzieher ein Kind auch mal länger auf dem Schoß haben können, ohne dass ihnen dabei die Beine einschlafen oder sie Rückenschmerzen bekommen. Elsners zehnköpfiges Team nimmt das gern an. Und ist froh, dass ihre Leiterin ein Auge darauf hat, wie sie die Arbeitsbedingungen sowohl für die jüngeren Kollegen als auch die drei über 50-Jährigen so gestaltet, dass alle sich wohlfühlen. Gerade für die Älteren sei das Heben der Wickelkinder aus der Krippe eine Belastung und das viele Bücken. Inzwischen könne sie sich da gut hineinversetzen, sagt Elsner, „und dann ist es eben eine Frage der Organisation. Wir sprechen sehr genau ab, wer wann was macht.“ Das gelte auch für die Lärmbelastung.

Für sie, sagt Dagmar Elsner mit Nachdruck, sei es „überhaupt kein Schreckgespenst“, dass sie noch sechs Jahre bis zur Rente habe. „Aber ich kann durchaus verstehen, dass viele ältere Kolleginnen das anders sehen. Wenn man in einem Haus arbeitet, in dem niemand wirklich auf die Belastung der Kolleginnen achtet, kann dieser Beruf sehr anstrengend sein.“ Genau das beklagt auch die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft: Um dafür zu sorgen, dass Erzieherinnen sich auch mit über 60 noch gut um kleine Kinder kümmern können, müsse der katastrophale Personalschlüssel in den sächsischen Kitas drastisch verbessert werden, so der stellvertretende GEW-Landesvorsitzende Lutz Stephan. „Unser Personal ist physisch und psychisch vollkommen überlastet – aber eine Reform des Kita-Gesetzes ist nicht in Sicht. Dabei wäre das die einzige Möglichkeit, wirklich grundlegend etwas an den Arbeitsbedingungen zu ändern. Solange sich da nichts tut, sind wir darauf angewiesen, dass aufgeschlossene Kita-Leiterinnen für ihre Leute Verbesserungen schaffen.“

Manchmal sind es, wie bei Dagmar Elsner, die kleinen Stellschrauben, die einen Unterschied machen. Sie reichen aber längst nicht aus: Immer mehr Menschen arbeiten immer länger. Die Erwerbsbeteiligung der 60- bis 64-Jährigen hat sich in den letzten zehn Jahren mehr als verdoppelt. Der Fachkräftemangel sorgt dafür, dass es nicht mehr ausreicht, gute Arbeitsbedingungen vor allem für die Jungen, Fitten und Belastbaren zu schaffen – in immer mehr Branchen gerät inzwischen in den Blick, wie wichtig es ist, auch die Älteren gesund in die Rente zu bringen. Vorreiter sind dabei vor allem Branchen, in denen es traditionell körperlich hart zur Sache geht.

WO ES TRADITIONELL KÖRPERLICH HART ZUR SACHE GEHT Über viele Jahre hinweg sei es normal gewesen, dass Beschäftigte in der Stahlindustrie über Sozialpläne schon mit 55 Jahren ausgeschieden seien, sagt etwa Harald Schartau, Arbeitsdirektor der Georgsmarienhütte Holding GmbH. Das gehe heute nicht mehr. Dabei hat die Arbeit sich unglaublich intensiviert: Während vor 50 Jahren noch 7000 Mitarbeiter bis zu 540 000 Tonnen Stahl produziert haben, erzeugen heute weniger als ein Drittel der Beschäftigten das Dreifache. Sie werden zwar unterstützt durch immer ausgefeiltere Technik und Automatisierung, der Druck aber, auf den Punkt zu liefern und zu funktionieren, hat zugenommen. Die Gewerkschaften versuchen, Belegschaften mit guten Lösungen zu unterstützen. Kampagnen wie die der IG Metall, „Gute Arbeit – gut in Rente“, Demografie-Tarifverträge, etwa in der Chemiebranche, oder Praxishilfen zur alternsgerechten Arbeitsgestaltung in Industrie, Handel und öffentlichem Dienst sollen bei den Tarifpartnern und in den Unternehmen ein Bewusstsein dafür wecken, dass gesundheitsverschleißende Arbeitsbedingungen für Mitarbeiter Gift sind und Personaler langfristig vor echte Probleme stellen.

Auch Harald Schartau weiß: „Die klassischen Schonarbeitsplätze gibt es nicht mehr oder zumindest nicht in ausreichendem Maße.“ Sein Unternehmen beteiligte sich deshalb an dem Projekt „ergo-stahl: Alter(n)sgerechte Arbeitsgestaltung in der Eisen- und Stahlindustrie“. Drei Jahre lang, bis November 2013, hat das Bochumer Berufsforschungs- und Beratungsinstitut für interdisziplinäre Technikgestaltung (BIT e.V.) mittelständische Unternehmen der Eisen- und Stahlindustrie bei der Umsetzung des Tarifvertrags zur Gestaltung des demografischen Wandels unterstützt. Mit Ergebnissen, die für Harald Schartau gelegentlich überraschend waren: Es habe viele technische Lösungen wie Tragehilfen, Schnelllauftore oder besseren Lärmschutz gegeben, die die körperlichen Belastungen deutlich reduzierten. „Da ist es die Summe vieler Kleinigkeiten, die einen entscheidenden Unterschied macht.“ Doch habe man auch in der Endfertigung in der Putzerei am Standort Mühlheim die Arbeitsbelastung deutlich reduzieren wollen. Diese Arbeit ist extrem anstrengend, hier werden mit Schleifgeräten Grate an Gußstücken entfernt. Die Mitarbeiter tragen Atemschutzmasken, hinter denen es sehr heiß ist. „Hier war ein Belastungsausgleich nur denkbar durch vor- oder nachgelagerte Tätigkeiten, die aber eine weitere Qualifizierung erforderten“, sagt er. „Da ein Großteil der Belegschaft einen Migrationshintergrund hat, haben viele gesagt: Das klappt nie. Aber was ist passiert? Die Leute haben sich gefreut, dass sie und ihre Arbeit ernst genommen wurden – und haben unglaublich mitgezogen.“

Diese Erfahrung machte man auch bei ArcelorMittal in Bremen: In einem sogenannten „Structure and Skill Pool“ übernehmen seit einiger Zeit ältere oder angeschlagene Mitarbeiter gemeinsam mit Leiharbeitern Aufgaben, die früher über Werkverträge ausgelagert wurden. Diese mobilen Teams erledigen Sonderaufgaben – von der Reinigung über den Rückbau von Anlagen bis zum Recycling. „Damit können die Älteren ihr Wissen einbringen und werden schon allein dadurch entlastet, dass sie nicht mehr in Schichten arbeiten müssen“, sagt Betriebsrat Burkhard Löchert. „Das Ganze ist ein Riesenerfolg, und die Leute sind begeistert.“

Dass bessere Lösungen gefunden werden, wenn man die Mitarbeiter einbezieht, hat man auch bei VW festgestellt. Der Autobauer weiß, dass das Durchschnittsalter seiner Beschäftigten von 42,2 Jahren im Jahr 2008 innerhalb eines Jahrzehnts auf 47,1 Jahre steigen wird. Schon vor drei Jahren hat VW deshalb in Kooperation mit der TU Dresden das Projekt „Ganzheitliche Ergonomie-Strategie“ gestartet. In Workshops analysierten hier unter anderem die Mitarbeiter im Logistikbereich ihre Arbeitsplätze – und gestalteten sie anschließend neu. Inzwischen hat der Autobauer 143 Mitarbeiter zu Fachleuten für Ergonomie qualifiziert, die gelernt haben, körperliche Belastungen bei Montagetätigkeiten oder beim Umgang mit Lasten zu identifizieren und Abhilfe zu organisieren.„Wir müssen die Arbeitsbedingungen so an den Menschen anpassen, dass das Maß an Beanspruchung nicht schädigt“, sagt der Wolfsburger VW-Betriebsrat Andreas Heim. Seit 2007 gilt deshalb in allen Werken ein Demografie-Tarifvertrag: Über Arbeitsgestaltung, Gesundheitsmanagement, Personaleinsatzplanung, Teamentwicklung und eine sensibilisierte Unternehmenskultur will das Unternehmen zu „alternsgerechten und gesundheitsförderlichen Arbeits- und Leistungsbedingungen kommen. Niemand darf aufgrund gesundheitlicher Beeinträchtigungen aufs Abstellgleis geschoben werden“, so Heim, „die Leute müssen Teil der Wertschöpfungskette bleiben.“

„DEN GÜNTHER IN ARBEIT HALTEN“_ Das gelingt vor allem dann, wenn Betriebsräte und Personalvertretungen auf eine nachhaltige Personalentwicklung achten und sich wehren, wenn auf ältere Mitarbeiter verzichtet werden soll, weil das die vermeintlich kostengünstigere Lösung ist. Und wenn genügend Geld da ist, um Arbeitsplätze mit neuester Technik umzurüsten oder Abläufe grundlegend anders zu gestalten. Die meisten kleinen Betriebe haben diese Mittel nicht – und oft auch keine Tarifverträge, die diejenigen schützen, die aufgrund ihres Alters nicht mehr so können wie die Jungen. Sie gehen ohnehin an das Problem alternder Belegschaften ganz anders heran als die Großen, sagt Arno Georg. Der Soziologe an der TU Dortmund hat für ein Forschungsprojekt im Auftrag der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin „Modelle alternsgerechter Arbeit aus Kleinbetrieben“ untersucht.

„Dort geht es nicht um ein demografisch orientiertes Personalkonzept, sondern darum, den Günther in Arbeit zu halten“, sagt er, „deshalb entsteht oft erst einmal der Eindruck, in den kleinen Unternehmen passiere in Sachen alternsgerechte Arbeitsbedingungen nicht viel.“ Wenn man aber genau hinschaue, finde man sehr viel Kreativität. Wie etwa in dem Malerbetrieb, für den zwei ältere Tapezierer zu den wichtigsten Mitarbeitern gehörten. Weil beide irgendwann wegen Rückenproblemen nicht mehr gut Tapeten von den Wänden lösen konnten, entwickelten sie ein Modell, in dem die Kunden genau diese Arbeiten selbst übernehmen und so sparen konnten. „Belastungsminderung durch Kundeneinbindung“ nannten die Wissenschaftler das. Ein gesellschaftliches Problem sei damit zwar nicht gelöst, so Georg, „für diesen einen Betrieb aber hat es funktioniert.“

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