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Magazin Mitbestimmung

: Die Parallel-Gesellschaft

Ausgabe 01+02/2006

Fast alle Jugendlichen machen an dieser Gesamtschule in Gelsenkirchen einen qualifizierten Abschluss, kaum einer hat auf dem Arbeitsmarkt eine Chance. "Wer hier arbeitet, braucht eine dünne Haut und ein dickes Fell", sagen die Lehrer. Und der DGB-Vorsitzende hält die Ideale der Arbeiterbildung hoch.


Von Helene Conrady
Die Autorin arbeitet im Journalistenbüro words unlimited in Düsseldorf.


Gelsenkirchen-Ückendorf, ein Stadtteil nur wenige Haltestellen südlich vom Hauptbahnhof: schmale Straßen mit wilhelminischer Arbeiter-Architektur, Handy-Läden, Kampfsportbuden, Dönershops. Hier schlägt das Leben keine prickelnden Volten, hier ist man froh, wenn man Arbeit hat. Früher war die Zeche Rhein-Elbe der größte Arbeitgeber, aber die hat 1993 dicht gemacht. Heute gibt es hier kaum noch Industrie. Von den Erwerbsfähigen ist jeder Dritte arbeitslos, unter den Migranten sind sogar zwei Drittel ohne Arbeit. Wer die Bochumer Straße zur Gesamtschule entlanggeht, trifft kaum jemand; gelegentlich kreuzen Frauen die Straße, Kinderwagen, Kopftuch, den Blick gesenkt.

10 Uhr vormittags, erste Pause. Auf dem Schulhof schwirrt, schwatzt und lacht es. Die Kleinen kicken Bälle, die Größeren stehen plaudernd in der winterlichen Sonne. Deutsch wird hier kaum gesprochen. Acht von zehn Kindern stammen aus Migrantenfamilien, die meisten sind türkisch. Deutsch sprechen sie nur, wenn es absolut notwendig ist. Im Sekretariat beispielsweise oder im direkten Kontakt mit Lehrern. Selbst im Unterricht fallen sie untereinander sofort in ihre Muttersprache.

Nicht aus demonstrativer Ablehnung oder Feindseligkeit, nein, einfach weil es bequemer ist und vertrauter. Türkisch ist ihre Muttersprache, ist die Sprache ihrer Eltern, Familie, Freunde und Nachbarn, ist die Sprache, in der sie bis zu sieben Stunden pro Woche unterrichtet werden. Warum sollten sie sich anstrengen und Worte oder Begriffe nutzen, die ihnen tief drinnen im Herzen fremd sind und fremd bleiben werden?

"Erst als wir die Schule verlassen haben, ist uns klar geworden, wie wenig Deutsch wir wirklich verstehen, wie wenig wir gelernt haben! Das war ein Fehler." Das, so erzählt Schulleiterin Felizitas Reinert, erkannten zwei Schülerinnen, als sie ihr Pädagogik-Studium aufnahmen. Heute unterrichten die beiden jungen Frauen Deutsch - in der Sonntagsschule der Moschee im angrenzenden Gelsenkirchener Stadtteil Bulmke-Hüllen. Ihre Schüler: Kinder, deren Eltern oft zur zweiten oder dritten Generation der "Menschen mit Migrationshintergrund" zählen, wie Immigranten und ihre Kinder inzwischen politisch korrekt bezeichnet werden müssen.

Felizitas Reinert, eine zierliche, kleine Frau mit wachen dunklen Augen und grauen Haaren, ist eine echte Ruhrgebietspflanze, zupackend, schnörkellos, nüchtern, aber dabei nicht ohne Ideale. Sie ist seit Jahren Mitglied der Gewerkschaft GEW und der SPD - sie hat sich trotzdem einen eigenen Kopf bewahrt. Von ihrer Begegnung mit den beiden jungen Frauen berichtet sie sichtlich gern. Denn die Episode ist Beleg für beides: die Erfolge und die Misserfolge der Gesamtschule Ückendorf.

Die Erfolge lassen sich so zusammenfassen: Jedes Jahr legen 25 Schüler/-innen das Abitur ab. Angesichts von 1400 Schüler/-innen insgesamt ist dies wenig, aber "diese 25 hätten woanders keine Chance gehabt", betont die Schulleiterin. Und die Misserfolge? Die Mehrheit der SchülerInnen verlässt zwar die Schule mit einem qualifizierten Abschluss (Fachoberschulreife, Hauptschulabschluss), auf dem Arbeitsmarkt aber haben sie kaum eine Chance. Warum? "Schlechte Deutschkenntnisse", konstatiert Reinert. Doch das ist es nicht allein.

Vielen fehlt die Motivation und die Hoffnung auf eine selbstständige Zukunft, aber auch der Ehrgeiz, etwas dafür zu tun, vermutet die Schulleiterin und erzählt von einem Rollenspiel, das sie jüngst mit Schüler/-innen der 10. Klasse gemacht hat. Dabei sollten die jungen Leute lernen, wie man sich bewirbt und wie man sich im Vorstellungsgespräch verkauft.

Die Schulleiterin interviewte einen Jungen und ein Mädchen. "Ich hätte beide nicht eingestellt", so ihr Urteil. Während der Junge sich über den Tisch lümmelte und nicht in der Lage war, ein anlassgerechtes Verhalten zu entwickeln, legte das Mädchen einen Brief voller Fehler vor. Trotz mehrfacher Aufforderung der Deutschlehrerin an die Klasse, ihre Bewerbungsunterlagen in der Schule vorlegen und verbessern zu lassen, hatte die 16-Jährige dies nicht getan. "Die gehen gar nicht davon aus, dass sie eine Lehrstelle bekommen könnten", sagt Felizitas Reinert.

Ursache für diese Entwicklung ist das komplexe Zusammenspiel von Elternhaus, Schule und gesellschaftlicher Realität, das gerne mit dem Schlagwort Parallelgesellschaft bezeichnet wird. Für die meisten Migrantenkinder ist Deutsch die erste Fremdsprache, die sie erst lernen, wenn sie eingeschult werden. Sie benötigen daher einen besonderen Förderunterricht, um überhaupt das sprachliche Niveau der jeweiligen Klasse zu erreichen. Nicht selten hinken sie also schon in diesen Jahren fachlich hinterher. Reinert: "In dieser Zeit wird eine Auslese getroffen, und die Kinder lernen etwas, das sie ihr ganzes Leben lang begleiten wird." In einem Wort: Sie sind zweitklassig.

Viele Mädchen tragen Kopftücher, viele Jungs üben sich täglich in dem, was sie für Männlichkeit halten. Besonders beliebt: Man bezeichne ein Mädchen als "Schlampe"- und schon kann man bei den Kumpels Eindruck schinden. Die Parallelgesellschaft wird durch ein Schulsystem begünstigt, das es gut meint, weil auch die Muttersprache korrekt gelernt werden soll. Aber mit bis zu sieben Stunden Unterricht in türkischer Sprache leiden die Kenntnisse der deutschen Sprache zwangsläufig.

Vom Interesse daran ganz zu schweigen. Und noch etwas kommt hinzu, berichtet Felizitas Reinert: Verständnisprobleme bleiben oft unentdeckt. Kinder und Jugendliche reimen sich etwas zusammen, wenn sie Begriffe oder Konzepte nicht auf Anhieb verstehen. Die Lehrer/-innen aber bemerken dies nicht, weil ihnen möglicherweise nicht bewusst ist, welches (Alltags-)Wissen den Schüler/-innen fehlt. Wer nicht weiß, was ein Kloster ist, kann mit dem Wort Abt nichts anfangen - und dürfte Schwierigkeiten haben, manche Entwicklung in der europäischen Geschichte zu begreifen.

Der Nachwuchs wird sich selbst überlassen

"Wer hier arbeitet, braucht eine dünne Haut und ein dickes Fell", sagt Deutschlehrer Franz Schürig. Nach 14 Jahren an der Gesamtschule Ückendorf beschäftigen ihn die "extremen Biografien" seiner Schüler/-innen am meisten: Missbrauch, Krankheiten, Abschiebung - diese Schicksale haben ihn zu der Einsicht gebracht: "Man muss es aushalten können, dass man nichts ändern kann."

Daran, dass Eltern, die nicht mehr arbeiten oder nie gearbeitet haben, nicht in der Lage sind, morgens rechtzeitig aufzustehen, um ihre Kinder zur Schule zu schicken und ihren Nachwuchs daher sich selbst überlassen. Dass Eltern ihrer Verantwortung nicht nachkommen, dass Kontakte mit dem Jugendamt zum Alltag gehören - all das ist keine Ausnahme in Ückendorf.

Unter solchen Arbeitsbedingungen wird das Curriculum oft zweitrangig. Es gilt, andere Fragen und Probleme zu regeln. "Fachlehrerin wie meine Kollegen am Gymnasium, das bin ich schon lange nicht mehr", erklärt Sabine Henning, die Deutsch als Fremdsprache unterrichtet. "Trotzdem macht die Arbeit Spaß, denn ich kann den jungen Menschen etwas vermitteln. Außerdem ist der Zusammenhalt unter den Kollegen großartig, wir verstehen uns wirklich als Team." Petra Hunneke, Religions- und Sportlehrerin, wird noch pointierter: "Ich bin Sozialarbeiterin, keine Lehrerin."

Sie ist die Einzige, die außerdem ein heißes Thema anspricht: Mit 20 Prozent stellen die Deutschen eine Minderheit an der Gesamtschule Ückendorf dar. "Sie fühlen sich ausgegrenzt", behauptet Hunneke und fordert: "Es ist an der Zeit, etwas zum Schutz dieser Minderheit zu tun." So weit mögen ihre Kollegen Henning und Schürig nicht gehen, aber sie sehen sehr wohl das Problem, dass auch innerhalb der Schule Parallelwelten zementiert werden. "Letztlich verwalten wir hier nur den Mangel der gesamten Gesellschaft", sagen sie.

Runder Tisch mit dem Moscheeverein

Die Gesellschaft um die Schule beginnt sich durchaus ein paar Sorgen zu machen, die bald alle Ballungszentren betreffen werden. Uwe Gerwin, Mitarbeiter im Stadtteilbüro Gelsenkirchen Südost, hat die Zahlen parat: In Ückendorf und dem angrenzenden Bulmke-Hüllen, das auch zum Einzugsgebiet der Gesamtschule gehört, stammt jeder zweite Jugendliche aus einer Migrantenfamilie. In manchen Stadtvierteln sind mittlerweile 70 Prozent der unter fünfjährigen Kinder nicht deutsch. Der ganz überwiegende Teil der Zuwanderer sind Türken, die meisten stammen aus Zonguldak, einer Stadt an der Küste des Schwarzen Meeres.

Als "Koordinator für soziale Integration" entwickelt Gerwin Projekte, die diese Parallelgesellschaft - na ja - zumindest ein wenig bremsen. Dazu zählen Deutsch-Kurse für junge Mütter ebenso wie der Ückendorfer Weihnachtsmarkt, den Kirchen, Schulen und türkische Vereine gemeinsam organisieren. "Wichtig ist das Atmosphärische. Man muss den Migranten das Gefühl geben, dass sie erwünscht sind, das macht ein Viertel lebendig und freundlich", betont der Stadtteil-Integrator.

Und organisierte einen Runden Tisch, damals, als Nachbarn Stimmung gegen die Moschee machten. Durch den Dialog mit den religiösen Vertretern, da ist sich Gerwin sicher, kann man die gesamte Gemeinde erreichen. "Wir sind inzwischen so weit, dass wir auch schwierige Themen ansprechen können, beispielsweise die Kontakte der Moschee zu der islamistischen Gemeinschaft Milli Görüs."

Und doch ist die "deutsche Leitkultur", die Bundestagspräsident Norbert Lammert - er ist CDU-Abgeordneter im Wahlkreis Bochum - mit all den grundgesetzlichen Werten verankert haben will, hier weitgehend unbekannt. Ein Grund dafür: Die Mehrheit der Einwanderer stammt aus "bildungsfernen Schichten", wie Sozialarbeiter, Gewerkschafter und Lehrer immer wieder betonen. Will heißen: Wenn Eltern und Großeltern gerade mal lesen und schreiben können, wie sollen sie die Bedeutung einer guten Schulbildung und den Wert einer Berufsausbildung ermessen können?

Bildungskapital in Arbeitnehmerhand

"Pessimismus angesichts der Zustände in Gelsenkirchen-Ückendorf verbietet sich", sagt Josef Hülsdünker, der DGB-Vorsitzende des Bezirks Emscher-Lippe, und legt ein ganzes Maßnahmenbündel auf dem Tisch: eines, mit dem "Bildung anders organisiert" wird. Frei nach dem französischen Soziologen Pierre Bourdieu heißt sein Motto: "Bildungskapital in Arbeitnehmerhand" - als moderne Fortschreibung des alten Ideals der Arbeiterbildung.

Und dann legt Hülsdünker los: Erstens: Ganztagsbetreuung für Grundschulkinder muss Pflicht sein. Nur so lassen sich der Spracherwerb und das Hineinwachsen der Einwandererkinder in unser Wertesystem fördern. Zweitens: Keine freie Wahl der Grundschule, wie von der NRW-Landesregierung unter Jürgen Rüttgers (CDU) geplant. "Das führt zu Getto-Schulen, in denen vornehmlich Türkisch gesprochen wird und die Wertmaßstäbe des Islam gelten", befürchtet Hülsdünker. Drittens: Kinder und Jugendliche müssen früh - und nicht erst mit 16 - Berufs- und Karrierevorstellungen mit den dazugehörigen Fähigkeiten und Fertigkeiten entwickeln. Das heißt auch: Sie müssen ein entsprechendes Sozialverhalten entwickeln, betont der DGB-Mann.

"Wir brauchen keine Lernstandserhebungen, um herauszufinden, dass unsere Schüler schlecht sind", sagt die Schulleiterin der Gesamtschule, Felizitas Reinert, und zum ersten Mal klingt sie ein wenig bitter. "Was wir brauchen, ist eine Schule, die ganz anders organisiert ist." Reinerts Vision ist "eine Schule für alle" - ohne diese Einweisungen in Schultypen. In dieser wäre die "Individualisierung des Unterrichts" die wichtigste Aufgabe, was bedeutet: Lehrer müssen viel stärker als jetzt zusammenarbeiten. Daraus folgen: feste Arbeitszeiten, Anwesenheitspflicht von 8 bis 16 Uhr sowie 30 Tage Urlaub pro Jahr.

Die Zahl der Unterrichtsstunden aber sollte deutlich unter der jetzigen von rund 25,5 pro Woche liegen. Gleichzeitig sollten die Klassen deutlich kleiner werden - statt bisher 28 maximal 20 Schüler/-innen. "Wir wissen aus der Forschung, dass Peer-Groups für das Lernen entscheidende Impulse gegen können", sagt Reinert und wünscht sich Klassen, in denen sich Begabungen und Leistungsfähigkeit mischen, damit die Schwachen von den Starken lernen - und umgekehrt.

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