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Magazin Mitbestimmung

: Die Grenzen des Auslagerns

Ausgabe 11/2011

CHEMIEPARKS Die kompakten Chemiefirmen von einst sind heute Konglomerate mit vielen ausgelagerten, rechtlich selbstständigen Idustriedienstleistern – die IG BCE und das Netzwerk der Betriebsräte aus den Chemieparks warnen vor weiterem Zerkleinern und Abspalten. Von Stefan Scheytt

STEFAN SCHEYTT ist Journalist bei Tübingen/Foto: Jens Schlueter/ddp 

Knallbunte Neonröhren tauchen das Besucherzentrum des Chemiedienstleisters InfraLeuna in Leuna in ein flirrendes Licht. An einer Wand reihen sich Fläschchen mit Benzin, Granulat, Katalysatoren und vielen anderen Stoffen. In den Boden eingelassen, leuchtet ein zwei Quadratmeter großes Foto des Chemiestandorts, auf dem stehen die Betriebsräte Joachim Nowak und Reinhard Gärtner und erläutern das Gewirr aus Raffinerie, Fabriken, Türmen, Pipelines, Straßen und Gleisen.  

Reinhard Gärtner, Vize des InfraLeuna-Betriebsrats, weist auf die freien Flächen zwischen den Anlagen hin, die zum Teil mit Gras bewachsen sind und scherzt: „Das sind die ‚blühenden Landschaften‘, die uns Helmut Kohl versprochen hat.“ Oben im Betriebsratszimmer, wo früher die Stasi manchmal Mitarbeiter wegen angeblicher „Vergehen gegen den Arbeiter- und Bauernstaat“ in die Mangel nahm, erzählen Nowak und Gärtner aus der bewegten Geschichte des Chemiestandorts. Es ist die Geschichte einer Industrieansiedlung mit einst 27 000 Beschäftigten, die nach der Wende in Gefahr war, völlig zu verschwinden. Heute, nach vollständiger Privatisierung und vielen Restrukturierungsrunden, arbeiten in den mehr als 100 Firmen im Chemiepark Leuna 9000 Menschen, davon 700 bei der InfraLeuna-Gruppe. Das Dienstleistungsunternehmen gehört mehrheitlich einigen im Chemiepark ansässigen Firmen und versorgt sie mit Wasser, Strom, Dampf und Gas, organisiert die Logistik und die Entsorgung, betreibt die Werksfeuerwehr und den Werkschutz, kümmert sich um die Standortentwicklung, den Telefonanschluss und eine Reihe weiterer Services. 

BLAUPAUSE LEUNA_ Für eine 40-Stunden-Woche bei der InfraLeuna tragen die Beschäftigten im Durchschnitt netto rund 1.500 Euro nach Hause; das ist – die Öffnungsklausel macht es möglich – etwa zehn Prozent unter dem Chemietarifvertrag Ost und rund 25 Prozent unter dem Reallohnniveau vergleichbarer Unternehmen im Westen, rechnet der Betriebsratsvorsitzende Joachim Nowak vor. Dennoch sagen die IG-BCE-Mitglieder Nowak und Gärtner mit großer Überzeugung: „Der Standort Leuna und die InfraLeuna sind eine Erfolgsgeschichte.“ Zum Beispiel wegen der erfolgsabhängigen Einmalzahlung, der flexiblen Arbeitszeitsysteme und dem ordentlichen Zuschuss zu den Kita-Gebühren, wegen „weicher Benefits“ wie dem kostenlosen Servicebüro für Familien und dem attraktiven Gesundheitsvorsorge-Programm – Leistungen, die den beträchtlichen Lohnabstand zum Teil wieder kompensieren. Außerdem gelten für alle Beschäftigten einheitliche, bereichsübergreifende Entgelt-Strukturen, weshalb Werkschützer, Laborassistent oder Lokführer nicht unterschiedlich bezahlt werden – „das ist das Solidarprinzip unseres Haustarifvertrags“, sagt Joachim Nowak. Es ist nicht so, dass der Betriebsrat und die Mitarbeiter von InfraLeuna nicht immer wieder unter Druck gerieten, eine Dienstleistung für weniger Geld zu erbringen, weil sonst eine Auslagerung an externe Konkurrenten drohe. Aber allgemein herrscht bei ihnen das Gefühl vor, dass sie den schlimmsten Teil lange hinter sich gelassen haben: „Bei uns ging es in den ersten Jahren nach der Wende ums Überleben und seither Schritt für Schritt nach oben. Seit 2003 sind wir komplett restrukturiert und heute ein Standort mit hochmodernen Anlagen und zukunftssicheren Arbeitsplätzen“, sagt Betriebsrat Gärtner. Kollege Nowak ergänzt: „Die Kollegen im Westen hingegen haben diese Umstrukturierung teilweise noch nicht durchgestanden.“ Mit anderen Worten: Sie müssen sich dagegen wehren, von einem hohen Level auf einen niedrigeren gedrückt zu werden. 

Tatsächlich waren die ehemaligen Kombinate im Chemiedreieck Leuna, Buna und Bitterfeld so etwas wie die Blaupause für den Umbau der chemischen Industrie im Westen. Seit Anfang der 1990er Jahre wurden dort die Konzernstrukturen radikal verändert, die Chemieunternehmen verengten ihr Geschäft auf Kernkompetenzen und verkauften oder gliederten die Randbereiche an externe Dienstleister aus. So entstanden bis heute gut 40 Chemieparks, in denen das, was einst zusammengehörte, in sehr heterogene Gebilde zersplittert ist. Das bekannteste Beispiel ist die Hoechst AG, die von 1994 an in ihre Einzelteile zerlegt wurde und sich heute als Industriepark Frankfurt-Höchst präsentiert mit mehr als 90 Unternehmen, darunter die Betreibergesellschaft InfraServ (das Pendant zu InfraLeuna). Entsprechend atomisierten sich auch die Betriebsräte: Wo zuvor ein großes, einflussreiches Gremium mit freigestellten Betriebsräten agierte, sind heute viele kleine Gremien, die nach Köpfen unter Umständen sogar größer sind, in ihrer Schlagkraft aber geschwächt. Zudem treten durch neue externe Dienstleister in den Chemieparks auch zusätzliche Gewerkschaften auf den Plan. 

VON ÄPFELN UND BIRNEN_ In der ersten Phase eines solchen Umbaus wurden typischerweise zuerst Nicht-Kernkompetenzen wie die Instandhaltung, die Analytik oder die Ver- und Entsorgung ausgegliedert, in einer zweiten Phase folgten dann oft weitere Bereiche wie die Logistik oder die Aus- und Weiterbildung. Bei einem Kongress des Wirtschaftsverbands für Industrieservice (WVIS) jüngst in Köln (Titel: „Quo vadis Industrieparkservice?“) gewann der Berater Werner Voß den Eindruck, dass viele Betreibergesellschaften angesichts der Erfahrungen im Zuge der Finanzkrise mit weiteren Ausgliederungen durch die Chemieproduzenten rechnen. Es soll sogar Überlegungen geben, dass die Chemieunternehmen gar nicht mehr selbst ihre Anlagen betreiben, sondern die Produktion im Stil einer Lohnfertigung an billigere Dienstleister vergeben. Detlef Rennings, Betriebsratsvorsitzender bei Currenta in Krefeld-Uerdingen, beschreibt den Druck und die mehr oder weniger versteckte Drohung zur weiteren Auslagerung als einen Dauerzustand. Bei Currenta – hervorgegangen aus der Bayer AG und der Lanxess AG als Betreiber des CHEMPARK – werde eine „immerwährende Diskussion über Wettbewerbsfähigkeit und somit über Arbeitszeiten und Entgelte geführt. Ständig werden wir mit irgendwelchen Billigheimern auf der ‚grünen Wiese‘ verglichen“, ärgert sich Rennings. Dabei sei das ein Vergleich zwischen Äpfeln und Birnen: „Ich glaube einfach nicht, dass sich unsere Dienstleistungen in dieser Qualität so einfach anderswo einkaufen lassen. Auch wenn wir jetzt ein separates Unternehmen sind, kommen wir alle aus der Großindustrie und verfügen über ein Wissen, das andere nicht haben. Wir haben es nicht nötig, den ‚billigen Jakob‘ abzugeben.“ 

Der pausenlose Kostendruck zeigt Wirkung. „Es ist uns zwar gelungen, die Dienstleister in den Chemieparks bis auf ganz wenige Ausreißer weiterhin im Chemietarifvertrag zu halten“, sagt Tomas Nieber, Leiter der Abteilung Wirtschafts- und Industriepolitik beim Hauptvorstand der Gewerkschaft. Doch der Preis dafür sind Öffnungsklauseln, die es bei den Betreibergesellschaften in den Parks häufiger gibt als sonst in der chemischen Industrie. „Meist erhöhten sich die Arbeitszeiten, zum Teil auf bis zu 40 Stunden pro Woche, weniger häufig wurden geringere Entgelte ausgehandelt“, weiß Berater Werner Voß, der im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung 2007 und 2010 zwei Studien über Chemieparks anfertigte. Betriebsrat Detlef Rennings bei Currenta im CHEMPARK Krefeld-Uerdingen erlebt gerade eine neue Variante des Kostendrucks: Als die 2007 vereinbarte Erhöhung der Arbeitszeit auf 40 Stunden (ohne Entgeltausgleich) nach überstandener Finanzmarktkrise 2010 wieder auf 39 bzw. 38,5 Stunden zurückgedreht wurde, verrechnete Currenta diese angebliche Verteuerung einfach mit der freiwilligen Beteiligung am Unternehmenserfolg. „So geht man nicht miteinander um“, kommentiert Rennings, „denn letztlich haben wir mit der tariflichen Lösung in 2007 das Unternehmen aus den roten Zahlen geführt.“ 

INTERVIEW: BASF-Betriebsratsvorsitzende Oswald über das Verbundmodell bei der BASF SE Ludwigshafen hier zum Download

QUA VADIS INDUSTRIEPARKSERVICE?_ Kann das Umbautempo unvermindert weitergehen? Berater Werner Voß hat seine Zweifel daran und verweist darauf, dass sich das Chemiepark-Konzept in europäischen und arabischen Staaten weniger durchgesetzt hat als von vielen ursprünglich vermutet. Auch der Gigant BASF SE, laut Boston Consulting das weltweit erfolgreichste Chemieunternehmen der vergangenen Jahre, hat am integrierten Verbundkonzept festgehalten (siehe Interview Seite 14). „Wir Gewerkschafter leugnen ja gar nicht die erheblichen Wettbewerbsverschärfungen durch neue Player aus Arabien, Indien oder China“, sagt Reiner Hoffmann, Leiter des IG-BCE-Landesbezirks Nordrhein, in dem viele Chemieparks beheimatet sind. Hoffmann räumt auch gerne ein, dass die deutsche Chemieindustrie auch deshalb international so hervorragend dasteht, weil sie vieles richtig gemacht hat. „Falsch ist aber, immer nur die Beschäftigten zur Kostensenkung heranzuziehen. Gerade die energie- und rohstoffintensive Chemiebranche hat da noch ganz andere Stellschrauben.“ Chemie ist Verbundwirtschaft, beharrt Hoffmann, nach 20 Jahren des Filetierens und Auslagerns „sind wir jetzt an einem Punkt angelangt, wo es höchst bedenklich wird“. 

Die Grenzen sind zum Beispiel dann erreicht, „wenn das Outsourcen den Koordinierungsaufwand und das Management der Komplexität dermaßen in die Höhe treibt, dass es unwirtschaftlich wird“, erklärt IG-BCE-Abteilungsleiter Tomas Nieber. Im schlimmsten Fall führen nicht beherrschte Komplexität oder nicht geleistete Koordinierung zu Katastrophen. „Kleinste Nachlässigkeiten können riesige Wirkungen haben, auch in betriebswirtschaftlicher Hinsicht“, warnt Berater Werner Voß. „Der verheerende Unfall auf der BP-Bohrinsel im Golf von Mexiko war auch Folge der vielen Auslagerungen. Er lehrt, dass zunehmende Arbeitsteilung mit stärkerer Regulierung einhergehen muss.“ Die Grenzen könnten auch bald erreicht werden, wenn der absehbare Mangel an qualifiziertem Nachwuchs durchschlägt. Sagt Currenta-Betriebsrat Detlef Rennings: „Die Guten gehen dahin, wo es gutes Geld und gute Arbeitsbedingungen gibt. Die Arbeitgeber müssen sich deshalb auch gut überlegen, ob sie weiter an der Arbeitszeit und den Entgelten herumdrehen wollen.“ 

COCKPIT LÄSST GRÜßEN_ Schließlich könnte das fortwährende Zerkleinern und Abspalten noch einen weiteren Bumerang auf den Weg schicken: Je zersplitterter und isolierter die Belegschaften in den Chemieparks, umso höher die Wahrscheinlichkeit, dass ihre Vertreter nur noch die Partikularinteressen dieser Gruppe verfolgen. So warnt Landesbezirkschef Reiner Hoffmann davor, dass etwa der Verband der Feuerwehren einmal so etwas werden könnte wie der Marburger Bund oder die Vereinigung Cockpit. „Da müssen sich Firmen wie Bayer, Lanxess oder Currenta schon überlegen, ob sie das soziale Gefüge und den Interessenausgleich in den Chemieparks weiter gefährden wollen. Wenn einzelne berufsständische Organisationen den Hebel in die Hand bekämen, auch ohne Brand einen Chemiepark lahmzulegen, wäre das weder im Interesse der Arbeitgeber noch der DGB-Gewerkschaften.“

Gegen Atomisierung hilft Zusammenführen. Die IG BCE hat deshalb schon vor einigen Jahren damit begonnen, Netzwerke zu initiieren und zu koordinieren – solche für die Betreibergesellschaften verschiedener Chemieparks und solche für die unterschiedlichen Dienstleister an einem Standort. „Ist doch eigentlich selbstverständlich, die Arbeitgeber machen das ja auch“, meint Currenta-Betriebsrat Detlef Rennings. „So können wir gegensteuern, dass die Betreibergesellschaften und Dienstleister vor Ort nicht gegeneinander ausgespielt werden.“ Zum bundesweiten Netzwerk gehören auch die Betriebsräte Reinhard Gärtner und Joachim Nowak aus Leuna, „übrigens die Einzigen aus dem Osten“, wie Nowak bedauert. Auch auf lokaler Ebene haben die Arbeitnehmervertreter 1998 einen Arbeitskreis der rund 40 Betriebsrats-Gremien im Chemiepark Leuna gegründet, der sich regelmäßig über Standortthemen austauscht. Joachim Nowak: „Wenn wir bei wichtigen aktuellen Themen als Sprecher von 9000 Menschen im Chemiepark auftreten, dann registriert das die Politik durchaus anders, als wenn ich nur als ‚kleiner Betriebsrats-Fuzzi‘ der 700 InfraLeuna-Kollegen auftrete. Wir müssen den Standort als Ganzes begreifen, und jeder Arbeitskreis und jedes Netzwerk ist ein Instrument gegen diese verdammte Entsolidarisierung der Gesellschaft.“

Mehr Informationen

Chemieparks – Herausforderungen für die Betriebs- und Tarifpolitik. Doku des Workshops für Betriebsräte aus Chemieparks am 28./29. Juni 2010 in Köln. Hrsg. vom IG-BCE-Landesbezirk Nordrhein, E-Mail: lb.nordrhein@igbce.de

Studie von Werner Voß: Benchmark Arbeitszeiten – Regelungen und Praxis bei Betreibergesellschaften in Chemieparks. HBS-Projekt, 2010
Zum Download unter: www.bockler.de > Forschungsförderung > Projekte > Stichwort: Benchmark

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