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Nach Öffnung der DDR-Grenzen zum Westen (9.11.1989): Eine Gruppe von Menschen sitzt auf der Berliner Mauer und hält ein Plakat mit der Aufschrift „Solidarnosc“ hoch. Magazin Mitbestimmung

Geschichte: Die Gewerkschaften im vereinten Deutschland

Ausgabe 01/2020

Die Gesellschaft war auf den Mauerfall kaum vorbereitet. Nach einer Phase des Zögerns bauten die Gewerkschaftem im Osten demokratische Strukturen auf und versuchten, die Folgen der Transformation abzufedern. Bis heute ist die Tarifbindung dort aber deutlich geringer. Von Detlev Brunner, Professor an der Universität Leipzig, Lehrstuhl für Deutsche und Europäische Geschichte des 19. bis 21. Jahrhunderts

Die umstürzenden Ereignisse des Jahres 1989 in der DDR trafen die deutschen Gewerkschaften unvorbereitet. Der DGB agierte zunächst zögerlich. Er teilte diese Zurückhaltung mit einem Großteil der westdeutschen Politik und Gesellschaft. Im Herbst 1989 war noch unklar, wie sich die DDR entwickeln würde. In den Betrieben der DDR regten sich Initiativen zur Erneuerung der Gewerkschaftsbewegung. Die im FDGB eingegliederten Gewerkschaften erklärten ihre Autonomie und leiteten in unterschiedlichem Ausmaß Reformprozesse ein. Der FDGB selbst erwies sich als völlig reformunfähig, er wurde auf dem außerordentlichen Kongress im Januar/Februar 1990 in einen Dachverband umgewandelt und im September des Jahres aufgelöst. Seine jahrzehntelang den SED-Direktiven folgende Politik hatte das Vertrauen der Beschäftigten zu dieser DDR-Massenorganisation gründlich zerstört. 

Der mit der Einführung der Währungsunion ab 1. Juli 1990 massiv auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiet einsetzende Umwandlungsprozess erforderte jedoch handlungsfähige Gewerkschaften im bald vereinten Deutschland. An den zentralen Entscheidungen wie der Währungsunion waren die Gewerkschaften – Ost wie West – wenn überhaupt nur unzureichend beteiligt. Auch beim Umbau des ökonomischen Systems in eine soziale Marktwirtschaft waren die Gewerkschaften, immerhin ja wichtige Träger dieser Marktwirtschaft, vor allem zu Beginn des Prozesses ausgeschlossen. Erst nach dem Vollzug der Einheit am 3. Oktober 1990 änderten sich die Strukturen, wobei von einer wirklichen Mitbestimmung in Form von Parität in den maßgeblichen Entscheidungszentren, allen voran der Treuhandanstalt, nicht die Rede sein konnte.

In diesem Zeitraum vollzog sich auch der gewerkschaftliche Vereinigungsprozess, wobei von einer Vereinigung von West- und Ost-Gewerkschaften im eigentlichen Sinn nicht die Rede sein konnte. Die Mitglieder der aufgelösten DDR-Gewerkschaften traten den nun gesamtdeutschen Gewerkschaften im DGB bei.

Kampf um industrielle Kerne

In einer rasanten Zeit, in der sich fast täglich die Nachrichten überschlugen, blieb wenig Raum für langfristige wirtschaftspolitische Konzeptionen. Allerdings entwickelten die ab Ende 1990 vereinten deutschen Gewerkschaften zahlreiche Initiativen im Bereich des Tarifwesens und bei der Abfederung der sozialen Folgen der wirtschaftlichen Transformation. Die schrittweise Angleichung der Löhne war eine zentrale Forderung, die in den Branchen unterschiedlich erfolgreich durchgesetzt werden konnte. 

Dabei gab es auch Rückschläge. Ein Beispiel ist der 1991 vereinbarte Stufentarifvertrag der IG Metall, der die Angleichung auf dem Niveau des bayrischen Metall-Tarifs bis 1994 vorsah. 1992 kündigten die Arbeitgeber den laufenden Tarifvertrag – ein in der bundesrepublikanischen Tarifgeschichte einmaliger Vorgang. Mit dem 1993 ausgerufenen Streik konnte die IG Metall immerhin die Streckung des Stufentarifvertrags bis 1996 retten, allerdings mit zahlreichen Ausnahmeregelungen. Der Erhalt von Arbeitsplätzen war ein weiterer Schwerpunkt der gewerkschaftlichen Anstrengungen. Dabei war klar, dass der Strukturwandel auch mit Arbeitsplatzverlusten einhergehen würde. Der Kampf um industrielle Kerne wie in Halle-Bitterfeld oder der Aufbau von Gesellschaften zur Arbeitsförderung, Beschäftigung und Strukturentwicklung waren Beispiele einer erfolgreichen gewerkschaftlichen Arbeit. 

Mitgliederschwund in Ostdeutschland

Dennoch hatten die vereinten Gewerkschaften mit einem gravierenden Mitgliederverlust zu kämpfen. Von 11,8 Millionen Ende 1992 reduzierte sich die Mitgliederzahl 2005 auf 6,8 Millionen. Besonders deutlich war der Rückgang in den neuen Bundesländern. Dort sank die Zahl von 1991 bis Ende 1995 von 4,2 auf 2,4 Millionen. 2018 werden knapp 6 Millionen gezählt. Der Mitgliederschwund im Osten Deutschlands war eine Folge der Arbeitslosigkeit, des Vertrauensverlusts in die alten FDGB-Gewerkschaften, aber auch eine Folge des Funktionswandels der Gewerkschaften. Die in der DDR obligatorische Mitgliedschaft, die sich in allerlei Dienstleistungen, nicht zuletzt bei den begehrten Ferienplätzen auszahlte, war Vergangenheit.

Mit dem Wandel der Wirtschaft und der neuen Funktionsbestimmung von Gewerkschaften im Osten Deutschlands gingen Veränderungen der gewerkschaftlichen Praxis einher, die von westlicher Seite nicht vorhergesehen worden waren. Das in der alten Bundesrepublik lange eingeübte Prinzip der Interessenvertretung, beruhend auf dem Dualismus betrieblicher Mitbestimmung einerseits und der Tarifparteien in Form von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden andererseits, nahm im Osten Deutschlands eine andere Gestalt an. Der Betrieb als Aushandlungsort gewann an Bedeutung, dies war von den neoliberalen Verfechtern einer Flexibilisierung arbeits- und tarifrechtlicher Standards eingefordert worden, entsprach aber auch Praktiken aus realsozialistischen Zeiten. 

Laboratorium neue Bundesländer

Zu Zeiten der DDR wurden unterhalb der offiziellen Planvorgaben zwischen Belegschaftsvertretung und Betriebsleitung Vereinbarungen getroffen, die für beide Seiten tragbar waren – Erfahrungen, die nach der Wende weiterwirkten. Das Stichwort lautete Verbetrieblichung, die Verlagerung der Aushandlung der Arbeitsbedingungen auf die Ebene des Betriebs. 

Darunter litt die von den Gewerkschaften angestrebte flächenmäßige Tarifbindung, doch gewerkschaftliche Handlungsspielräume waren damit nicht ausgeschlossen. Anpassungsleistungen auch westlicher Akteure waren gefragt, eine schlichte Übertragung altbundesrepublikanischer Handlungsmodelle war nicht von Erfolg gekrönt. Das Laboratorium neue Bundesländer wirkte übrigens auch in der vereinten Bundesrepublik. Im Pforzheimer Abkommen einigten sich IG Metall und Metallarbeitgeber 2004, dass Unternehmen befristet von Tarifverträgen abweichen dürfen, wenn sie dadurch Arbeitsplätze sichern oder neue schaffen. Die mangelnde Tarifbindung ist jedoch ein Grund für niedrigere Löhne. Zum Stand 2014 war die Tarifbindung in Ostdeutschland mit 47 Prozent deutlich geringer als in den alten Bundesländern, mit 60 Prozent. Während der öffentliche Dienst mit seiner hohen Tarifbindung Vorreiter bei der Angleichung der Löhne in Ost und West war – die Beschäftigten im ostdeutschen öffentlichen Dienst erreichten 2014 91 Prozent des Westniveaus –, bildete das produzierende Gewerbe mit nur 64,5 Prozent seit 1995 das Schlusslicht.

Beitrag zur sozialen Stabilität geleistet

30 Jahre nach der Wiedervereinigung kann die Bilanz der Gewerkschaften angesichts der enormen Herausforderungen nur ambivalent ausfallen – eine reine Erfolgsgeschichte kann nicht geschrieben werden. Doch angesichts der vielen Zumutungen und sozialen Verwerfungen haben die Gewerkschaften einen maßgeblichen Beitrag zur sozialen Stabilität und damit auch für die deutsche Demokratie geleistet. Für die künftigen Herausforderungen der digitalen Transformation werden sie als gesellschaftspolitische Stimme und als Korrektiv für eine soziale Ausgestaltung unverzichtbar sein.

  • Nach Öffnung der DDR-Grenzen zum Westen (9.11.1989): Eine Gruppe von Menschen sitzt auf der Berliner Mauer und hält ein Plakat mit der Aufschrift „Solidarnosc“ hoch.
    Nach Öffnung der DDR-Grenzen zum Westen (9.11.1989): Eine Gruppe von Menschen sitzt auf der Berliner Mauer und hält ein Plakat mit der Aufschrift „Solidarnosc“ hoch. (Foto: akg-images/Lothar M. Peter)

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