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Magazin Mitbestimmung

Zur Sache: Der vergessene Arbeiteraufstand

Ausgabe 07+08/2013

Über das Gedenken an den 17. Juni 1953 sagt der Historiker und ehemalige Böckler-Stipendiat Ilko-Sascha Kowalczuk: „Es ist erstaunlich, dass sowohl die SPD wie auch die Gewerkschaften diesen Volksaufstand immer wieder so unbeachtet lassen.“

Der Aufstand kam überraschend. Niemand hatte mit ihm gerechnet, weder in Ost noch in West. Acht Jahre nach dem Untergang des „Tausendjährigen Reiches“ hielt es niemand für möglich, dass Diktaturen von innen niedergekämpft werden könnten. Die Erfahrung mit dem deutschen Nationalsozialismus und dem sowjetischen Bolschewismus legten andere Szenarien nahe. Staat und Gesellschaft befanden sich in der DDR 1953 in einer tiefen Krise, die niemanden verschonte. Die Fluchtzahlen stiegen in der ersten Jahreshälfte rasant an, und die SED-Führung machte weiter wie bislang: hart und rücksichtslos. Nach Stalins Tod am 5. März 1953 kamen die neuen Moskauer Herrscher zu dem Schluss, dass die DDR auseinanderbrechen würde, würde der Flüchtlingsstrom so weitergehen.

Walter Ulbricht, der mächtige Statthalter Moskaus in Ostberlin, wurde Anfang Juni 1953 in die sowjetische Hauptstadt zitiert. Dort teilte man dem fassungslosen Funktionär mit, dass er unverzüglich einen „Neuen Kurs“ zu verkünden habe. Unmittelbar nach seiner Rückkehr geschah dies am 10. und 11. Juni. Im Kern sah der „Neue Kurs“ vor, einen Großteil der seit 1952 betriebenen Politik zurückzunehmen: Der Kampf gegen die Kirchen, gegen den Mittelstand und die Bauern wurde (vorerst) eingestellt, politisch motivierte Gerichtsurteile sollten überprüft und revidiert werden, sozialpolitische Maßnahmen sollten den prekären Alltag materiell aufbessern. Die eigene Partei war von der radikalen Kursschwenkung völlig überrascht und tagelang, da es keine weiteren Anweisungen gab, völlig handlungsunfähig, ebenso wie der gesamte Staats- und Machtapparat.

Das Eingeständnis, Fehler begangen zu haben, nahm die Gesellschaft als Bankrotterklärung des Systems wahr. Bereits am 12. Juni versammelten sich in verschiedenen Orten Menschen vor den Gefängnissen und forderten die Freilassung der politischen Häftlinge – was in Brandenburg und andernorts tatsächlich geschah. Bereits am 13. Juni mussten SED, Gewerkschaften, Polizei und Staatssicherheit in der gesamten DDR immer lauter werdende Rufe nach dem Rücktritt der Regierung und freien Wahlen vernehmen. Unter Zwang gebildete LPG lösten sich auf. In vielen Betrieben drohten die Arbeiter Streiks an, der Ruf nach der Wiederbegründung der SPD und freier Gewerkschaften kam auf. Auf der prestigeträchtigen Großbaustelle Stalinallee/Krankenhaus Friedrichshain in Ostberlin brachen am 16. Juni größere Streiks aus. Westliche Radiosender, vor allem der RIAS, berichteten darüber.

Am 17. Juni kam das öffentliche Leben in Ostberlin weithin zum Erliegen, fast alle Großbaustellen und Großbetriebe streikten, Hunderttausende demonstrierten in der Innenstadt. Der Funken sprang nun aufs gesamte Land über: In über 700 Städten und Gemeinden streikten, demonstrierten und protestierten etwa eine Million Menschen. Zentrale Ziele waren freien Wahlen, die Wiederherstellung der deutschen Einheit sowie die Verbesserung der sozialen Lebensumstände. Das sowjetische Militär schlug den Aufstand nieder. Der Aufstand hatte keine Chance. Dutzende bezahlten ihren Mut mit dem Tod, Hunderte wurden verletzt, Zehntausende flüchteten anschließend in den Westen. Es kam zu standrechtlichen Erschießungen, über 1800 Männer und Frauen wurden zu Haftstrafen verurteilt.

In der DDR ist der Aufstand nur wenige Stunden nach seiner Niederschlagung als „faschistischer Putschversuch“ denunziert worden. Noch heute glaubt so mancher an die Legenden, die die SED über drei Jahrzehnte verbreitete. In der Bundesrepublik ist der 17. Juni noch 1953 zum „Tag der deutschen Einheit“ (bis einschließlich 1990) und 1963 zum „nationalen Gedenktag“ (bis heute) proklamiert worden. Im Laufe der Jahre verkam der Feiertag, an dem in den 50er Jahren alljährlich Millionen Menschen in der Bundesrepublik an die Unfreiheit in der „Zone“ gemahnt hatten, zu einer bloßen sozialpolitischen Errungenschaft. Als ab den späten 1960er Jahren immer wieder einmal über die Abschaffung des „Tags der deutschen Einheit“ debattiert wurde, erwiesen sich die Gewerkschaften als eifrige Verfechter des Feiertages – auch weil den Arbeitnehmern der freie Tag im sonnigen Juni als sozialer Besitzstand nicht genommen werden sollte. Aus dem Volksaufstand war längst ein Arbeiteraufstand, aus dem flächendeckenden Aufstand ein Ostberliner Ereignis, aus dem Kampf für Freiheit und Einheit allein ein Kampf für sozialpolitische Verbesserungen und gegen zu hohe Normen geworden. Geschichtsdeutungen versprühten auch in der alten Bundesrepublik den tagesaktuellen Zeitgeist – zumal wenn es um den Osten ging.

Erst mit dem Fall der Mauer und der Öffnung der Archive konnte der Volksaufstand wieder in seiner Breite gewürdigt, erforscht und bekannt gemacht werden. Es dauerte bis zum 50. Jahrestag im Jahr 2003, bis das historische Ereignis ins gesellschaftliche Bewusstsein zurückgelangte – um anschließend wieder in Vergessenheit zu geraten.

Jetzt, zehn Jahre später flackerte kurzzeitig der Erinnerungsboom noch einmal auf – folgenlos. Erstaunlich ist, dass sowohl die SPD wie auch die Gewerkschaften diesen Volksaufstand immer wieder so unbeachtet lassen. Sie sind doch sonst so stolz auf solche historischen Ereignisse. Warum nur können sie mit dem 17. Juni 1953 offenbar so wenig anfangen? Nicht zuletzt vor dem aktuellen Zustand Europas dürfte es doch hilfreich sein, darauf hinzuweisen, dass Krisen keine typischen Erscheinungen nur unserer Gegenwart sind. Charakteristisch war immer, sich gegen Unrecht zu wehren, sich einzusetzen, ohne zu fragen, was am Ende dabei herauskommt. In solcher Perspektive wird die Gegenwart vielleicht nicht besser, aber unter Umständen zukunftsträchtiger.

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