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Magazin Mitbestimmung

: Der Osten muckt auf

Ausgabe 07+08/2011

UNTERNEHMEN Die Wirtschaft boomt – doch in den neuen Ländern sind etliche Regionen nahezu tariffrei. Das könnte sich nun ändern. Im Zellstoffwerk Stendal und bei Solar Energy in Erfurt erkämpften Beschäftigte und Gewerkschaften jetzt Tarifverträge mit Referenzcharakter. Von Guntram Doelfs

Von Guntram Doelfs ist Journalist in Berlin/Foto: Peter Himsel

 Es ist kurz vor 14 Uhr, als Dennis Garbe von seinem imposanten Arbeitsplatz aus die Leiter hinabsteigt. Garbe hat Feierabend. Gerade ist der 31-Jährige noch durch das unübersichtliche Gewirr aus Stahlleitungen und Kesseln gewuselt. Als Anlagenfahrer im Zellstoffwerk Stendal überwacht Garbe den laufenden Betrieb an der sogenannten Eindampf­anlage, wo der im Produktionsprozess von Zellstoff entstehenden Schwarzlauge das Wasser entzogen wird. Ein anspruchsvoller Job, der ruhige Fachkräfte mit kühlem Kopf verlangt.

Doch Dennis Garbe kann auch ganz anders, wie er am 7. März bewies. Da baute sich der junge Vater vor den Geschäftsführern des Zellstoffwerkes auf und hielt diesen während eines Warnstreiks ein Protestschild vor die Nase. Mit Erfolg. Garbe, der noch vor einem Jahr als schlecht bezahlter Leiharbeiter in einer Schlosserei geschuftet hatte, erkämpfte mit seinen Kollegen einen Firmentarifvertrag und die schrittweise Anbindung an den Flächentarifvertrag der ostdeutschen Papierindustrie. „Wenn man etwas will, muss man es auch durchsetzen wollen. Von nichts kommt eben nichts“, sagt der Anlagenfahrer.  

Dieses Selbstbewusstsein überraschte sogar den Betriebsrat. Zeitweilige Langzeitarbeitslose oder Leiharbeiter gelten in Ostdeutschland nicht als konfliktfreudig im Umgang mit Arbeitgebern. „Viele von ihnen sind froh, wieder einen guten Job zu haben“, weiß Jan Melzer, stellvertretender Betriebsratschef im Werk. Rund um Stendal – 125 Kilometer westlich von Berlin – brachen nach der Wende mehrere Zehntausend Industriejobs weg. Im Zellstoffwerk ist diese Vergangenheit noch sehr präsent. Wer den Blick über das Gelände hinaus Richtung Elbe schweifen lässt, erblickt die Ruinen des unvollendeten Atomkraftwerks Arneburg. Der Bau des Meilers war zwar ein Milliardengrab für die ehemalige DDR, beschäftigte aber immerhin mehr als 10 000 Menschen. 

Umso größer waren in Sachsen-Anhalt die Hoffnungen, als im Jahr 2004 das modernste Zellstoffwerk in Mitteleuropa den Betrieb aufnahm. Mit mehr als einer Milliarde Euro ist es die zweitgrößte Industrieinvestition in den neuen Ländern. Bundeskanzler Gerhard Schröder schwärmte damals von einem „Leuchtturmprojekt“. Mehr als 15 000 Menschen bewarben sich um einen Job, rund 600 fanden schließlich einen Arbeitsplatz. Nur hatte die Arbeit im neuen Vorzeigewerk der amerikanisch-kanadischen Mercer-Gruppe von Beginn an einen Schönheitsfehler: Das Lohnniveau lag bei nur 78 Prozent des Flächentarifvertrages Ost der papiererzeugenden Industrie – und Zellstoff Stendal sollte nach dem Willen des Arbeitgebers auch künftig ohne Tarifvertrag bleiben.  

Der Großbetrieb in Arneburg – 15 Kilometer nordöstlich von Stendal – ist in den neuen Bundesländern kein Einzelfall. Die Industriegewerkschaften kämpfen dort seit Jahren branchenübergreifend gegen eine Tarifflucht der Arbeitgeber und gegen Versuche, die Gewerkschaften systematisch aus den Betrieben zu verdrängen. Von 1996 bis 2010 sank der Anteil der Beschäftigten, die in Ostdeutschland einer Tarifbindung unterlagen, laut IAB-Betriebspanel von 56 auf 37 Prozent. Nur 17 Prozent aller ostdeutschen Betriebe unterlagen einem Branchen-, Haus- oder Firmentarifvertrag.  

TARIFFREIE SOLARBRANCHE_ Noch schlimmer ist die Lage bei den erneuerbaren Energien. In der Solarindustrie oder im Windanlagenbau behindern die Unternehmen massiv den Aufbau gewerkschaftlicher Strukturen. So ist „die Solarbranche mit ihren derzeit rund 150 000 Beschäftigten weitgehend tariffrei; Betriebsräte und die Unternehmensmitbestimmung in Aufsichtsräten sind dort weitgehend unbekannt“, klagt Armin Schild, Leiter des IG-Metall-Bezirks Hessen-Thüringen. Bislang gelang es IG Metall und IG BCE nur vereinzelt, Firmen­tarifverträge abzuschließen, etwa bei Schott-Solar, einer Tochter des Mainzer Technologiekonzerns Schott AG.  

270 Kilometer südlich von Stendal gehört Lutz Hohlbein zu jener kleinen Schar von Betriebsräten, die das Gesicht der Solarbranche verändern wollen. Sein Arbeitsplatz liegt im Industriegebiet von Arnstadt, rund 20 Kilometer südwestlich von Erfurt. Hohlbein ist Betriebsratsvorsitzender bei der Bosch Solar Energy AG, einem Tochterunternehmen der Stuttgarter Bosch-Gruppe. Der Stuttgarter Automobilzulieferer ist 2008 in die boomende Solarbranche eingestiegen und investiert derzeit 530 Millionen Euro in das Thüringer Industriegebiet, um hier Produktion und Entwicklung seiner bisherigen drei Betriebsteile in der Region Erfurt auszubauen und zu bündeln.  

Ende Mai empfängt der Betriebsratsvorsitzende seine Gäste noch an einer staubigen Baustelleneinfahrt. Während die neue „Cell Fab 3“, ein mehrgeschossiger, dunkelgrauer Fabrikbau, bereits fertig ist, sind auf dem Gelände noch immer Baufahrzeuge unterwegs. Nicht mehr lange, denn ab dem 22. Juli will Bosch hier 90 Millionen Solarzellen pro Jahr herstellen.  

Der 42-jährige IG-Metaller ist erst seit knapp zwei Jahren Betriebsratsvorsitzender in dem Solarunternehmen. Und doch gelang es Hohlbein und seinen Kollegen zusammen mit der IG Metall im April einen entscheidenden Durchbruch zu erzielen. Sie rangen Bosch Solar einen Tarifvertrag ab, der rückwirkend ab Februar 2011 für die rund 2000 Beschäftigten des Unternehmens gilt. Erstmals ist es der IG Metall gelungen, einen Tarifvertrag mit einem großen Hersteller der Solarindustrie abzuschließen. „Für uns ist dieser Tarifvertrag ein Referenztarifvertrag für die gesamte Branche“, sagt Armin Schild.  

Kernpunkte der Einigung sind eine Reduzierung der Wochenarbeitszeit von 40 auf 38 Stunden, eine stufenweise Erhöhung des Urlaubsanspruchs auf 30 Tage bis 2014, eine grundsätzliche Übernahmegarantie für alle Auszubildenden und eine Kopplung an zukünftige Entgelterhöhungen in der Metall- und Elektroindustrie, die 1:1 übernommen werden sollen.  

Das ist ein veritabler Erfolg. „Viele Beschäftigte hier waren vorher arbeitslos oder kamen aus Umschulungen. Von denen haben einige klar gesagt: „Wir wollen keinen Konflikt mit dem Unternehmen“, erzählt Betriebsratsvorsitzender Hohlbein. Anfangs setzten seine Vorgänger und auch viele Beschäftigte nicht auf Tarifverhandlungen, sondern auf Betriebsvereinbarungen ohne Einbeziehung von Gewerkschaften. Im ersten Betriebsrat war laut Hohlbein nicht ein Gewerkschafter vertreten.  

Besonders als Bosch im Jahr 2008 in die Fotovoltaik einstieg und die Erfurter Ersol-Gruppe übernahm, zu der damals die Erfurter Standorte gehörten. „Viele haben gedacht: Jetzt sind wir bei Bosch, jetzt wird es besser. Irgendwann haben sie gemerkt, dass das ein Trugschluss war“, schildert Lutz Hohlbein.  

ZELLSTOFFWERK-MANAGEMENT GEGEN GEWERKSCHAFT_ Christiane Edeling kennt dieses Szenario nur zu gut. Sie ist Betriebsratsvorsitzende der Zellstoffwerk Stendal GmbH, zu der die Töchterunternehmen Zellstoff Stendal Holz GmbH und Zellstoff Stendal Transport GmbH gehören. Auch hier glaubten die Beschäftigten anfangs der Geschäftsführung, dass die Frage der Entlohnung und der Arbeitsbedingungen am besten über interne Regelungen wie etwa Betriebsvereinbarungen gelöst werden sollten. „Zumal das Unternehmen regelmäßig die Löhne anhob und die Gründung eines Betriebsrates selbst vorschlug“, sagt Edeling. Es kostete den Betriebsrat zwei Jahre, bis die Belegschaft verstanden hatte, dass der Betriebsrat keine Löhne und Gehälter aushandeln konnte. 

Doch auch in Arneburg wuchs schnell die Ernüchterung. Waren doch immer mehr Kollegen im thüringischen Schwesterwerk Blankenstein zur Qualifizierung gewesen und hatten dort erfahren, was Tariflohn ist. „Bei denen stieg der Frust, denn in Blankenstein wird nach Tarif bezahlt“, erzählt Jan Melzer, Edelings Stellvertreter im Betriebsrat. Die wachsende Verärgerung der Belegschaft spürte offenbar auch die Chefetage. Als die IG BCE 2009 die Eingliederung in den Flächentarifvertrag Ost forderte, kündigte die Firmenleitung auf einer Betriebsversammlung „völlig überraschend eine Lohnerhöhung von 5,5 Prozent an und nahm uns damit den Wind aus den Segeln“, berichtet Betriebsratsvize Melzer.  

Um nicht wieder kalt erwischt zu werden, überdachten Betriebsrat und IG BCE zunächst die Strategie. Besonderes Augenmerk legten sie auf eine rasche Steigerung des Organisationsgrades, denn „zu unserer ersten Gewerkschaftsversammlung waren alle Mitglieder gekommen. Es waren sechs“, erinnert sich Edeling. Ein Jahr später jedoch gab es 200 Gewerkschaftsmitglieder im Betrieb und war der Organisationsgrad auf rund 30 Prozent gestiegen.  

Aber eben auch die Ungeduld der organisierten Beschäftigten im Betrieb. „Viele Kollegen wollten, dass endlich Tacheles mit der Geschäftsleitung geredet wird“, sagt Edeling. Am 28. Oktober 2010 forderte die IG BCE die Geschäftsführung ultimativ zu Tarifverhandlungen auf. Als diese ablehnte, reagierten die Beschäftigten sofort mit einer Protestkundgebung im nahen Tangermünde. Der Protest wirkte: Am 6. Dezember 2010 willigte die Geschäftsführung in Tarifverhandlungen ein. 

UNTERNEHMEN SAGTE ZUNÄCHST NEIN_ Im Betriebsratsbüro von Bosch Solar sitzt Ende Mai Klaus-Dieter Schmidt und bespricht mit Lutz Hohlbein das weitere Vorgehen. Als Zweiter Bevollmächtigter der IG Metall Erfurt ist Schmidt seit zwei Jahren ein Dauergast im Unternehmen, er war Verhandlungsführer in den Tarifverhandlungen bei Bosch Solar. Schmidt erinnert sich noch gut an die schwierige Anfangsphase der Gewerkschaft im Unternehmen. Gleich nach der mehrheitlichen Übernahme der Ersol AG durch Bosch im August 2008 unterbreitete die IG Metall dem Unternehmen mehrere Gesprächs­angebote über einen Tarifvertrag. Ein erstes Gespräch in der Erfurter Firma im Mai 2009 verlief jedoch ernüchternd. „Von der Unternehmensseite kam ein klares Nein zu einem Tarifvertrag. Angeblich wollten die Beschäftigten keinen“, erzählt Schmidt.  

Die klare Ansage erforderte eine klare Reaktion der IG Metall. Bevollmächtigter Schmidt richtet in der Region einen Solararbeitskreis ein, um Arbeitnehmervertreter aus allen Betrieben der Branche in der Region Erfurt an einen Tisch zu bringen. Zudem warb die Gewerkschaft auf betrieblichen Aktionstagen massiv um neue Mitglieder. Binnen eines Jahres wuchs so die Mitgliederzahl der IG Metall in den drei Bosch-Standorten von 50 auf 670.  

Im April 2010 kündigte Bosch-Solar-Personalchef Martin Wöhr überraschend an, mit der IG Metall Gespräche über einen Tarifvertrag aufnehmen zu wollen. Die Begründung für diesen Schritt fällt ganz unterschiedlich aus – je nachdem, welche Seite man fragt. Ziel sei es gewesen, die unterschiedlichen rechtlichen Regelungen in den drei Standorten zu vereinheitlichen, heißt es seitens der Unternehmensführung. „Die vereinbarten einheitlichen Regelungen bedeuten eine weitaus höhere Planbarkeit und Verlässlichkeit für das Unternehmen und für unsere Mitarbeiter eine Verbesserung der Veränderungs- und Entwicklungsmöglichkeiten“, sagt Vorstandschef Holger Hebel. Über diese Aussage schmunzelt der Erfurter IG-Metaller Klaus-Dieter Schmidt. „Sicher wollte Personalleiter Wöhr eine Harmonisierung, aber am liebsten ohne Tarifvertrag.“  

Gleichwohl hat auch die IG Metall Federn lassen müssen. Relativ schnell war klar, dass das ursprüngliche Ziel der IG Metall, einen Haustarifvertrag zu den Tarifkonditionen der thüringischen Metall- und Elektroindustrie zu erreichen, nicht durchsetzbar war. Der Konzern habe schnell klargemacht, dass er einen solchen „Tarifsprung“ nicht mitmachen würde, schildert Schmidt. „Wir liegen nun rund sieben Prozent unter diesem Tarif“, räumt er ein. Dennoch könnten beide Seiten „mit diesem Ergebnis leben“. Der IG-Metaller weiß um die prekäre wirtschaftliche Situation der deutschen Solarindustrie, die vom zurückliegenden Boom und dem beschlossenen Atomausstieg eher vernebelt wird. Einerseits investieren die Unternehmen viel Geld in den Ausbau. Andererseits leidet die gesamte Branche seit Monaten an Überkapazitäten und einem rasanten Preisverfall. Auch bei Bosch wird es keine Quersubventionierung auf Dauer geben, um Verluste in der Solarsparte durch Gewinne in anderen Konzernsparten aufzufangen. Das Unternehmen setzt darauf, dass die Kombination aus Forschung und Entwicklung sowie der Einsatz von Spitzentechnologie in der Produktion letztendlich erfolgreich ist.  

Tarifpolitisch hat die IG Metall inzwischen geklärt, wie sie mit dem Referenzvertrag bei Bosch verfahren will. „Wir wollen eine offene Tarifgemeinschaft bilden, der weitere Unternehmen beitreten können“, sagt Bezirksleiter Armin Schild. In den neuen Öko-Industrien müsse „Nachhaltigkeit auch für den Umgang mit den eigenen Beschäftigten gelten. Dazu gehören sichere Beschäftigung, gute Arbeit und ein sozialer Interessenausgleich“, so Schild. Und die Solarunternehmen müssten sich endlich einem intensiveren Dialog mit den Gewerkschaften öffnen, fordert der IG-Metaller.  

WARNSTREIK BRACHTE DURCHBRUCH_ Im Zellstoffwerk Stendal ist wieder Ruhe eingekehrt. Für Anlagenfahrer Dennis Garbe hat sich der Protest im Frühjahr gelohnt. Als Leiharbeiter bekam er rund 1300 Euro brutto, nun verdient er mehr als 2000 Euro. Als er und seine Kollegen am 7. März in den Warnstreik traten, musste die riesige Anlage heruntergefahren werden. Ein langwieriger und vor allem teurer Prozess. „Ein Tag Produktionsausfall kommt das Unternehmen beinahe genauso teuer wie die Lohnerhöhung für ein Jahr“, erklärt Betriebsrat Jan Melzer. Der Personalkostenanteil liegt bei nur 5,6 Prozent. Weil die Zellstoffbranche derzeit hohe Gewinne einfährt, traf der Warnstreik das Unternehmen empfindlich. Einen Tag danach stimmte Mercer einem Tarifvertrag zu.

„Der Warnstreik hat uns sehr geholfen“, sagt Holger Nieden, Verhandlungsführer und Tarifsekretär im Hauptvorstand der IG BCE. Damit gibt es neuen Schwung für die IG BCE, stärker in der ostdeutschen papiererzeugenden Industrie Fuß zu fassen. Bei 47 Prozent liegt dort der Organisationsgrad in den tarifgebundenen Unternehmen – im Westen sind es 80 Prozent. Von daher gibt es in den neuen Ländern noch eine Menge weißer Flecken in der Tariflandschaft. „Stendal ist jetzt mein Paradebeispiel, wie es gehen sollte“, sagt Nieden.

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