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Cover von: Beth Gibbons, Krzysztof Penderecki – Henryk Górecki: 3. Sinfonie – Symfonia pieśni żałosnych (2019) Magazin Mitbestimmung

Das politische Lied: Das Gebet der Gefangenen

Ausgabe 04/2023

Eine Neuaufnahme der Sängerin Beth Gibbons bringt die 3. Sinfonie von Henryk Górecki in die Charts. Der Text ist das Gebet einer jungen polnischen Gefangenen im Hauptquartier der Gestapo. Von Martin Kaluza

Beth Gibbons, Krzysztof Penderecki – Henryk Górecki: 3. Sinfonie – Symfonia pieśni żałosnych (2019)

Nein, Mutter, weine nicht
Reinste Königin des Himmels
Beschütze mich immer
Ave Maria

Beth Gibbons sitzt vor den Violinen, gekrümmt, so, wie eine klassische Sopranistin nie sitzen würde. Aus einfachen Melodielinien weben die Streicher eine hypnotische, spannende Begleitung, die nur selten den Akkord wechselt. Beth Gibbons, bekannt als Sängerin der britischen Trip-Hop-Band Portishead, beugt sich zum Singen mit runden Schultern um Mikrofon vor: „Mamo, nie płacz, nie. Niebios Przeczysta Królowo.“ – Nein, Mutter, weine nicht! Reinste Königin des Himmels.

Der Text ist das Gebet einer jungen Gefangenen. Der polnische Komponist Henryk Górecki hat die Zeilen bei einem Besuch im ehemaligen Hauptquartier der Gestapo in Zakopane abgeschrieben, wo sie in eine Kellerwand geritzt waren. Darunter die Signatur: „Helena Wanda Błażusiak, 18 Jahre, inhaftiert seit dem 25. September 44“.

Górecki komponiert die Sinfonie 1976 als Auftragsarbeit für den Südwestfunk Baden-Baden. Den Text des ersten Satzes entnimmt  er einem Klagelied aus dem 15. Jahrhundert. Den dritten Satz bildet ein Volkslied aus Schlesien, in dem eine Mutter nach ihrem Sohn sucht, der in Aufständen getötet wurde. Beide Sätze rahmen das Gebet der Gefangenen aus Zakopane ein.

Góreckis 3. Sinfonie trifft bei der Kritik auf wenig Zuspruch. Der Komponist Pierre Boulez soll während der Premiere laut "Merde!“ gerufen haben. Ist Góreckis Komposition zu simpel gestrickt? Unter Musikern gilt sie gerade wegen ihres Minimalismus, des langsamen Tempos und der sich über lange Zeiträume aufbauenden Dynamik als anspruchsvoll zu spielendes Stück.

Die Sinfonie ist schon fast vergessen, als Robert Hurwitz, der Chef der US-Plattenfirma Nonesuch, sie auf einem Festival in Polen hört. Er gibt eine Neuaufnahme in Auftrag. Sie wird zu einem Überraschungserfolg. Góreckis 3. Sinfonie steht elf Wochen lang in den britischen Pop-Charts zwischen Alben von Paul McCartney und REM, im Februar 1993 erreicht sie Platz sechs. Über eine Million Exemplare werden verkauft.

Górecki fremdelt mit dem Erfolg – einerseits. Andererseits ist er gerührt von den Reaktionen. In einem Radiointerview liest er den Brief eines schwedischen Mädchens vor, das bei einem Brand seine Mutter verlor, selbst nur knapp überlebte und aus der Trauersinfonie neue Kraft schöpfte.

2020, zehn Jahre nach Góreckis Tod, hat das katholische Nachrichtenmagazin Gość Niedzielny die Tochter von Helena Błażusiak ausfindig gemacht. Lange hatte man angenommen, dass sie die Haft nicht überlebt hatte. Nun erfährt die Journalistin, dass sie überlebte, fünf Kinder hatte und lange nicht über die Zeit ihrer Gefangenschaft sprach. Błażusiak war Mitglied der Armia Krajowa (AK), der polnischen Heimatarmee, die während des Zweiten Weltkriegs gegen die deutschen Besatzer Widerstand leistete. Im Juli 1944 schloss sie sich der Aktion Burza an und wurde später von der Gestapo festgenommen, vermutlich nach einem Verrat. Die AK fiel nach dem Einmarsch der Roten Armee in Ungnade, weil sie inoffiziell weiterkämpfte – diesmal gegen das kommunistische Regime. Erst in den letzten Lebensjahren erzählte
die 1999 verstorbene Helena Błażusiak ihrem Schwiegersohn von der Haft. Die Zeilen, die der Komponist Górecki in Zakopane von der Wand abschreibt, hatte Helena mit einem Zahn in die Wand geritzt, den ein Gestapo-Offizier ihr ausgeschlagen hatte.

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