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Magazin Mitbestimmung

: Das Gewicht des DGB

Ausgabe 12/2009

STREITGESPRÄCH Beide kennen die deutschen Gewerkschaften. Eberhard Fehrmann wünscht sich einen starken Dachverband - Wolfgang Schroeder kann sich einen schlanken DGB vorstellen.

Das Gespräch führten MARGARETE HASEL und KAY MEINERS/Foto: Stephan Pramme

Der DGB ist 60 geworden. Wäre sein Gründer Hans Böckler heute mit dem zufrieden, was er vorfände?
Fehrmann:
Er hat etwas anderes gewollt als das, was den DGB heute ausmacht. Ich glaube, dass er sehr kritisch mit der organisatorischen Verfassung der Gewerkschaften umgehen würde. Was ihm vorschwebte, war ein starker Bund. Dieser Gedanke war untrennbar mit dem Ziel der Wirtschaftsdemokratie verbunden.
Schroeder: Eine rückwärtsorientierte Prognose scheint mir wenig hilfreich. Der DGB besitzt sicher nicht die Leistungsfähigkeit, die man ihm gerne zusprechen möchte. Doch es gäbe nach 60 Jahren auch gute Nachrichten für Böckler: Die deutschen Gewerkschaften sind weltweit ein Referenzpunkt für industrielle Beziehungen.

Was machte den Erfolg des deutschen Weges aus?
Fehrmann:
Dem DGB gelang es in der Nachkriegszeit, die politischen Richtungskämpfe zu überwinden und die Einheitsgewerkschaft zur dominierenden Form der Interessenvertretung zu machen. Konkurrierende Organisationen haben bis heute keine wirkliche Chance. Den Branchenegoismus der Einzelgewerkschaften konnte er aber nicht beseitigen. So verspielte er die Chance für eine echte Neuordnung von Wirtschaft und Gesellschaft.
Schroeder: Der Erfolg des deutschen Weges hängt vor allem vom Zusammenspiel von Mobilisierung und institutioneller Verankerung ab. Letztere ergibt sich aus Mitbestimmung, Betriebsverfassung und Tarifautonomie. Die kluge Politik in der Nachkriegszeit führte zu einer strukturellen Einbettung, dank derer die Gewerkschaften über 30 Jahre gut wirken konnten.

Aber was ist mit dem Einwand, dass Böckler etwas anderes gewollt hat?
Schroeder:
Das Konzept der zentralisierten Einheitsgewerkschaft hat nur für einen kurzen Augenblick und regional begrenzt Bedeutung besessen. Die Einheitsgewerkschaft war ein wirkungsvoller Mythos zur Bewältigung der Niederlage von 1933 und der Kriegsfolgen. Damit wurde über Jahrzehnte sehr erfolgreich Politik gemacht. Doch zugleich haben die Gewerkschaften ab 1949 pragmatisch das Konzept des schwachen Bundes verfolgt.
Fehrmann: Die allgemeine Einheitsgewerkschaft nach 1945 war kein illusionäres Produkt des Zeitgeistes. In ihr verdichteten sich die historisch gewachsenen Neuordnungsvorstellungen der Gewerkschaftsbewegung zu einer mächtigen Organisationsform. Der von den Militärregierungen durchgesetzte Bund mit den Industrieverbänden hätte eine Übergangslösung auf dem Weg zur echten Einheitsgewerkschaft sein können. Diese Chance wurde vertan.
Schroeder: Die Gewerkschaften haben erkannt, dass die Wirtschaftsdemokratie in einer offenen Gesellschaft mit einer sozialen Marktwirtschaft nicht funktioniert. Die Regulierung läuft über Tarifverträge. Deshalb standen von Anfang an die Branchen im Zentrum.

Hat dieses Modell seinen Zenit überschritten?
Schroeder:
Das hat bis Ende der 70er Jahre gut funktioniert, solange die starken, exportorientierten Branchen eine Pionierfunktion hatten. Ihre Standards prägten die gesamte Wirtschaft. Doch seither weist die Dynamik des Kapitalismus in Richtung Dezentralisierung. Damit ist das Konzept einer durch diese Branchen geprägten Gewerkschaftsarbeit in die Krise geraten. In der Arbeitszeitpolitik beispielsweise kam es zwischen den Einzelgewerkschaften zu ganz konträren Auffassungen. Das hatte fundamentale Auswirkungen auf den DGB. Wenn die Mitglieder uneinig sind, bleibt dem Bund die Zuschauertribüne.
Fehrmann: Entscheidend ist die Balance zwischen der Außenwirkung und der inneren Verfassung. Die Gewerkschaften müssen als einheitliche Gestaltungsmacht gegenüber dem Kapital auftreten, zugleich brauchen sie nach innen Vielfalt, um angemessen auf gesellschaftliche Differenzierungsprozesse reagieren zu können. Diese Balance ist im Grunde seit 1949 gestört. Die Industriegewerkschaften sind an der Vielfalt in der modernen Arbeitswelt gescheitert. Das Gesamtkonzept des DGB mit seinen Einzelverbänden müsste einer gründlichen Überprüfung unterzogen werden.
Schroeder: Der DGB ist tatsächlich reformbedürftig. Aber in eine andere Richtung. Eine Reform muss den DGB schneller, flexibler und schlanker machen, damit er eine Koordinierungsrolle für Kernaufgaben übernehmen kann, die alle Gewerkschaften betreffen.

Was wäre eine zeitgemäße Antwort auf die neuen Strukturen der kapitalistischen Wirtschaft?
Fehrmann:
Die Schwäche ist durch einen Gesamtzusammenschluss aller Gewerkschaften überwindbar, mit pluralen, autonomen Strukturen unter dem Dach einer Zentrale. Ich kann mir sogar eine Angestelltengewerkschaft unter diesem Dach vorstellen, denn die Industriegewerkschaften organisieren diese Klientel nicht - da sehe ich auch meine eigene frühere Arbeit kritisch.
Schroeder: Die Logik, die gesamte Entwicklung wieder zurückzudrehen und die Einzelgewerkschaften zu Satelliten einer starken Zentrale zu machen, ist doch retro. Das ist genau das, was heute nicht mehr funktioniert. Die Musik spielt in den Branchen. Es ist höchste Zeit, die Gewerkschaften so umzubauen, dass sie mit den neuen Strukturen auf Augenhöhe sind.
Fehrmann: Ich denke nicht rückwärts. Jeder kann beobachten, dass die Verbände sich auflösen und sich zu immer größeren Einheiten zusammenschließen. Spätestens seit der ver.di-Gründung erleben wir eine massive einzelverbandliche Konzentration. Kleine Gewerkschaften wie die NGG oder die IG BAU haben Probleme, ihre Eigenständigkeit zu sichern. Wenn ich das zu Ende denke, taucht eine Gewerkschaft für alle automatisch als Idee auf.
Schroeder: Die Einheit in der Vielfalt wird man in den großen Multibranchenverbänden versuchen müssen. Sehr interessant fand ich den Kita-Streik der Erzieherinnen bei ver.di. Sie haben, relativ unabhängig von der Räson der Gesamtorganisation, ihr berufliches Interesse vertreten. Aber wenn es den Multibranchengewerkschaften nicht gelingt, Vielfalt in der Einheit zu praktizieren, dann sollten sie den Mut haben, separate Organisationen für spezielle Gruppen zu gründen - wie die Skandinavier dies erfolgreich getan haben.

Warum sollte das einer einzigen Großgewerkschaft nicht auch gelingen?
Schroeder:
Niemand will eine zentralisierte Großgewerkschaft namens DGB. Wir haben zurzeit keine Einheit. Das ist der Status quo. Darum geht es um ein dynamisches Organisationsmodell.
Fehrmann: Da kommen wir nicht zusammen. Eine starke Großorganisation könnte neue Differenzierungen ermöglichen, die auch quer zum Industrieverbandsprinzip liegen. So könnten wir vielleicht auch attraktiv werden für Angestellte, Frauen und Hochqualifizierte.
Schroeder: Ich habe ein Problem mit diesen Überlegungen. Mir scheinen die Referenzpunkte nicht zu stimmen, die eng mit dem Konzept der Wirtschaftsdemokratie verbandelt sind. Es gibt kein Steuerungszentrum, von dem aus man Staat, Wirtschaft und Gesellschaft rational steuern kann. Die moderne Entwicklungsdynamik ist eher ein produktives Chaos.
Fehrmann: Gegen die Herrschaftskonzentration aufseiten des Privat- und Kapitalbesitzes können wir nicht mit vereinzelten Gewerkschaften antreten. Deshalb ist die Grundüberlegung, dieser Macht eine möglichst konzentrierte Macht entgegenzusetzen, hochaktuell. Die Gewerkschaften haben den Auftrag, einen Erschöpfungszustand der demokratischen Repräsentation zu beseitigen, indem sie ihre alten Partizipationsideen wiederbeleben.

Sie beide halten die Mitgliederfrage für zentral - Ihre Lösungsansätze aber sind höchst unterschiedlich.
Schroeder:
In gewisser Weise sind auch die heutigen Einzelverbände erstarrte Blöcke. Sie bilden noch immer die Sozialstruktur der 60er Jahre ab. Doch nur mit Facharbeitern kann man keine gesellschaftliche Organisationsmacht entwickeln.
Fehrmann: So weit stimme ich der Analyse zu.
Schroeder: Mein Schluss ist aber, dass die Gewerkschaftsangebote passgenauer werden müssen, um Nutzen für die Mitglieder zu stiften.
Fehrmann: Der DGB soll die Interessen der gesamten Arbeitnehmerschaft in die Politik tragen. Auf die organisatorische Einheit können wir nicht verzichten. Im DGB steckt ein Mitgestaltungsanspruch in Wirtschaft und Gesellschaft, der für die Industrieverbände so nicht einlösbar ist. Bei einer weiteren Schwächung des DGB blieben nur noch Tarifverbände übrig.

Was bedeutet der Erfolg der Linkspartei, die von manchen Gewerkschaftern mit Sympathie begleitet wird, für die Einheitsgewerkschaft?
Fehrmann:
Die neue Partei tangiert das Einheitsmodell nach meinem Verständnis überhaupt nicht. Der DGB hat eine eigene politische Programmatik, aber ist parteipolitisch unabhängig. Als Gewerkschafter mit eigenem Kompass kann ich gegen den Puppenstuben-Stalinismus von Frau Wagenknecht genauso kämpfen wie gegen arbeitnehmerfeindliche Entwicklungen in der SPD.
Schroeder: Die Ausdifferenzierung der Linken in dreieinhalb Parteien - in SPD, Grüne, Linkspartei sowie in einen Teil des christlichen Lagers - kann produktiv sein, solange es nicht zu einer Kolonialisierung der Gewerkschaften durch eine dieser Gruppen führt. Im vorigen Parlament trat die Linkspartei ja teilweise auf, als wäre sie mit einer DGB-Vollmacht ausgestattet.

Was bedeutet das für den Korporatismus?
Schroeder: Das Erfolgsmodell der Einheitsgewerkschaft ist in der Vergangenheit nicht vorstellbar gewesen ohne die beiden Volksparteien. Ohne die ständige wechselseitige Bezugnahme wäre die starke sozialstaatliche Entwicklung nicht möglich gewesen, in der der DGB bis in die 90er Jahre die Sozialpolitik mitgestalten konnte. Es ist kein Zufall, dass der DGB und die Volksparteien fast zeitgleich in die Krise geraten sind. Der Ausgang ist völlig offen.

Wie wichtig ist der Kontakt zu Parteien und Regierung?
Schroeder:
Ein gewisser Konsens mit den parlamentarischen Gestaltungskräften ist für eine an der sozialen Demokratie orientierte Einheitsgewerkschaft unerlässlich. Denn im Parlament werden die maßgeblichen sozial- und wirtschaftspolitischen Entscheidungen getroffen.
Fehrmann: Ein angemessenes Verhältnis zu den Parteien ist nur auf Grundlage einer eigenen politischen Programmatik herstellbar, die die unmittelbaren Interessen der Arbeitnehmer zum Ausdruck bringt. Ich warne davor, die Gewerkschaften vom Parteienspektrum her zu denken!

Zum Abschluss - was wünschen Sie dem DGB zum Geburtstag?
Fehrmann:
Ich wünsche ihm, dass seine Mitglieder ihm mehr Ressourcen gewähren, um Mitbestimmungs- und Beteiligungsmodelle zu stemmen, die die einzelnen Gewerkschaften nicht im Ansatz lösen können.
Schroeder: Ich wünsche ihm den Mut, das, was er gut kann, als seine Aufgabe anzusehen, und das, was er nicht kann, auch gar nicht erst zu versuchen.

 

ZUR PERSON

Eberhard Fehrmann, 62, kam 1977 zum DGB und war für die Technologie- und Angestelltenpolitik zuständig, 1986 wechselte er in gleicher Funktion zur IG Metall. Von 1990 bis 1997 war er Geschäftsführer der Bremer Angestelltenkammer. Heute steht er in Nürnberg als Geschäftsführer einer Transfergesellschaft vor, die sich um die Vermittlung älterer Langzeitarbeitsloser kümmert. Zum Geburtstag des DGB veröffentlichte er als Supplement der Zeitschrift Sozialismus einen Aufsatz unter dem polemisch-poetischen Titel "Death of a clown - vom langen Sterben der Einheitsgewerkschaft DGB".


ZUR PERSON

Wolfgang Schroeder, 49, ist seit November Staatssekretär im Arbeits- und Sozialministerium des Landes Brandenburg. Für die Zeit seiner politischen Tätigkeit ist der Politologe von seinem Lehrstuhl an der Universität Kassel freigestellt. Von 1991 bis 2006 arbeitete er mit verschiedenen Zuständigkeiten beim Vorstand der IG Metall in Frankfurt, zuletzt als Leiter der Abteilung Sozialpolitik. Er hat zahlreiche Aufsätze und Bücher zur Gewerkschafts- und Sozialpolitik veröffentlicht. Unter anderem hat er das Handbuch "Die Gewerkschaften in Politik und Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland" mit herausgegeben.

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