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Magazin Mitbestimmung

: Bruchstellen der Sozialpartnerschaft

Ausgabe 10/2008

CHEMIEINDUSTRIE Die Solidarität in den Unternehmen schwindet, wenn deren Sparten sich nicht mehr gegenseitig stützen und die Personalvorstände in Finanzmarktzeiten nicht mehr viel zu sagen haben.

Von JÜRGEN KÄDTLER, Direktor am Soziologischen Forschungsinstitut (SOFI) an der Universität Göttingen

Die Krise der Sozialpartnerschaft ist offenkundig. Als Ursache wird gern "die" Globalisierung angeführt - denn anders als das weltweit mobile Kapital bleiben die Arbeitnehmer/-innen an Standorte, Arbeitsplätze oder Berufsfelder gebunden. Doch ist tiefe Skepsis angebracht - wann immer wirtschaftliches Handeln mit Sachzwängen wie "dem" Markt oder "der" Globalisierung begründet wird. Denn wirtschaftliches Handeln ergibt sich nie von selbst aus objektiven Voraussetzungen wie etwa neuen Technologien oder der Liberalisierung der Güter- und Finanzmärkte. Wirtschaftliches Handeln kommt erst dadurch zustande, dass sich Manager oder Politiker einen Reim auf diese Gegebenheiten machen. Die Kriterien, die sie ihrem Handeln zugrunde legen, sind deshalb von entscheidender Bedeutung.

GLOBALE NÄHE, SOZIALE DISTANZ_ Sozialpartnerschaft beruhte in der Vergangenheit darauf, dass sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer darüber verständigen konnten, was vernünftiges wirtschaftliches Handeln ist. Die gemeinsame Schnittmenge war also groß genug, um immer wieder zu Lösungen und Kompromissen zu gelangen, die von beiden Seiten als tragfähig angesehen wurden. Und sie beruhte darauf, dass Arbeitnehmervertretungen konfliktfähig genug waren, um diese Aushandlungsgrundlagen neu zu justieren, wenn die gemeinsame Schnittmenge zu schwinden drohte. Diese Voraussetzungen aber bröckeln, und das bedroht die Sozialpartnerschaft heute grundlegend.

In dem Maße, in dem die Welt kleiner wird, weil räumliche und zeitliche Entfernungen an Bedeutung verlieren, treiben sichtlich die Lebenswelten verschiedener gesellschaftlicher Gruppen auseinander - unabhängig von ihrer tatsächlichen raum-zeitlichen Entfernung. Leitbilder und Normen, auf die sich Arbeiter und Hochqualifizierte, Gewerkschafter und Manager in den Unternehmen wie auch in der Gesellschaft in der Vergangenheit gestützt haben, - über die sie sich als Angehörige einer gemeinsamen Welt begreifen konnten - werden ausgedünnt.

Weiterhin war es früher selbstverständlich, wirtschaftliches Handeln auch mit übergeordneten politischen und gesellschaftlichen Gesichtspunkten zu begründen. Das Unternehmen hatte also auch dem Gemeinwohl zu dienen, auch wenn Details immer strittig waren. Und es gab ein gemeinsames Verständnis von den Unternehmen als dauerhaften "Gemeinwesen", was interne Konflikte ausdrücklich nicht ausschloss. Auch hatten technisch-produktionsökonomische Gesichtspunkte Vorrang für das Unternehmenshandeln. Nicht zuletzt sollten in jenen Zeiten der Sozialpartnerschaft die Beschäftigten am gesamtwirtschaftlichen Zuwachs und nicht nur an dem des "eigenen" Unternehmens beteiligt werden. Die Forderungen, die daraus folgten, waren zum Teil hochgradig umstritten. Gleichwohl - beide Sozialparteien bezogen sich darauf, das war gesellschaftlicher Konsens.

UNÜBERSEHBARER BRUCH_ Heute beobachten wir einen unübersehbaren Bruch mit den Grundprinzipien des sozialpartnerschaftlichen Arrangements - aus zwei Gründen. Zum einen ist das der Abschied von jener Gemeinwohlorientierung des Unternehmenshandelns, die bis in die 1990er Jahre nachgerade das Kennzeichen der industriellen Beziehungen in der Bundesrepublik war. Stattdessen wird das Unternehmenshandeln strikt an betriebswirtschaftlichen Zielen ausgerichtet.

Zum anderen treten bei der Begründung wirtschaftlicher Strategien Finanzmarktkriterien an die Stelle technisch-produktionsökonomischer Gesichtspunkte. Das hat Folgen für die Arbeitnehmerseite: Denn bislang war zwischen dem von Technikern und Ingenieuren dominierten Management und den Arbeitnehmervertretern unstrittig, dass das technisch-industriell Mögliche die Grundlage dafür ist, was sich an Renditen erzielen lässt. Mit dem Vormarsch von Finanzfachleuten im strategischen Management bricht eine wichtige Brücke weg, die die verschiedenen Interessengruppen und Hierarchiestufen in Unternehmen verband.

UNTERNEHMEN ALS PORTFOLIO_ In der finanzorientierten Sichtweise des Managements ist ein großes Unternehmen kein auf Dauer angelegter Kooperations- und Leistungszusammenhang mehr. Das Unternehmen ist ein variables Portfolio von Geschäftsfeldern, die - zusammen mit ihren Beschäftigten - nach Bedarf ein- und ausgegliedert werden können.

In der Vergangenheit galt eine Unternehmensstrategie, die auf ein breit gefächertes Geschäftsportfolio setzte, als durchaus rational - vorausgesetzt, man beherrschte sie. Paradebeispiel dafür war der integrierte Chemie- und Pharmakonzern, in dem die wechselseitige Stützung der unterschiedlichen Geschäftsfelder - Stichwort Risikoausgleich - für die langfristige Wirtschaftlichkeit des Unternehmens stand. Bei Bayer sprach man in diesem Zusammenhang vom "Tausendfüßler". Solche geschäftsbereichsübergreifenden Synergien sind heute als "Quersubventionierung" tabuisiert - dazu kommt das Transparenzgebot der Finanzmärkte, die andernfalls die Unternehmen abstrafen. Damit aber verlieren Vertrauensbeziehungen innerhalb der Unternehmen ihre Grundlage.

Die veränderten Wirtschaftlichkeitskriterien auf der Unternehmensebene haben unmittelbare Auswirkungen auf den Flächentarifvertrag, der eine zentrale Institution der Sozialpartnerschaft ist. Den Kern sozialpartnerschaftlicher Tarifpolitik in Deutschland bildete über viele Jahre die sogenannte "Meinhold-Formel": Danach wurde der tarifpolitische Verteilungsspielraum durch die Inflationsrate und den gesamtwirtschaftlichen Produktivitätszuwachs bestimmt - plus einer Umverteilungskomponente, auf der die Gewerkschaften mit großem publizistischem Nachdruck beharrten. Denn in der tarifpolitischen Praxis herrschte darüber Konsens, dass die Beschäftigten - über alle Branchen hinweg - gleichermaßen am allgemeinen Produktivitätsfortschritt beteiligt werden sollten, ungeachtet der unterschiedlichen Gewinnmargen und Kostensituation in den einzelnen Branchen und Geschäftsfeldern. Diese Prinzipien bildeten die Grundlagen des Flächentarifvertrags als zentralem Instrument gesellschaftlicher Regulierung.

Diese Grundlagen, auf denen soziale Umverteilung basierte, gibt es so nicht mehr. Eine Orientierung der Verteilungsspielräume am allgemeinen Produktivitätszuwachs steht in diametralem Widerspruch zur heute etablierten Controllinglogik, welche Renditevorgaben auf immer kleinere Einheiten herunterbricht und zu optimieren versucht. Entsprechend entwickeln sich die Flächentarifverträge immer mehr zum Rahmengerüst für Öffnungsklauseln, welche die tatsächlichen Entgeltbedingungen für Teilbranchen oder Einzelunternehmen regeln. Und wenn es im Einzelhandel zuletzt fast eineinhalb Jahre brauchte, um einen Tarifabschluss zu erzielen, dann liegt das nicht zuletzt daran, dass sich für die diversen Vertriebslinien kaum mehr allgemein akzeptierte Tarifstandards formulieren lassen.

Früher entschieden schwarze oder rote Zahlen darüber, ob ein Unternehmen als wirtschaftlich oder unwirtschaftlich galt. Heute dagegen gelten jene Unternehmen als erfolgreich, welche die Hürde der finanzmarktbezogenen Mindestkapitalverzinsung nehmen. Unternehmen oder Unternehmensbereiche, die diese Kennziffer unterschreiten, werden als Wertvernichter gebrandmarkt, auch wenn sie schwarze Zahlen erwirtschaften. Diese Norm wird willkürlich gesetzt, und sie muss nicht sein - andernfalls hätten weite Teile des deutschen Mittelstandes keine wirtschaftliche Existenzberechtigung, weil sie diese Renditemargen ständig unterschreiten.

ARBEITSKOSTEN WERDEN ZUR VARIABLEN_ Wenn ein Großteil der Unternehmen in Deutschland allerdings sein Handeln an dieser Norm ausrichtet, dann hat das einschneidende Konsequenzen für die Aushandlungsbeziehungen zwischen Kapital und Arbeit. Galten bislang die Arbeitskosten als vertraglich fixiert und die Gewinne als offen, so kehrt sich das Verhältnis nunmehr um: Die Mindestrendite wird zur verbindlichen Vorgabe, während die Arbeitskosten zu Variablen werden, die entsprechend anzupassen sind. So werden etwa Standortvereinbarungen - noch vor wenigen Jahren außergewöhnliche Notmaßnahmen für in die roten Zahlen geratene Betriebe oder Bereiche - gerade in den Großunternehmen zu Routinemitteln der Renditesteuerung.

Unter dieser Perspektive sind große Unternehmen bestrebt, unternehmensbezogene Dienstleistungen auszulagern. Die werden deshalb aber nicht überflüssig, sondern bleiben weiterhin Teil der Wertschöpfungskette und tragen mit niedrigeren Margen und niedrigeren Personalkosten zum Erreichen der ehrgeizigen Renditeziele des Kernunternehmens bei. Die Kehrseite einer solchen Konzentration auf Kernkompetenzen ist die Entstehung einer wachsenden Dienstleistungs- und Zulieferperipherie mit gravierend schlechteren Lohn- und Arbeitsbedingungen.

FINANZVORSTÄNDE HABEN DAS SAGEN_ Des Weiteren hat sich die Stellung und das Selbstverständnis der Personaler im Management radikal verändert. Dabei war die starke Stellung der Personalvorstände oder Arbeitsdirektoren in den großen Unternehmen ein Eckpfeiler der Sozialpartnerschaft. Zwar hatten sie auf die Strategie der Unternehmen so wenig Einfluss wie ihre Kollegen vom Finanzressort. Anders als diese kontrollierten sie aber mit der einheitlichen Personalpolitik einen für die Umsetzung der Unternehmensstrategie als zentral angesehenen Bereich.

Entsprechend haben machtvolle Personalvorstände wie Hans-Martin Schleyer in der Metall- und Erhard Bouillon in der Chemieindustrie die innere Struktur ihrer Unternehmen und die tariflichen Aushandlungsbeziehungen ihrer Branchen maßgeblich geprägt. Die Fähigkeit der Verbandsvertreter zu einer politischen Strategie, die mehr ist als das Vertreten des jeweiligen kleinsten gemeinsamen Nenners der Verbandsmitglieder, wäre ohne die Stützung durch solche starken, politisch ausgerichteten Personalvorstände in zentralen Unternehmen nicht möglich gewesen.

In dieser für die Mitbestimmung und ihre Akteure so wichtigen Arena hat sich seit den 1990er Jahren eine dramatische Veränderung vollzogen: Während die Finanzvorstände und ihre Abteilungen ins strategische Zentrum des Unternehmens gerückt sind, gerieten die Personalvorstände machtpolitisch ins Abseits. Der Personalbereich wird nunmehr durchweg als operativer Dienstleistungsbereich betrachtet, dessen Vertreter primär den Leitern der einzelnen Bereiche unterstellt sind. Konsequenz aus Sicht eines langjährigen Personalleiters aus der Chemieindustrie: "Während man früher allein die Zustimmung des Personalvorstands brauchte, um [eine Betriebsvereinbarung] abschließen zu können, muss man sich heute das Okay von zwölf Bereichsleitern holen. Stimmt nur einer nicht zu, kann man nicht abschließen." Ein Betriebsrat beschreibt es so: "Früher ging man zum Personalvorstand, und der sorgte dafür, dass das, was vereinbart war, durchgesetzt wurde. Heute muss man sich mit jedem einzelnen Bereich rumschlagen, da kommt man überhaupt nicht nach."

Es ist eine krasse Ausnahme, dass Ende der 1990er Jahre ein ausgesprochen politisch ausgerichteter Personalvorstand wie Eggert Voscherau stellvertretender Vorstandsvorsitzender in einem aktiennotierten Unternehmen wie BASF werden und starke Akzente in der Unternehmenspolitik setzen konnte - was man nur vor dem Hintergrund eskalierender Konflikte zwischen Belegschaft und Top-Management erklären kann.

Dagegen hat der Personaler neuen Typs die Dienstleistungslogik verinnerlicht und begreift die Verbandspolitik nur als zusätzliche Arena, um die wirtschaftlichen Vorgaben "seines" Unternehmens möglichst ungefiltert zur Geltung zu bringen. Aktuelle Bemühungen um den Erhalt der Sozialpartnerschaft wären dann das letzte Gefecht der Personaler alten Stils, die noch aus dem tradierten, ordnungspolitischen Selbstverständnis heraus handeln.

Und die Arbeitnehmerseite? Die musste stets konfliktfähig genug sein, um diese Aushandlungsgrundlagen neu zu justieren, wenn die gemeinsame Schnittmenge zu klein zu werden drohte. Das ist heute offenkundig und auf sehr grundlegende Weise der Fall. Und damit wird die Fähigkeit wichtiger, die Verhältnisse auf der Unternehmensebene und darüber hinaus auch unter Einsatz von Gegendruck zurechtzurücken. Ethikverabredungen allein werden da nicht helfen.

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