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Magazin Mitbestimmung

: Aufstand gegen den Niedergang

Ausgabe 10/2005

Am 50. Jahrestag der Gründung des AFL-CIO suchen sieben Gewerkschaften die offene Konfrontation mit dem Dachverband. Hintergrund ist der Verfall der amerikanischen Gewerkschaftsbewegung.

Von Marco Hauptmeier
Der Autor ist derzeit Gastdoktorand am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln und promoviert an der Cornell-Universität in den USA. Er war Stipendiat der Hans-Böckler-Stiftung. hauptmeier@mpifg.de


Vor genau 50 Jahren schlossen sich in den USA zwei konkurrierende Gewerkschaftsverbände zusammen: Der CIO - Congress of Industrial Organizations - hatte traditionell Arbeiter entlang industrieller Sektoren organisiert, während die AFL - American Federation of Labor - vorrangig auf die Organisierung von Arbeitern in Berufsgewerkschaften setzte. Beide Gewerkschaftsverbände beschlossen damals, ihre Differenzen zu überwinden, und vereinigten sich zum einzigen Dachverband der amerikanischen Gewerkschaften, dem AFL-CIO. Ende Juli 2005 traf sich der AFL-CIO, um in Chicago sein 50-jähriges Bestehen gebührend zu feiern - und so Zuversicht für die bevorstehenden, schwierigen Aufgaben zu tanken.

Eklat zum Jubiläumskongress

Aus den Feierlichkeiten wurde jedoch nichts. Am Vortag des Jubiläumskongresses gingen sieben Gewerkschaften, die sich selbst als Change-to-Win-Koalition präsentierten, auf direkten Konfrontationskurs zum AFL-CIO. Die Dienstleistungsgewerkschaft SEIU - die Service Employees International Union -, die mit 1,8 Millionen Mitgliedern größte Gewerkschaft in den USA, und die Transport-Gewerkschaft Teamster erklärten ihren Austritt aus dem AFL-CIO. Zwei weitere Gewerkschaften - UNITE-HERE, die Textil, Hotel, Gaststätten organisieren, und United Food and Commercial Workers, die den Einzelhandel vertreten - kündigten an, nicht am Gewerkschaftskongress teilzunehmen.

Die Laborers (Baugewerbe) und die United Farm Workers (Landwirtschaft) nahmen zwar am Kongress teil, erklärten jedoch ihre volle Unterstützung für den Kurs der Change-to-Win-Koalition. Die Carpenters' Union (Holzverarbeitung), die ebenfalls zur Koalition gehört, war schon zuvor ausgetreten. Allein der unmittelbare Austritt von SEIU und Teamster kostet den AFL-CIO ein Drittel seiner Mitglieder und wenigstens 25 Millionen Dollar an Mitgliedsbeiträgen pro Jahr. Für Ende September haben die sieben abtrünnigen Gewerkschaften ein Treffen anberaumt, auf dem voraussichtlich entweder ein neuer Dachverband oder eine gemeinsame Plattform zur Mitgliedergewinnung ins Leben gerufen werden soll. Dies würde die endgültige Abspaltung von etwa 40 Prozent der Mitglieder des AFL-CIO bedeuten.

Wie konnte es zur Spaltung des Dachverbandes kommen? Zwei Jahre zuvor hatten sich im Juli 2003 einige der Vorsitzenden der opponierenden Gewerkschaften zu einem konspirativen Treffen getroffen. Trotz der vereinbarten Geheimhaltung gelangte ein kurzes, aber deutlich formuliertes Protokoll an die Öffentlichkeit. Darin waren die Gewerkschaftsvorsitzenden zu der Einschätzung gekommen, dass der Verfall der amerikanischen Gewerkschaftsbewegung ein dramatisches Ausmaß erreicht habe.

Nur noch 12,5 Prozent der amerikanischen Arbeitnehmer und Angestellten gehören einer Gewerkschaft an. In der Privatwirtschaft sind es sogar nur noch 7,9 Prozent. Einen so niedrigen Anteil an Gewerkschaftsmitgliedern hatte es zuletzt 1920 gegeben. Es bedürfe eines dramatischen Kurswechsels des AFL-CIO, um den gegenwärtigen Trend zu stoppen.

Die Thesen des Protokolls entfachten eine kurze und heftige Diskussion, die jedoch schnell wieder versiegte. Sowohl Befürworter als auch Gegner in Gewerkschaftskreisen waren sich einig, alle Energien für den bevorstehenden Präsidentschaftswahlkampf zu bündeln, in dem es galt, den gewerkschaftsfeindlichen Präsidenten George W. Bush abzuwählen. Trotz einer beeindruckenden und selten zuvor da gewesenen gewerkschaftlichen Mobilisierung endeten die Wahlen bekanntlich mit einer schmerzhaften Niederlage. In der Folgezeit argumentierte die Change-to-Win-Koalition, dass die verlorene Präsidentschaftswahl einen radikalen Kurswechsel des AFL-CIO dringender denn je machen würde.

Das Programm der Change-to-Win-Koalition

Angeführt vom SEIU-Vorsitzenden Andy Stern präsentierte die Koalition der Öffentlichkeit ihr Programm. Ihr Motto: "Die Wiederherstellung des amerikanischen Traums - Gründung einer Arbeiterbewegung, die im 21. Jahrhundert gewinnen kann". Es hat drei Kernpunkte: eine Konzentration aller vorhandenen gewerkschaftlicher Ressourcen auf die Gewinnung neuer Mitglieder, eine Restrukturierung hin zu wenigen Branchengewerkschaften und eine Zentralisierung von Entscheidungen und Aufgaben im gewerkschaftlichen Dachverband AFL-CIO.

Die Überlegungen der Change-to-Win-Koalition setzen bei der Zersplitterung der amerikanischen Gewerkschaften an. Derzeit gibt es rund 60 Gewerkschaften, von denen viele kein klares Mitgliederprofil haben und Mitglieder in den verschiedensten Branchen organisieren. Häufig versuchen Gewerkschaften, Mitgliederverluste in ihrem angestammten Sektor durch Mitgliedergewinne in anderen Sektoren zu kompensieren. Dies kann dazu führen, dass in einzelnen Sektoren nicht mehr organisiert wird; außerdem verschärft aggressive Mitgliederwerbung in neuen Sektoren die Konkurrenz zwischen den Gewerkschaften.

Deshalb fordert die Change-to-Win-Koalition eine konsequente Restrukturierung der Gewerkschaften entlang von Wirtschaftssektoren. Weil der Großteil der amerikanischen Arbeitnehmer in 15 Sektoren beschäftigt ist, brauche man ebenso viele Mega-Gewerkschaften, die Ressourcen und Energien auf jeweils einen Wirtschaftssektor fokussieren. Kurz gesagt, die Change-to-Win-Koalition möchte eine ähnliche Struktur wie in Deutschland, wo es eine relativ geringe Anzahl an Branchengewerkschaften gibt.

Umstritten ist, wie eine solche Restrukturierung der Gewerkschaften erreicht werden soll. Die Change-to-Win-Koalition schlägt vor, die Rolle des gewerkschaftlichen Dachverbandes AFL-CIO zu stärken. Bisher hat die AFL-CIO kaum direkte Einflussmöglichkeiten auf die Entscheidungen der einzelnen Mitgliedsgewerkschaften. Wie stark der Dachverband mit zentralen Befugnissen ausgestattet werden soll, ist unentschieden. In früheren Dokumenten der Koalition ist von einer echten Entscheidungsgewalt des Dachverbandes die Rede, die es auch ermöglichen soll, eine Gewerkschaft gegen ihren Willen mit anderen zu fusionieren.

Nachdem diese "undemokratischen" Vorschläge aber eine Welle der Empörung hervorgerufen hatten, schwächte sie die Change-to-Win-Koalition ab. Nunmehr will man auf positive Anreize und auf Überzeugungskraft setzen, um Zusammenschlüsse von Gewerkschaften zu erreichen. In puncto Mitgliedergewinnung schlägt die Change-to-Win-Koalition vor, dass jede Gewerkschaft klar Rechenschaft ablegen soll, was sie getan und was sie erreicht hat. Sogar Sanktionen werden nicht ausgeschlossen.

Weiterhin, so die Reformvorschläge, soll der Dachverband AFL-CIO die zentrale Koordinierung von Kampagnen zur Mitgliedergewinnung (Organizing) in großen Konzernen übernehmen. Als erstes gemeinsames Ziel schlägt die Change-to-Win-Koalition das symbolträchtige Unternehmen Wal-Mart vor. Wal-Mart ist mit 1,4 Millionen Beschäftigten der weltweit größte Arbeitgeber und hat sich bei der Senkung von Arbeitsstandards und Löhnen in den USA besonders hervorgetan. Für die gewerkschaftliche Organisierung solch mächtiger Unternehmen bedürfe es einer konzertierten Aktion aller Gewerkschaften mit zentraler Koordination des Dachverbandes AFL-CIO.

Die Reaktion des AFL-CIO, die Rolle John Sweeneys

Das Programm der Change-to-Win-Koalition entfachte in den USA eine lebhafte Diskussion über die richtige Strategie der organisierten Arbeiterbewegung. Der AFL-CIO legte sein eigenes, moderateres Reform-Programm vor, das die Autonomie einzelner Gewerkschaften nicht in Frage stellte. Einer der Hauptpunkte - die Einigkeit der Arbeiterbewegung zu bewahren - wurde vom amtierenden Vorsitzenden des AFL-CIO, John Sweeney, immer wieder beschwörend vorgetragen. Als in den Vormonaten des Jubiläumskongresses eine Spaltung immer wahrscheinlicher wurde, begann die Führungsmannschaft des AFL-CIO sogar, Forderungen der Oppositionellen zu übernehmen, um ein Auseinanderbrechen des AFL-CIO in letzter Minute zu verhindern.

Was steckt hinter den aktuellen Differenzen? Ein persönlicher Machtkampf? War doch der amtierende AFL-CIO-Vorsitzende John Sweeney bis 1995 Vorsitzender der Gewerkschaft SEIU und auch Mentor von Andy Stern, der sein Nachfolger wurde und heute sein Hauptherausforderer ist. Auch Sweeney setzte - als er AFL-CIO-Vorsitzender geworden war - den Schwerpunkt auf die Organisierung neuer Mitglieder, wofür er ein eigenes "Organizing"-Institut gründete. Zudem machte Sweeney die Gewerkschaften wieder koalitionsfähig mit Menschenrechtsorganisationen, Umweltverbänden oder Studentengruppen, von denen sich die Gewerkschaften im Kalten Krieg immer weiter entfernt hatten.

Sweeney hat viel versucht, und selbst seine Kritiker würdigen seine Reformbemühungen. Er musste sich jedoch den Vorwurf gefallen lassen, den Mitgliederschwund der Gewerkschaften nicht gestoppt zu haben. Trotz der anfänglichen Euphorie, die Sweeneys Reformbemühungen verbreiteten, ging der gewerkschaftliche Organisationsgrad von Arbeitern und Angestellten in den USA zwischen 1995 und 2004 von 14,9 Prozent auf 12,5 Prozent zurück, in der privaten Wirtschaft sank er im selben Zeitraum von 10,3 Prozent auf 7,9 Prozent.

Beobachter führen dies neben dem wirtschaftlichen Strukturwandel darauf zurück, dass sich viele Gewerkschaften nicht an der von Sweeney ausgerufenen Offensive zur Gewinnung neuer Mitglieder beteiligten. Sweeney forderte, dass ein Drittel des Budgets einer jeden Gewerkschaft für die Gewinnung neuer Mitglieder eingesetzt werden sollte. Tatsächlich folgte nur eine Handvoll von Gewerkschaften Sweeneys Kurs, insbesondere die Mitglieder der Change-to-Win-Koalition, während die große Mehrheit der Gewerkschaften dem weiteren Verfall der organisierten Arbeiterbewegung tatenlos zuschaute.

Genau an diesem Punkt wollte die Change-to-Win-Koalition ansetzen und diejenigen Gewerkschaften im AFL-CIO zur Rechenschaft ziehen, die sich nicht an der Gewinnung neuer Mitglieder beteiligen. Im Vorfeld des Jubiläumskongresses wurde jedoch klar, dass die Oppositionellen, anders als Sweeney im Jahr 1995, keine demokratische Mehrheit innerhalb des AFL-CIO für einen Reformkurs oder einen Führungswechsel gewinnen konnten.

Spaltung in erfolgreiche und erfolglose Gewerkschaften?

In der Change-to-Win-Koalition schlossen sich jene Gewerkschaften zusammen, die sich in den letzten Jahren am stärksten für die Gewinnung neuer Gewerkschaftsmitglieder engagiert haben. Die größten Erfolge kann die Dienstleistungsgewerkschaft SEIU vorweisen. Sie ist die einzige US-Gewerkschaft, die nicht nur den Mitgliederrückgang stoppen konnte, sondern sogar in der Lage war, die Anzahl ihrer Mitglieder erheblich zu steigern. Zwischen 1980 und heute wuchs die Mitgliederzahl von 625 000 auf 1,8 Millionen Mitglieder; allein seit 1996 gewann die Gewerkschaft 900 000 neue Mitglieder. Dieser enorme Mitgliederzuwachs war unter anderem auch deshalb möglich, weil SEIU in Sektoren wie Krankenhäusern oder Pflegediensten agiert, die nicht nach Übersee ausgelagert werden.

Zum anderen aber waren die Erfolge der straff organisierten Planung und Durchführung von Kampagnen zur Gewinnung neuer Gewerkschaftsmitglieder geschuldet. Eine der Glanzleistungen von SEIU war die "Justice for Janitors"-Kampagne, in der es gelang, Reinigungskräfte, viele von ihnen illegale Einwanderer, gewerkschaftlich zu organisieren.

Viele US-Gewerkschafter fühlen sich in dieser entscheidenden Auseinandersetzung hin- und hergerissen. Sie befremdet manchmal das kühne oder rücksichtslose Auftreten der Change-to-Win-Koalition, gleichzeitig sind sie aber von ihren Erfolgen fasziniert, die bessere Arbeitsbedingungen für hunderttausende Arbeitnehmer am unteren Ende der sozialen Leiter ermöglichen. Hätte der Kurs der Change-to-Win-Koalition nicht deshalb eine Chance innerhalb des AFL-CIO verdient? Die Frage ist müßig, nachdem die Gewerkschaftsbewegung bereits gespalten ist - mit ungewissen Folgen für die Arbeitnehmer in den USA. .



Die zentralen Dokumente der Debatte

Das Programm der Change-to-Win-Koalition, "Restoring the American Dream - Building a 21st Century Labor Movement that Can Win", kann auf der Internetseite der Koalition heruntergeladen werden: http://www.changetowin.org/

Die programmatische Antwort des AFL-CIO, "Winning for Working Families - Recommendations from the Officers of the AFL-CIO for Uniting and Strengthening the Union Movement", gibt es auf der Internetseite des gewerkschaftlichen Dachverbandes: http://www.afl-cio.org/

Ausgangspunkt der Debatte sind die Analysen und Reformvorschläge Stephen Lerners. Er ist der Vordenker der Change-to-Win-Koalition.
"An Immodest Proposal: Remodeling the House of Labor" (2003)
http://qcpages.qc.cuny.edu/newlaborforum/old/html/12_2article9.html
"Three Steps To Reorganizing And Rebuilding The Labor Movement" (2002)
http://labornotes.org/archives/2002/12/e.html

Ein lesenswertes Resümee der gewerkschaftlichen Reformen zur Mitgliedergewinnung stammt von Richard Hurd: "The Failure of Organizing, the New Unity Partnership, and the Future of the Labor Movement" (2004)
http://www.semcosh.org/rhurdfailoforgzg.pdf

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