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Magazin Mitbestimmung

: Auf Kollisionskurs

Ausgabe 12/2008

ARBEITSZEITTRENDS In Vollzeitjobs wird wieder länger gearbeitet - die Tendenz zur Rund-um-die-Uhr-Gesellschaft hält an. Diese Entwicklung dient weder Familien noch Älteren, noch garantiert sie Chancengleichheit zwischen Männern und Frauen.

Von HARTMUT SEIFERT, Leiter der Abteilung WSI in der Hans-Böckler-Stiftung / Foto: Werner Bachmeier

Die Formel "Zeit ist Geld" bringt die Arbeitszeitentwicklung der letzten Jahre auf den Punkt. Ungebrochener als früher sind Kostensenkungen und Produktivitätssteigerungen die Zielvorgaben, an denen sich die Dauer, die Lage und die Verteilung der Arbeitszeit orientieren. Zentrale gesellschaftliche Ziele geraten ins Hintertreffen. So ist die Entwicklung der Arbeitszeit weder als familien- noch als alternsgerecht zu bezeichnen. Das Gegenteil ist eher der Fall. Welche Trends lassen sich beobachten, wie sind sie zu bewerten und was ist zu tun? Drei zentrale Trends prägen das Muster der Arbeitszeit. Die Dauer weist in gegenläufige Richtungen - zu kürzeren Arbeitszeiten (durch geringfügige Beschäftigung und Teilzeitjobs) als auch zu längeren Arbeitszeiten (bei Vollzeitjobs). Bei der Lage der Arbeitszeit hält der Trend zur Rund-um-die-Uhr-Wirtschaft an. Und die Verteilung der Arbeitszeit vollzieht einen Modellwechsel: Variable Zeitformen ersetzen die mehr oder minder starre Normalarbeitszeit.

POLARISIERUNG BEI DER ARBEITSZEIT_ Vollzeitbeschäftigte arbeiten heute im Durchschnitt wieder länger als vor einigen Jahren, während gleichzeitig der Anteil der Beschäftigten mit nur geringfügiger oder Teilzeitarbeit steigt. Der jahrzehntelange Trend zu kürzeren Normalarbeitszeiten endete etwa 2003. Im Zuge der Konjunkturkrise, steigender Arbeitslosigkeit und des verschärften internationalen Wettbewerbs setzten Unternehmen und deren Verbände eine Zeitenwende durch. Seitdem stieg die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit um knapp eine Stunde. Trotz längerer Arbeitszeiten blieben die Einkommen häufig unverändert. Indirekt wurden so die Stundenlöhne gekürzt. Fast jeder Dritte Vollzeitbeschäftigte leistet 42 und mehr Stunden pro Woche. Die Belastungen nehmen zu, für die Familie bleibt immer weniger Zeit. Nach einem langen Arbeitstag fällt es schwer, noch Zeit und Energie für Weiterbildung aufzubringen.

Mit durchschnittlich 40,3 Stunden arbeiten Vollzeitbeschäftigte in Deutschland in etwa so lange wie im Durchschnitt der EU-Mitgliedsländer. Aber auch schon vor einigen Jahren stand die polemische These vom Freizeitpark Deutschland mit den Fakten auf Kriegsfuß. Auffallend ist, dass Vollzeitbeschäftigte in einigen beschäftigungspolitisch überaus erfolgreichen Ländern, wie bei unseren Nachbarn Dänemark und den Niederlanden, bereits seit Jahren durchschnittlich kürzer arbeiten als die Arbeitnehmer in Deutschland. Umgekehrt schützen lange Arbeitszeiten wie in Polen, Rumänien oder Spanien nicht vor hoher Arbeitslosigkeit.

Kurze Arbeitszeiten schaden der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungsentwicklung offensichtlich nicht, wie häufig behauptet. Eher scheint das Gegenteil der Fall. Ländervergleiche widerlegen ferner die Behauptung, dass ökonomische Effizienz mit der Dauer der Arbeitszeit steigen würde. Der Zusammenhang ist genau umgekehrt. Die Dauer der Arbeitszeit korreliert negativ mit der Produktivität je Arbeitsstunde. In Ländern mit kurzen Arbeitszeiten wie Dänemark und den Niederlanden weist die Stundenproduktivität hohe Werte auf. Und umgekehrt schneiden Länder mit langen Arbeitszeiten wie Bulgarien, Lettland oder Portugal bei der Produktivität schlecht ab. Die Kausalitäten sind allerdings nicht geklärt. Denkbar ist, dass eine hohe Produktivität genügend Spielraum für Arbeitszeitverkürzungen liefert, ohne Abstriche beim Einkommen hinnehmen zu müssen. Und umgekehrt bieten kurze Arbeitszeiten größere Möglichkeiten, die Arbeit zu intensivieren und flexibler zu nutzen, wie Erfahrungen mit Teilzeitarbeit belegen.

Während Vollzeitbeschäftigte länger arbeiten, wächst die Zahl der Beschäftigten mit kurzen Arbeitszeiten, sei es in Form von Minijobs oder Teilzeit, deren Quote bei gut 26 Prozent liegt. Dieses polarisierte Zeitmuster ist stark geschlechtsspezifisch. Etwa 46 Prozent der weiblichen Beschäftigten leisten Teilzeitarbeit. Für Frauen wird diese Arbeitszeitform allmählich zur neuen Normalarbeitszeit.
Aber auch die Arbeitszeiten der Vollzeitbeschäftigten zeigen geschlechtsspezifische Unterschiede. Lange und überlange Arbeitszeiten werden vorrangig von Männern geleistet. Allerdings gilt dieses Zeitmuster nur so lange, wie die Erwerbsarbeitszeit zugrunde gelegt wird. Bezieht man die Familienarbeit mit ein, dann kehrt sich das Bild um. Für Einkommen und Karrierechancen zählt allerdings nur die erste Zeitdimension. Deren polarisierte Entwicklung während der letzten Jahre hat die geschlechtsspezifische Spaltung am Arbeitsmarkt vertieft.

NACHT- UND WOCHENENDARBEIT BREITEN SICH AUS_ Als zweiter Trend kommt zu den Veränderungen bei der Arbeitszeitdauer die Zunahme atypischer Beschäftigungszeiten hinzu. Schicht-, Nacht- und Wochenendarbeit breiten sich kontinuierlich aus. Rund 59 Prozent der Beschäftigten arbeiteten 2007 zu diesen Zeiten, 1991 waren es erst 34 Prozent. Besonders stark zugenommen hat die Arbeit am Samstag. Etwa 46 Prozent der Beschäftigten müssen zumindest hin und wieder auf ein langes freies Wochenende verzichten, nachdem es 1991 erst 33 Prozent waren. Die neue "Normalisierung" der Samstagsarbeit greift auf den Sonntag über. Auch dieser Tag wird mehr und mehr zum Arbeitstag und hat für ein Viertel der Beschäftigten seine Ruhefunktion verloren.

Lange und zugleich während der Nacht und im Schichtbetrieb geleistete Arbeitszeiten verstärken kumulativ die Belastungen. Je länger solche Arbeitszeiten während des Erwerbslebens ausgeführt werden, desto höher ist das Risiko für gesundheitlichen Verschleiß. Wenn 2006 jeder sechste Neu-Rentner wegen verminderter Erwerbsfähigkeit in den Ruhestand ging, dann dürften belastende Arbeitszeiten, vor allem wenn sie über einen längeren Zeitraum ausgeübt werden, eine nicht unwesentliche Ursache hierfür sein. Wie aber sollen Beschäftigte, sollten sich die Arbeitszeittrends der letzten Jahre fortsetzen, ohne gesundheitsbedingte Leistungsminderungen bis zur Rente mit 67 durcharbeiten können? Absehbar ist, dass die beschriebenen Arbeitszeittrends die Quote der Rentenzugänge wegen Erwerbsminderung steigern werden. Der Kreis der Beschäftigten, der von erhöhten gesundheitlichen und finanziellen Risiken bedroht ist, wird wachsen. Und die Sozialversicherungen müssen mit steigenden Ausgaben rechnen.

Sicherlich wird die Gesellschaft nicht auf atypische Arbeitszeiten verzichten wollen und können. Denn für möglichst lange betriebliche Nutzungszeiten sprechen ja nicht nur ökonomische Vorteile, die die intensivere Nutzung des Kapitalstocks bietet. Auch Versorgungsaspekte erfordern immer mehr atypische Arbeitszeiten. Hierfür sprechen allein schon veränderte Nachfrageanforderungen, die aufgrund der alternden Gesellschaft zu erwarten sind. Es ist von einem wachsenden Bedarf an Pflege- und medizinischen Versorgungsleistungen sowie Sicherheitsdiensten rund um die Uhr auszugehen. Ferner verlangt eine weltweit vernetzte Wirtschaft vermehrt permanent zu erbringende Aktivitäten in den Bereichen Verkehr und Nachrichtenübermittlung. Überhaupt noch nicht ausmalen lässt sich schließlich, welche Anforderungen Fragen der Ressourceneffizienz zukünftig an die Arbeitszeitgestaltung stellen werden.

MODELLWECHSEL DURCH ZEITKONTEN_ Die Ablösung der gleichförmig portionierten Normalarbeitszeit durch variable Verteilungsmuster verkörpert einen dritten Trend. Arbeitszeitkonten sorgen für den Modellwechsel. Sie behandeln die vereinbarte Arbeitszeit nur noch als eine rechnerische Durchschnittsgröße, von der im Rahmen von tariflich und betrieblich definierten Bedingungen nach oben wie nach unten abgewichen werden kann. Knapp die Hälfte aller Beschäftigten organisiert mittlerweile die Arbeitszeit mit Hilfe von Zeitkonten.

Zeitkonten bieten den Betrieben erweiterte Möglichkeiten, die Arbeitszeit je nach Auftragslage passgenau zu variieren, dadurch Überstunden zu ersetzen, Leerzeiten und Lagerkosten einzusparen. Ob und in welchem Maße die Beschäftigten ebenfalls profitieren und Spielraum gewinnen, außerbetriebliche Zeitanforderungen besser mit betrieblichen abzustimmen und den individuellen Zeitnutzen zu steigern, hängt von den tariflichen und betrieblichen Regelungen ab. Kontrollierte Flexibilität wird zum Dreh- und Angelpunkt, an dem sich das Ausmaß für Zeitsouveränität entscheidet.

POLITISCHE FORDERUNGEN_ Die Frage, wie die Arbeitszeit der Zukunft aussehen soll, setzt voraus, zu klären, welche Anforderungen Arbeitszeitpolitik erfüllen soll. Eine Antwort fällt nicht einfach, denn zu vielfältig und teilweise auch gegensätzlich sind die mit Zeitpolitik verknüpften Zielvorstellungen. Sie soll den Geld-Zeit-Präferenzen der Beschäftigten entsprechen, Wahlmöglichkeiten bieten, möglichst belastungsarm sein, außerdem Raum gewähren, außerbetriebliche Zeitanforderungen mit betrieblichen auszubalancieren, und darüber hinaus soll sie ökonomische Effizienzkriterien erfüllen. Die Quadratur des Kreises?

Für die arbeitszeitpolitische Diskussion sinnvoll erscheint, solchen Strategien Priorität einzuräumen, die aktuellen, von großem gesellschaftlichem Konsens getragenen Zielsetzungen dienen. Das gilt vor allem für familien- und gleichstellungspolitische Zielsetzungen sowie Fragen der alternsgerechten Arbeitszeitgestaltung. Die beschriebenen Trends zu längeren und zu mehr atypischen Arbeitszeiten führen von diesen Zielen jedoch eher weg. Sie steigern den Grad der die Gesundheit gefährdenden Belastungen. In Folge hiervon ist eher mit einem vorzeitigen als mit einem späteren Ausscheiden aus dem Erwerbsleben zu rechnen.

Ebenso kollidieren die aktuellen Arbeitszeittrends mit den Zielen einer verbesserten Vereinbarkeit von Beruf und Familie und größerer beruflicher Chancengleichheit von Frauen. Die Vereinbarkeitsprobleme werden besonders groß, wenn sich längere und ungünstiger gelegene Arbeitszeiten überlagern. Aber allein schon verlängerte Arbeitszeiten erschweren die Versuche, die Zeitanforderungen aus Erwerbsarbeit und Familie auszubalancieren und zu mehr Geschlechtergerechtigkeit beizutragen. Bei gegebener geschlechtsspezifischer Verteilung der Erziehungs- und Betreuungsarbeiten bleibt Frauen, die Betreuungsleistungen nicht am Markt einkaufen können, dann häufig nur die Alternative der Teilzeitarbeit. So lange diese Beschäftigungsform gegenüber Vollzeitarbeit durch geringere Einkommen, Karrierechancen und einen schlechteren Zugang zu betrieblicher Weiterbildung abfällt, stellt sie nicht mehr als die zweitbeste Lösung dar.

Kein Zweifel dürfte bestehen, dass kürzere Vollzeitarbeit für Männer und Frauen besser geeignet ist, Vereinbarkeitsprobleme zu entschärfen. Sie bietet Frauen zudem größere Chancen bei der beruflichen Karriere, reduziert außerdem die Arbeitsbelastungen und erhöht die Chancen, länger im Erwerbsleben verbleiben zu können. Als willkommener Nebeneffekt kommt hinzu, dass eine solche multifunktionale Arbeitszeitpolitik umverteilend wirkt und den Arbeitsmarkt positiv beeinflusst. Kürzere Vollzeitarbeit ließe sich allein schon durch Überstundenabbau erreichen. Voraussetzung ist auf jeden Fall, den Trend zu längeren Arbeitszeiten zu stoppen.

Eine solche Zeitenwende ist nicht gleichbedeutend mit einer Verkürzung der Lebensarbeitszeit. Im Gegenteil: Kürzere, aber belastungsärmere Arbeitszeiten verbessern die Bedingungen für ein längeres Erwerbsleben. Da derzeitig die Chancen für generelle Verkürzungen der tariflichen Regelarbeitszeit kaum mehrheitsfähig und deshalb schwer durchsetzbar sein dürften - auch wegen der Geldpräferenz der Beschäftigten und wegen differenzierter Arbeitszeiten und Zeitwünsche in der Praxis - ist es sinnvoll, individuelle bzw. gruppenspezifische oder auch kontextgebundene Ansprüche auf kürzere Arbeitszeiten einzufordern.

Arbeitsbelastungen ließen sich durch einen Zeitausgleich für atypische Arbeitszeiten mindern. Ein Weg könnte sein, Geldzuschläge kostenneutral in Freizeit umzuwandeln. Zur Verkürzung der Arbeitszeit würden ferner generelle Ansprüche auf Weiterbildungszeiten - auch bei atypischen Beschäftigungsformen - beitragen. Die zusätzlichen Kosten dürften langfristig durch eine verbesserte Innovationsfähigkeit, erhöhte Arbeitsproduktivität und gestärkte Wettbewerbsfähigkeit ausgeglichen werden. Schließlich sind Rechte auf Freistellungen vorgeschlagen. Verteilt über die Erwerbsbiografie sollen sie es möglich machen, Zeit für Aktivitäten jenseits der Erwerbswirtschaft nutzen zu können und auch phasenweise Überbeanspruchungen zu vermeiden. Insgesamt könnten sich so mehrere kleinere Schritte zu einer spürbaren Neugestaltung der Arbeitszeit summieren.

Mehr Informationen
Hartmut Seifert (Hrsg.): FLEXIBLE ZEITEN IN DER ARBEITSWELT. Frankfurt, Campus Verlag 2005. 452 Seiten, 34,90 Euro

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