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Magazin Mitbestimmung

: Arbeitsplatz vor Aktienkurs

Ausgabe 04/2005

Die Hauptversammlung ist ihre Bühne, das Argument ihre Waffe: wie die "Belegschaftsaktionäre in der Siemens AG" seit elf Jahren die Interessen der Siemens-Beschäftigten vertreten

Ein Porträt von Stefan Scheytt
Der Autor ist Journalist in Tübingen und schreibt für diverse Zeitschriften und Wochenzeitungen

Als die Siemens AG Ende Januar zu ihrer Hauptversammlung in die Münchner Olympiahalle lädt, strömen fast 12 000 Aktionäre in die Halle, und die Art, wie sich viele von ihnen dort über die Unternehmensleitung äußern, vor allem über den scheidenden Vorstandsvorsitzenden Heinrich von Pierer, veranlasst einen österreichischen Aktionärsvertreter zu der ketzerischen Frage: "Bin ich hier auf einem Pierer-Huldigungsfest, auf einem Hochamt?" Tags darauf sind die Zeitungen erwartungsgemäß voll des Lobs für den "erfolgreichen Spitzenmanager", unter dessen Führung der Aktienkurs um 300 Prozent gestiegen sei. Siemens-Aktionäre, meint ein Aktionärsvertreter gar, könnten "beruhigt in die Zukunft blicken". 

Doch nur einen Tag später verwandelt sich der angeblich beruhigende Blick in die Zukunft für viele Konzernbeschäftigte in eine sehr beunruhigende Perspektive: Der Konzern kündigt den Abbau von 1350 Stellen in der Festnetzsparte an, gut 700 davon in München und Berlin. Im Abstand von wenigen Stunden hat das Unternehmen auf brutale Weise einen klassischen Konflikt erneut angefeuert: bejubelte Kurszuwächse hier, Arbeitsplatzabbau dort.

Noch am selben Tag verfasst Manfred Meiler eine Pressemitteilung, die er per Mail an ein Dutzend Redaktionen schickt: Viele Aktionäre und Mitarbeiter fühlten sich "hinters Licht geführt" durch diese Art der Informationspolitik, die offensichtlich nur dem harmonischen Verlauf der Hauptversammlung gedient habe; Meiler schreibt von "beschädigter Glaubwürdigkeit", von "groben Fehlern" des neuen Unternehmenschefs schon am ersten Tag und von einem "Kotau vor den Kapitalmärkten".

Manfred Meilers Engagement ist umso erstaunlicher, als ihn das alles nicht mehr kümmern müsste. Vor sechs Jahren bei Siemens ausgeschieden, könnte der 62-Jährige heute seine Rente genießen und sich ansonsten bei der morgendlichen Zeitungslektüre über den Kurs der Siemens-Aktien freuen. Immerhin besitzt er ja ein paar davon. Für Meiler sind sie freilich weniger Spekulationsobjekt als Hebel zur Einflussnahme. Und den nutzt er als Vorsitzender der "Belegschaftsaktionäre in der Siemens AG", wo immer er kann. "Ich bin eben ein Überzeugungstäter", sagt Meiler, der Ruheständler im Unruhestand.

Er sitzt im Kellerbüro seines Hauses im Münchner Westen, der "roten Zelle der Siemens AG", wie er selbstironisch frotzelt, ringsum die Aktenordner des Aktionärsvereins, den er vor elf Jahren mit Wolfgang Niemann gründete. Als Betriebsräte bei Siemens teilten Niemann und Meiler jahrelang das Büro, bis heute teilen sie viele Ansichten: Beide sind gelernte Volkswirtschaftler, beide sind Mitglieder der IG Metall und der SPD, und beide nehmen mit gewissem Stolz in Anspruch, in ihrem Milieu gelegentlich als unangenehme Querdenker zu gelten.

Das war auch so, als sie 1994 den Verein der Siemens-Belegschaftsaktionäre aus der Taufe hoben. Offener Widerstand kam vom Unternehmen selbst, das die Vereinsgründer in einen Namensstreit zog, den sie angesichts eines Streitwerts von einer Million Mark nicht vor Gericht austragen wollten; es dauerte Jahre, bis der Verein den Firmennamen führen durfte, bis 2001 nannte er sich notgedrungen "Belegschaftsaktionäre Unsere Aktien e.V." Aber auch von manch einem aus der IG Metall und dem Betriebsrat bekamen Niemann und Meiler damals Signale, dass man die Vereinsgründung bestenfalls für unnötig hielt, wenn nicht gar als Konkurrenz empfand.

Von ihrer Idee ließen sich Meiler und Niemann indes nicht abbringen. Und die lautete: Was interessiert einen Siemens-Mitarbeiter, ob seine Wertpapiere ein paar Cent mehr oder weniger Dividende abwerfen, wenn er seinen Job verloren hat? Anstatt den Banken die Stimmrechte abzutreten, vertreten Belegschaftsaktionäre ihre Interessen am besten selbst.

27. Januar 2005, Olympiahalle München. Vor fast 12 000 Aktionären und der versammelten Wirtschaftspresse legen Manfred Meiler und Wolfgang Niemann ihre Sicht der Dinge dar, stellvertretend für rund 2000 Belegschaftsaktionäre, die dem Verein zuvor ihre Stimmrechte abgetreten haben. Sie kritisieren die im Vergleich zu Siemens-Konkurrenten zu geringen Ausgaben für Forschung und Entwicklung und beantragen, die Vorstandsgehälter nicht mehr nur nach Gewinn und Aktienkurs auszurichten, sondern auch an der Zahl der gesicherten Arbeitsplätze; sie widersprechen dem Vorhaben, den Aktionären eine höhere Dividende auszuschütten, weil gleichzeitig viele Kollegen, vor allem in der Handy-Fertigung in Bocholt und Kamp-Lintfort, dramatische Einkommensverluste bis zu 30 Prozent hinnehmen mussten.

"Schämen Sie sich dafür eigentlich gar nicht, wenn wir hier gleichzeitig den zweithöchsten Konzerngewinn in der Firmengeschichte feiern?", ruft Rainer Kowallik eines der Vereinsmitglieder ins Mikrofon. "Glauben Sie, dass die Kinder dieser Mitarbeiter zu Weihnachten ein neues Siemens-Handy bekommen haben? Handys kaufen keine Handys!"

Wie immer in den vergangenen elf Jahren ist der Auftritt der Belegschaftsaktionäre eine wohl abgewogene Mischung aus griffiger Kritik, Anregungen, aber zuweilen auch Zustimmung und Lob. So scheute sich Manfred Meiler nicht, den Chef des Siemens-Ablegers Infineon, Ulrich Schumacher, einen "vaterlandslosen Gesellen" zu nennen und bei seiner Abrechnung auch noch "frech Pausen zu lassen für den Applaus in der Halle".

Ebenso wenig verzichtete Wolfgang Niemann in der Vergangenheit darauf, Siemens-Chef von Pierer "Jugendwahn" und "Entsolidarisierung" vorzuwerfen, weil das Unternehmen keinerlei Konzept für die älteren Beschäftigten habe, während von Pierer gleichzeitig Bücher über "Moral und Wirtschaft" publiziere. Aber: "Nur die moralische Keule zu schwingen, immer nur als giftiger Wadenbeißer aufzutreten bringt nichts", meint Meiler. "Auch auf der anderen Seite gibt es vernünftige Leute. Dafür muss man sich die Sensibilität erhalten und das dann auch zum Ausdruck bringen."

Mit diesem Pragmatismus - dazu gehört auch die Einhaltung der Regel, die Hauptversammlung nicht mit Gewalt zur Belegschaftsversammlung umzufunktionieren - haben sich die Belegschaftsaktionäre von Siemens im Laufe der Zeit Respekt und Anerkennung verschafft. Das zeigt sich zum Beispiel darin, dass Heinrich von Pierer vor Hauptversammlungen schon mal bei Manfred Meiler anrief und zum klärenden Gespräch einlud.

"Wie der Namensstreit am Anfang unseres Vereins beweist, als die Unternehmensleitung keinen Millimeter preisgab, hat uns Siemens nie etwas geschenkt", sagt Meiler. "Dass wir dennoch zu solchen Gesprächen eingeladen werden, zeigt doch, dass wir als wichtige Stimme der Belegschaft wahrgenommen werden." Es sei schon vorgekommen, erzählt Meiler, dass sich von Pierer "inhaltlich genau in der Mitte positioniert" habe, zwischen dem, was die kursfixierten Analysten auf der Hauptversammlung forderten und dem, was die Belegschaftsaktionäre vortrugen. "Klar, da hat uns von Pierer für seine Argumentation benutzt, aber das war uns in diesem Fall durchaus recht."

Auch die IG Metall und mancher Betriebsrat haben ihre Zurückhaltung längst aufgegeben. "Wir sind weder ein Neben-Betriebsrat noch eine Neben-Gewerkschaft", erklärt Ex-Betriebsrat Meiler. "Aktionärsvereine der Belegschaft können zusätzlich Öffentlichkeit schaffen, wie es etwa der Aufsichtsrat auf einer Hauptversammlung nun mal nicht kann, weil er an Geheimhaltungspflichten gebunden ist." Diese Sicht bestätigt auch Wolfgang Müller, Mitglied im Aufsichtsrat der Siemens AG und Leiter des Siemens-Teams der IG Metall, mit dem sich die Belegschaftsaktionäre vor Hauptversammlungen regelmäßig abstimmen: "Solche Initiativen sind ein gutes ergänzendes Instrument im Mitbestimmungs-Dreiklang aus Aufsichtsrat, Betriebsrat und Gewerkschaften.

Sie erhöhen den öffentlichen Druck auf den Vorstand." Müller verweist auf die USA, wo Belegschaftsaktionäre viel populärer sind als hierzulande - freilich aus der Not heraus, weil es dort praktisch keine Mitbestimmung gibt und ein Aktionärsverein eine der wenigen Möglichkeiten überhaupt darstellt, Belegschaftsinteressen öffentlich zu vertreten.

Und was bringt das alles? "Keine spektakulären Erfolge", stellt Meiler klar, "aber neben den anderen Aktionärsvertretern von Fonds und Kleinaktionären, die ohnehin fast alle dasselbe sagen, sind wir eine vernehmbare Stimme gegen den überhöhten Verzinsungsanspruch der Kapitalseite und gegen die kurzfristige Shareholder-Value-Politik, die leider auch bei Siemens Raum gegriffen hat." Gemessen an ihrem Gewicht - der Verein vertritt Stimmrechte von gerade mal 0,1 oder 0,2 Prozent des Aktienkapitals - erheben Meiler & Co. ihre Stimme sehr effizient:

Denn was sie sagen, hören nicht nur Tausende bei der jährlichen Hauptversammlung; der Verein bringt sein Anliegen auch durch Pressemitteilungen, Interviews und Leserbriefe in die Medien, wie jüngst in einem Beitrag für die Süddeutsche Zeitung, in dem Manfred Meiler den Deutsche-Bank-Chef und Siemens-Aufsichtsrat Josef Ackermann wegen seines Renditeziels von 25 Prozent scharf angreift. Diese Strategie sei "betriebswirtschaftlich einfältig und gesellschaftspolitisch verwerflich", wer so handle, erzeuge Zukunftsangst und sei verantwortungslos gegenüber Mitarbeitern und dem Standort Deutschland. Dass er Ackermann als Mitglied des Siemens-Aufsichtsrats für eine Belastung hält, hat Meiler auch Heinrich von Pierer, dem frisch gekürten Aufsichtsratschef, vorab per Mail mitgeteilt.

Ackermann wird wohl auch bei der nächsten HV auf dem Podium sitzen, auch das ist Manfred Meiler klar. Was ihn nicht davon abhält, weiter für seine Sache zu streiten: "Man braucht eben einen langen Atem." Deshalb bereiten er und sein Kollege Niemann schon jetzt die Hauptversammlung 2006 vor: Dort wollen sie jene Anträge zur Tagesordnung noch einmal stellen, die im Januar aus formalen Gründen abgelehnt wurden - eine neue Vergütungsberechnung für Vorstände sowie einen Solidar-Beitrag für das obere Management in jenen Standorten, wo die Belegschaft durch Umstrukturierungen finanziell gefordert wird. Außerdem nicht ganz uneigennützig einen Antrag auf Erhöhung des genehmigten Kapitals zur verbesserten Mitarbeiterbeteiligung durch die Ausgabe zusätzlicher Belegschaftsaktien.

Kontakte

Die "Belegschaftsaktionäre in der Siemens AG e.V."
http://www.unsereaktien.de/,
Kontakt:
W.Niemann@unsereaktien.de,
M.Meiler@unsereaktien.de,
gehören zu den Vorreitern auf ihrem Gebiet. Sie helfen anderen Vereinsinitiativen mit Ratschlägen, Satzungsmustern und Pressekontakten. So haben die Siemensianer bei der Gründung eines Aktionärsvereins von Infineon-Mitarbeitern assistiert.

Ähnliche Initiativen gibt es bei Volkswagen
(http://gvb.volkswagen.de/) oder bei der Wiesbadener
SGL Carbon AG an ihrem Standort Meitingen;
Kontakt:
sglaktionaere@arcor.de oder franz.tobiasch@sglcarbon.de
Der Aktionärsverein der Lufthansa hat sich aufgelöst und in verschiedene Gruppen bei der Pilotenvereinigung Cockpit und den Flugbegleitern aufgesplittet.

Publikation
Belegschaftsaktionäre organisieren sich. Wie gründe ich einen Belegschaftsverein? Hrsg. von der Hans-Böckler-Stiftung. 4/2003, Broschüre, 35 Seiten,
Zu beziehen über: mail@setzkasten.de, Fax: 0211/408009040,
kostenlos als pdf im Internet unter p_belegschaftsaktionaere.pdf

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