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Magazin Mitbestimmung

: 'Wir brauchen Flexibilität in der Mitte der Gesellschaft'

Ausgabe 10/2003

Die Erwerbschancen sind ungerecht verteilt - etablierte Arbeitsplatzbesitzer verteidigen Privilegien gegen Arbeitslose. Wir sprachen mit Arbeitsmarktforscher Günther Schmid über seine Vision einer neuen Vollbeschäftigung.

Das Gespräch führten Kay Meiners und Christoph Mulitze.


Herr Professor Schmid, Sie vertreten die provokante These, Vollbeschäftigung sei wieder möglich. Wie soll das funktionieren?
Die klassische Vollbeschäftigung, wie ich sie noch erlebt habe, kommt nicht mehr zurück - deswegen spreche ich lieber von einer "neuen Vollbeschäftigung". Dieses Konzept schließt auch Phasen von Teilzeitbeschäftigung, Phasen bei Zeitarbeitsfirmen oder Kombinationen von Beschäftigung und Bildung ein.

Warum ist das alte Ziel unbefristeter vollzeitiger Beschäftigung für alle Erwerbsfähigen nicht mehr haltbar?
Ich kann mir nach der Gleichstellung der Frau auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr vorstellen, dass alle Erwerbswilligen noch dauerhaft Vollzeitjobs haben können. Deshalb müssen wir Zeiten in die Erwerbsbiographien einbauen, die die Vereinbarkeit von Familie und Beruf gewährleisten. Außerdem sind wir auf dem Weg in die wissensbasierte Dienstleistungsgesellschaft und müssen verstärkt Weiterbildungsphasen ins Erwerbsleben einbauen - auch mit der Möglichkeit einer zweiten oder dritten Berufskarriere. Zusätzlich wird der Eintritt von Jugendlichen in den Arbeitsmarkt immer schwieriger. Die vagen Präferenzen, die viele haben, führen zu langen Einschleusungsprozessen.

Mit der Berufsberatung und Weiterbildung steht es nicht zum Besten. Arbeitslose werden immer noch zu Internet-Redakteuren ausgebildet, die niemand braucht.
Wir haben tatsächlich kaum brauchbare regionalisierte Arbeitsmarkt- und Qualifikationsbedarfsprognosen, mit denen ein Arbeitsvermittler oder Berater etwas anfangen kann. Und die Prognosen, die es gibt, sind häufig nicht bekannt. Wenn man in Arbeitsämtern nachfragt, worauf sich die Berater stützen, wenn sie Qualifikationskurse auswählen, dann kommt - überspitzt formuliert - Folgendes heraus: Sie machen das von Hand gestrickt, fragen ihre Träger vor Ort und bieten ansonsten einfach das an, was bisher auch geklappt hat. Hier gibt es ein sehr großes Defizit.

Nehmen wir an, diese Probleme ließen sich lösen - welche Vorstellung von Gerechtigkeit soll die Gesellschaft von morgen prägen?
Unsere Arbeitsgesellschaft ist ungerecht im Sinne des Gerechtigkeitsbegriffes, den der indische Ökonom und Nobelpreisträger Amartya Sen formuliert hat. Sen legt großen Wert auf gleiche Chancen, individuelle Fähigkeiten (capabilities) zu entwickeln - auch Fähigkeiten, sich Lebenswünsche zu erfüllen. Das finde ich viel interessanter als den Gerechtigkeitsbegriff des amerikanischen Philosophen John Rawls, für den Gerechtigkeit nur ein Verteilungsproblem ist. Die Menschen müssen ganz unterschiedliche Interessen entfalten können. Erwerbsarbeit ist dafür eine zentrale soziale Institution. Hier kann man Anerkennung finden und Dinge lernen, die weit über das Ökonomische hinausgehen.

Die klassische Ökonomie betrachtet Arbeit als notwendiges Übel - und der Lohn ist die Entschädigung.
Arbeit ist die Vermehrung von Lebenschancen - die Möglichkeit, eigene Ideen und Interessen umzusetzen - in sehr unterschiedlichem Maße. Es gibt Menschen, die begeistern sich für ihren Beruf, sind von ihm erfüllt und arbeiten 70 oder 80 Wochenstunden. Andere arbeiten, um sich mit dem Einkommen zusätzlich zum Lebensunterhalt ihre Interessen zu finanzieren - Reisen, Gärtnern oder was auch immer. Wichtig ist, dass man im Erwerbsverlauf Chancen hat, sich zu verändern. Dazu habe ich den Begriff der "Übergangsarbeitsmärkte" geschaffen.

Was sollen diese Übergangsarbeitsmärkte leisten?
Wir brauchen Beschäftigungsformen, die es erlauben, Erwerbsarbeit mit sozial produktiven Tätigkeiten zu vermischen. Dazu zähle ich Familientätigkeiten, Kindererziehungszeiten, Weiterbildungszeiten, Zivilarbeit; möglicherweise auch politische Arbeit. Es muss möglich sein, verschiedene Beschäftigungsverhältnisse miteinander zu kombinieren, etwa abhängige Beschäftigung als Standbein und eine selbstständige kleine Nebenbeschäftigung. Ebenso muss es möglich sein, einfach einmal auf Zeit auszusteigen oder andere Dinge auszuprobieren. Die "neue" Vollbeschäftigung hat auch eine normative Komponente.

Das klingt schön, aber auch schwer finanzierbar.
Ich rechne damit, dass die öffentliche Hand heute rund 2,5 Milliarden Euro pro Jahr aufwenden müsste, um zusätzlich rund eine Million abgesicherte flexible Beschäftigungsverhältnisse zu schaffen. Durch die Umschichtung von Mitteln für die teilweise immer noch ineffiziente Arbeitsmarktpolitik wäre dies finanzierbar. Für die Grundsicherung Arbeitsloser und für die aktive Arbeitsmarktpolitik brauchen wir einen steuerfinanzierten Bundeszuschuss, der an Regeln wie eine bestimmte Arbeitslosenquote gebunden ist. Mit einer Wertschöpfungsabgabe oder Erweiterung der Bemessungsgrundlage könnten die Lohnnebenkosten reduziert werden - und wir sollten eine Arbeitslebensversicherung einführen, die sämtliche Beschäftigungsverhältnisse umfasst, auch Beamte und Selbstständige. Jede Stunde Erwerbsarbeit sollte sozialversicherungspflichtig sein. Außerdem müssen Übergänge von einer Erwerbsphase in eine andere attraktiver werden, um den Menschen die Angst zu nehmen.

Dann müsste Ihnen das Abfertigungsgesetz in Österreich zusagen.
Das halte ich in der Tat für sehr spannend. Ein bestimmter Anteil des Lohnes wird in einen Fonds eingezahlt, aus dem Ansprüche auf Abfindungen finanziert werden, wenn der Mitarbeiter das Unternehmen verlässt. Ich denke, dass das eine Zukunftsaufgabe für die Gewerkschaften wäre: Einkommenssicherungssysteme in Ergänzung zum solidarischen Arbeitslosenversicherungssystem durch Tarifvereinbarung aufzubauen - etwa Fonds, aus denen Weiterbildungszeiten finanziert oder Einkommensverluste zeitweilig verkürzter Arbeitszeit teilweise kompensiert werden können.

Selbstständige könnten, falls sie scheitern, in Ihrem Modell ebenfalls Arbeitslosengeld empfangen?
Genau. In anderen Ländern, wie Österreich und den Niederlanden, sind die Selbstständigen schon weitgehend eingebunden. Und auch im deutschen System erkennt man bereits Anpassungen, wenn man hinter die Fassade schaut: Arbeitslose, die sich selbstständig machen und innerhalb der ersten vier Jahre feststellen, dass es nicht geklappt hat, haben ihre alten Ansprüche aus der Arbeitslosenversicherung. Das System versucht, sich den neuen Gegebenheiten anzupassen. Allerdings ist irgendwann der Punkt erreicht, an dem es umstrukturiert werden muss.

Aber gegen den Umbau gibt es Widerstand. Die Insider-Outsider-Theorie erklärt das damit, dass die Besitzer von Vollzeitarbeitsplätzen diese gegen Arbeitslose oder prekär Beschäftigte verteidigen.
Das ist tatsächlich ein Problem. Viele Reformversuche zielen darauf hin, die Flexibilität an den Rändern zu vergrößern, aber sie fordern die Flexibilität der Insider, also der Vollzeitbeschäftigten, nicht heraus. Es fehlen Angebote an Insider, selbst Arbeitszeitvarianten auszuprobieren, beispielsweise sich mit 45 Jahren noch einmal weiterzubilden. In Berufen, wo veraltete Qualifikationen besonders schädliche Wirkungen haben, etwa bei Ärzten oder Lehrern, wäre auch an eine größere Verbindlichkeit von Weiterbildungspflichten zu denken.

Welche Position vertreten Sie zum Kündigungsschutz, und welche Bedeutung kommt flächendeckenden Arbeitszeitverkürzungen zu?
Es ist nicht mehr zeitgemäß, krampfhaft an den alten Kündigungsschutzbestimmungen festzuhalten. Auch die Idee, die Wochenarbeitszeit im Flächentarif weiter abzusenken, ist eine Idee von gestern. Zwar könnten wir, beim Stand unserer Technologie, ohne Wohlstandseinbußen  eine Arbeitszeit von durchschnittlich rund 32 Wochenstunden anvisieren - wir sollten das aber mit hoher Varianz und vielen Freiheitsgraden im Erwerbsverlauf umsetzen.

Wie wollen Sie die Insider dazu bewegen, etwas von ihrer Sicherheit abzugeben?
Wir müssen positive Anreize schaffen, Angebote, teilweise in Selbstständigkeit zu gehen, aber mit einem sozialen Netz im Hintergrund, falls es schief geht. In den USA decken sogar private Versicherungsmärkte dieses Risiko ab. Problematisch ist die Vorstellung, dass die ganze Erwerbsbiographie eine glatte Karriere sein muss - mit stetig steigendem Einkommen. Viele sind doch mit 45 oder 50 diesen Anforderungen nicht mehr gewachsen und möchten etwas anderes machen. Aber es gibt keine Wege, wie das bewerkstelligt werden kann. Der Übergang zu einem einfacheren Job kommt gar nicht in Frage, weil die Rentenansprüche drastisch sinken. Jemand, der eine geringer bezahlte Arbeit übernimmt, muss seinen Einkommensverlust partiell absichern können.

Darüber ist zur Zeit kaum etwas zu hören.
In diesem Punkt bin ich von der Rürup-Kommission enttäuscht. Sie hatte bei der Rentenversicherung nur im Visier, wie man die Finanzierbarkeit des derzeitigen Systems erhalten kann. Sie hat aber keine Vorkehrung getroffen, das Rentensystem der zukünftigen Arbeitswelt anzupassen und etwa flexible Anwartschaften einzubauen, die diskontinuierliche Erwerbsverläufe überbrücken und gewährleisten, dass sie sich nicht auf die Rentenansprüche auswirken. Dabei gibt es ausgereifte Vorschläge zu flexiblen Rentenanwartschaften, die zum Beispiel auch von der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte mitgetragen werden.

Glauben Sie, dass die Arbeitgeber und die Personalchefs da mitspielen? Die wollen junge Gesichter und glatte Lebensläufe. Die Älteren will man oft loswerden.
Wir brauchen einen Mentalitätswandel. Viele Frauen - und in Zukunft auch mehr Männer - haben Erwerbsunterbrechungen. Deshalb sollten die Personalchefs nicht nur auf den formalen Karriereweg sehen, sondern auch auf außerberufliche Kompetenzen. Das machen viel zu wenige. Aus vielen Betrieben sind ältere Arbeitnehmer fast völlig verschwunden. Besonders Großbetriebe haben in den vergangenen zwanzig Jahren ihre Strukturanpassungen vor allem über Frühverrentungen bewältigt. Wir brauchen einen Kulturwandel, der durch harte Anreizsysteme unterfüttert wird. Betriebe, die altersgerechte Arbeitsplätze schaffen, könnten nach einem Bonussystem belohnt werden.

So etwas gelingt nicht von heute auf morgen.
Nein. Ich denke, solche Lernprozesse brauchen mindestens fünf oder zehn Jahre, wenn nicht sogar eine Generation. Die gegenwärtigen Reformversuche auf institutioneller Ebene sind nicht ausreichend. Wir stehen im Bereich der einfachen, aber auch der qualifizierten Dienstleistungen im Vergleich zu den meisten anderen Ländern vergleichsweise schlecht da.

Welche Länder meinen Sie?
Die Niederlande sind ein positives Beispiel. Dort war die Lohnzurückhaltung erheblich stärker als bei uns. An dem ökonomischen Gesetz, dass Lohnmoderation in Zeiten der Massenarbeitslosigkeit unterhalb der Produktivitätszuwächse liegen muss, führt kein Weg vorbei. Die starke Lohnmoderation ist in den Niederlanden jedoch durch massive Steuererleichterungen kompensiert worden, durch eine zum Teil erhebliche Entlastung der Sozialversicherungsabgaben, insbesondere für kleine und mittlere Einkommensbezieher. Das führte dazu, dass sich die Lohnmoderation nicht negativ auf die Reallöhne ausgewirkt hat.

Gibt es noch andere Erfolgsfaktoren?
Eine massive Teilzeitbeschäftigung, verbunden mit einer Grundsicherung in Form einer steuerähnlich finanzierten Volksrente. So wurde die Teilzeitbeschäftigung auch bei Männern ausgebaut - bei uns liegt sie nahe Null. Schließlich wurden die Ausgaben für eine aktive Arbeitsmarktpolitik in den Niederlanden erhöht. Sie liegen inzwischen fast so hoch wie in Skandinavien, während sie bei uns zur Zeit - reformbedingt - drastisch heruntergefahren werden. Eine Rechnung von Steuerexperten zeigt, dass wir mit einer Sozialsteuer von zehn Prozent auf das tatsächliche Einkommen - dazu gehören auch Wertsteigerungen von Vermögen - aller Personen und Unternehmen - ähnlich dem, was die Niederländer und Franzosen gemacht haben - etwa 50 Prozent der Beitragseinnahmen von 150 Milliarden Euro gedeckt hätten. Entsprechend könnten die Beitragssätze der sozialversicherungspflichtigen Löhne von derzeit 42,5 Prozent um etwa die Hälfte sinken. Das käme personalintensiven Betrieben sowie den Beziehern kleiner und mittlerer Einkommen zugute.

Die aktuellen Reformversuche, so scheint es jedenfalls, bleiben weit hinter Ihren Vorstellungen zurück. Enthält Ihre Theorie ein utopisches Moment?
Es ist leicht, vom Schreibtisch aus Kollegenschelte zu betreiben. Mit der Rürup-Kommission und auch mit der Gesundheitsreform gehen ja einige Dinge in die richtige Richtung. Aber Kommissionsarbeit ist ungeheuer langwierig - das kenne ich alles aus eigener Erfahrung. Wir brauchen deshalb auch andere Formen der Politikfindung - eine professionalisierte Politikberatung und langfristige Enquetekommissionen statt kurzfristig eingerichteter Ad-hoc-Kommissionen.
Man muss immer Kompromisse eingehen. Und - ich gestehe das freimütig - auch die eigenen Überlegungen bestehen nicht immer den Härtetest des abwägenden Diskurses. Aber die Reaktionen meiner Leser und zum Teil auch schon der Politik zeigen mir, dass ich keine Utopie entwickelt habe.

 

Zur Person

Prof. Dr. Günther Schmid, geboren 1942 in Konstanz, begann in Freiburg ein Studium der Politik, Geschichte und Soziologie, das er im Jahr 1969 an der Freien Universität Berlin abschloss. Dort promovierte er auch im Jahr 1973. Nach seiner Habilitation erhielt er im Jahr 1981 die Lehrbefugnis und forscht seitdem zu Fragen der politischen Ökonomie und der Arbeitsmarktpolitik sowie zur Evaluierung politischer Programme und Institutionen. Seit 1989 ist Schmid Direktor der Abteilung Arbeitsmarktpolitik und Beschäftigung am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) für Sozialforschung und Professor an der Freien Universität Berlin. Er war Mitglied der Hartz-Kommission für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt und ist derzeit Mitglied der Kok-Taskforce für europäische Beschäftigung.

 

Zum Weiterlesen

Günther Schmid: Wege in eine neue Vollbeschäftigung. Übergangsarbeitsmärkte und aktivierende Arbeitsmarktpolitik. Frankfurt am Main und New York, Campus Verlag 2002. 477 Seiten, 49,90 Euro

Hugh Mosley, Holger Schütz, Günther Schmid: Effizienz der Arbeitsämter: Leistungsvergleich und Reformpraxis. Berlin, Edition Sigma 2003. 179 Seiten, 14,90 Euro
Stefan Ramge, Günther Schmid (Hrsg.): "Management of Change" in der Politik? Reformstrategien am Beispiel der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik. Münster, Waxmann Verlag 2003. 169 Seiten, 19,50 Euro

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