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Magazin Mitbestimmung

: 'Stabilität gibt es immer nur auf Zeit'

Ausgabe 12/2009

INTERVIEW US-Wirtschaftswissenschaftler Irwin Collier erklärt, warum das Verhältnis zwischen Staat und Wirtschaft immer wieder neu justiert werden muss.

Das Gespräch führten KAY MEINERS und PHILIPP WOLTER/Foto: Stephan Pramme

Herr Collier, wird die aktuelle Krise das Verhältnis zwischen dem Staat und der Privatwirtschaft dauerhaft verändern?
Die Krise wird wohl tiefe Spuren hinterlassen, genauso wie der große Börsencrash 1929 und die Bankenzusammenbrüche in den frühen 1930er Jahren. Der Bankenausschuss des US-Senats hat gerade einen über 1000 Seiten langen Gesetzentwurf mit Finanzreformen veröffentlicht. Aber die Menschen haben ein kurzes Gedächtnis. Wenn sie eine Weile Stabilität erleben, vergessen sie wieder, dass es auch ganz andere Zustände gibt.
 
Heißt das, dass der Staat nur auf dem Höhepunkt der Krise gefragt ist - und dann wird er wieder zurückgedrängt?
Die Nachfrage nach dem Staat ist in den USA wesentlich geringer als in Deutschland oder in Europa. Dafür gibt es historische Gründe: In einem Land, das von Pionieren und Farmern erschlossen wurde, waren die Leute zuerst auf sich selbst gestellt. Doch wenn es einen Hurrikan oder einen Großbrand gibt, braucht man eine Feuerwehr. Auch in Amerika weiß man, dass es öffentliche Aufgaben gibt, für die der Staat verantwortlich ist.
 
Wo ist der Staat besser als die private Wirtschaft?
In die Frage, wie viel Zahnpasta produziert werden soll, muss sich der Staat jedenfalls nicht einmischen. Aber wenn es nur überall so einfach wäre! Für alle Zeiten Prinzipien festlegen zu wollen - das ist typisch deutsch. Als Amerikaner würde ich da pragmatisch herangehen. In einer Demokratie ist das Verhältnis zwischen Staat und Wirtschaft nicht gottgegeben, es wird ständig neu justiert.
 
Wann in der US-Geschichte war ein aktiver Staat wichtig für die ökonomische Stabilität?
In der amerikanischen Gründerzeit um 1900, der "Progressive Era". Es war eine Phase der raschen Urbanisierung und Industrialisierung. Als die pure Größe von Banken und Unternehmen politisch gefährlich wurde, brachte die Regierung Antitrust-Gesetze auf den Weg. Damals wuchs die Einsicht, dass Machtkonzentrationen nicht nur deshalb erlaubt sein sollen, weil sie durch freien Vertrag möglich sind. Auch bei Eisenbahnen kam es zu Interventionen - oft angeregt von Farmern, die für den Transport der Waren keine Monopolpreise zahlen wollten.
 
Wie reagierte der Staat?
Mehrere marktbeherrschende Unternehmen, die Konkurrenten systematisch ausgeschaltet hatten und überhöhte Preise verlangten, wurden entflochten - zum Beispiel Standard Oil. Im Jahr 1911 wurde gerichtlich festgestellt, dass die Firma den gesamten Raffineriemarkt kontrollierte und gegen den Sherman Antitrust Act, ein Kartellgesetz aus dem Jahr 1890, verstieß.
 
Der große Schritt kam aber erst nach 1929?
Absolut. Im Zuge des New Deal unternahm die Roosevelt-Regierung ab 1935 Schritte in Richtung einer staatlichen Konjunkturpolitik und eines Wohlfahrtsstaates. Das war ein riesengroßer Sprung vorwärts. Bis dahin waren Kinder und Sparen der einzige Weg, für das Alter vorzusorgen. Nun wurden eine Arbeitslosen- und eine Rentenversicherung eingeführt. Erst viel später, unter Präsident Lyndon B. Johnson, kamen die medizinischen Dienste Medicare und Medicaid für Alte und Bedürftige hinzu.
 
Spielten direkte Zahlungen an einzelne Unternehmen in den USA auch schon vor der Finanzkrise eine Rolle?
Neben Garantiepreisen für Agrarprodukte fällt mir vor allen Dingen die Rettung von Chrysler im Jahr 1979 ein, die Lohngarantien in Höhe von 1,5 Milliarden Dollar einschloss. Chrysler war damals der drittgrößte Autohersteller und der größte Panzerhersteller. Die Erfahrungen waren positiv: Chrysler überlebte die Krise und konnte die Kredite schnell zurückzahlen. Die Steuerzahler haben hier ein gutes Geschäft gemacht.
 
Akzeptiert es die amerikanische Öffentlichkeit, wenn ein Unternehmen wie General Motors (GM) mehrheitlich vom Staat übernommen wird?
Seit der Insolvenz im Juni 2009 hält die US-Regierung in der Tat gut 60 Prozent, die kanadische Regierung rund 12 Prozent und ein Fonds der Automobilarbeiter-Gewerkschaft UAW 17,5 Prozent der Aktien. Aber das wird als vorübergehende Notlösung gesehen. Ich bin mir sehr sicher, dass Präsident Obama sich nichts Schöneres vorstellen kann, als GM wieder loszuwerden.
 
Welche Rolle spielt der neue GM-Verwaltungsrat?
Da sitzen viele neue Leute drin, die früher nichts mit der Firma zu tun hatten. Sie haben dafür gesorgt, dass der von der alten Führung aus blanker Not in die Wege geleitete Verkauf von Opel in letzter Minute gestoppt wurde. Sie haben sich gesagt: "Was tun wir hier eigentlich? Wenn andere Leute Opel sanieren wollen, können wir es auch selbst versuchen."
 
Die Bundeskanzlerin und die deutschen Arbeitnehmer fühlen sich vorgeführt - "veropelt" nennt das die Bild-Zeitung.
Ich kann den Ärger der Deutschen sehr gut nachvollziehen. Sie haben eine richtige Unabhängigkeitserklärung gemacht - GM sehen sie als das Mutterland, von dem sie sich lossagen wollen.
 
Genau. Die USA haben ihre eigene Unabhängigkeitserklärung auch nicht bereut.
Ich habe nie geglaubt, dass Magna wirklich die Sicherheit der Arbeitsplätze langfristig besser garantiert als GM. Aber ich respektiere es, wenn die deutschen Arbeitnehmer hier eine andere Position haben. Den Überbrückungskredit, den der deutsche Staat Opel angesichts der Kreditklemme gewährt hat, fand ich absolut richtig. Aber diese massive Festlegung auf Magna fand ich schwierig.
 
Hat der Verwaltungsrat den Verkauf von Opel aus Angst um amerikanische Jobs gestoppt?
Nein, nicht wirklich. GM ist ein Weltkonzern, der langfristig seinen ökonomischen Erfolg maximieren will. Das technische Know-how von Opel für den Bau kleinerer, sparsamer Autos und dessen Bedeutung für den Gesamtkonzern ist dabei kein unwichtiger Faktor.

Stimmt es, dass Sie auch eine persönliche Bindung an General Motors haben?
Der Film "Roger & Me", den Michael Moore über meine Heimatstadt Flint gedreht hat, ist wie ein Home Movie für mich. Schon meine Großeltern haben in Michigan für die Automarke Buick gearbeitet. Mein Vater war der Erste aus unserer Familie, der studiert hat, und während seiner ganzen Karriere als Ingenieur war er bei GM. Und ein Onkel von mir war beim Buick-Sit-down-Streik in Flint 1936/37. Wenn GM plötzlich dichtmacht, wäre das für den Mittleren Westen eine Katastrophe. Vielleicht kommt irgendwann der Tag, an dem auch in Michigan keine Autos mehr gebaut werden. Aber die Leute wollen Zeit für den Strukturwandel gewinnen.
 
Den Amerikanern ist reichlich spät eingefallen, dass sie nicht verkaufen wollen. Die deutschen Opel-Mitarbeiter sind überzeugt, ohne GM besser zu fahren.
Das gilt für die deutschen Mitarbeiter, die nur rund zehn Prozent der weltweiten Arbeitnehmerschaft im GM-Konzern ausmachen. In England und in anderen Ländern waren die Arbeiter hoch erfreut über die neue Entscheidung von GM. Jeder kämpft eben um seinen eigenen Arbeitsplatz.
 
Was kann der Staat tun, um Arbeitsplätze in Krisenzeiten zu erhalten? Soll er den Ausfall der privaten Nachfrage kompensieren?
Ich bin von den Professoren James Tobin, Paul Samuelson, Robert Solow und Franco Modigliani keynesianisch erzogen, und die Keynesianer haben aus der Geschichte mittlerweile eine Menge gelernt. Es ist nicht ganz einfach, eine Punktlandung hinzulegen - aber wir wissen alle, wo in der Not das Gaspedal und wo die Bremse ist.
 
Der Keynesianismus feiert also ein Comeback?
Ja, man tut etwas, von dem man vorher gesagt hatte, es sei eigentlich falsch. Auch in Deutschland dachten und denken ja viele Leute, die Binnennachfrage zu stützen sei Vulgärkeynesianismus. Aber sollen die Leute reden, was sie wollen - wichtig ist, dass sie das Richtige tun.
 
Ist es denn richtig, jetzt noch weitere Schulden zu machen?
Es ist jedenfalls verfrüht, über eine Exit-Strategie nachzudenken. Auch Obama in den USA, der gerade erst anfängt, wird schon wieder unter Druck gesetzt. Aber es ist falsch, noch während der Krise wieder auf die Konsolidierung zu setzen. Das muss später kommen. Ich habe derzeit weniger Angst vor Inflation in Europa als vor der Politik der Europäischen Zentralbank.
 
Warum denn das?
Sie wird wohl gegen die Inflation kämpfen, bevor sie da ist, sozusagen ein "preemptive strike", und sagen: "Die Arbeitslosigkeit geht uns nichts an. Unser Mandat ist es, für stabile Preise zu sorgen." Das scheint mir total unverantwortlich zu sein. Die US-Zentralbank unter Ben Bernanke hat da viel kreativer gehandelt, um den Zusammenbruch der Kreditmärkte zu vermeiden. Dass Bernanke im Jahr 2006 unter George W. Bush dieses Amt bekam und jetzt unter Obama weiterarbeitet, war reiner Zufall und absolutes Glück.
 
Hat Präsident Obama mit seinem keynesianischen wohlfahrtsstaatlichen Ansatz auf Dauer eine Chance?
Amerika war vor der Wahl gespalten und ist es immer noch. Es brauchte die Finanzkrise und eine äußerst schwierige Lage im Irak und in Afghanistan, um die Republikaner abzuwählen. Das darf man in Europa niemals vergessen.
 
Wie stark sind die Gegenkräfte?
Obamas Vorsprung sieht viel größer aus, als er ist. So wie er denken vielleicht 30 oder 40 Prozent der Bevölkerung. Es gibt radikale Kritiker, die seine Pläne als totalitär oder sozialistisch geißeln. Die harten Konservativen wollen den Staat aushungern: Wenn man die Steuern senkt und keine Einnahmen mehr da sind, muss man irgendwann die Ausgaben kürzen. So machte es Ronald Reagan. Aber ich denke, dass Obamas Krankenversicherung kommt. Und wenn sie da ist, werden die Leute sie mögen - so wie sie heute schon Medicare und Medicaid mögen.
 
Wird Obama auch die Finanzmärkte dauerhaft bändigen?
Die Leute, die hohe Risiken im Kapitalmarkt eingehen, wissen, dass sie noch immer mit dem Geld anderer Leute spielen und ungeschoren davonkommen können. Es wird ein neues Wettrüsten zwischen Spekulanten und Marktaufsehern geben. Stabilität gibt es immer nur auf Zeit.
 
Ein Land hat die vergangenen Finanzkrisen relativ gut überstanden: China. Nicht zuletzt wegen der starken Regulierung der Finanzmärkte.
Die Deutschen sagen: "Der dümmste Bauer erntet die dicksten Kartoffeln." Die kommunistische Partei will ihre Macht erhalten und die Unternehmen kontrollieren. Daher gibt es auch starke Beschränkungen für das Kapital. Einen Wissenschaftler stört es, wenn er aus den falschen Gründen richtigliegt. Aber in der Politik und in der Wirtschaft wird vielfach belohnt, wer einfach nur Glück hat - egal aus welchen Gründen.

China ist mit seinem Staatskapitalismus erfolgreich?
Die eigentliche Stärke Chinas ist, dass es heute mehr wirtschaftliche Freiheit zulässt als früher. Aber man muss die stabilisierende Wirkung der chinesischen Kapitalmarktvorschriften anerkennen. Der Markt ist eben nur effizient, wenn er Risiken für alle Teilnehmer kalkulierbar macht und nicht Dritte die Zeche zahlen müssen.


ZUR PERSON

Irwin Collier ist ein Grenzgänger zwischen Europa und den USA. Geboren 1951 in Flint (Michigan), lehrt er heute als Professor am John-F.-Kennedy-Institut für Nordamerikastudien an der FU Berlin. Seine Universitätslaufbahn begann in Yale. Um für seine Studiengebühren aufkommen zu können, arbeitete er als Schuhverkäufer, Hilfsarbeiter, Möbelpacker und Gärtnergehilfe. Als Doktorand des Massachusetts Institute of Technology reiste er 1978 zu einem sieben Monate langen Forschungsaufenthalt in die DDR, um den Sozialismus zu untersuchen wie ein Anthropologe. "Hätten die Mexikaner den Lebensstandard der DDR, bräuchten die USA keine Mauern zu bauen", sagt er heute, "aber als Intellektueller oder Freiheitsliebender konnte man es in diesem Land nicht aushalten." Collier erlebte den Mauerfall 1989 in Berlin. Er forscht und lebt seit 1994 dauerhaft in Deutschland. In seinem Büro hängt ein Bild von John Maynard Keynes - und er weist gern darauf hin, dass er auch Vorlesungen über Marx hält, "ohne, dass ich seine Bücher als Lehrbücher empfehle - übrigens so wenig wie die von John Stuart Mill."

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