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Magazin Mitbestimmung

: 'Die Theoriemüdigkeit überwinden'

Ausgabe 05/2010

INTERVIEW Kai Lindemann, Redakteur des DGB-Onlinemagazins "Gegenblende", über die neue gewerkschaftliche Lust an der Theorie und die Bedeutung des Internets.

Das Gespräch führte MATTHIAS HELMER, Journalist in Göttingen/Foto: Rolf Schulten

Im Jahr 2004 wurden die "Gewerkschaftlichen Monatshefte" eingestellt. Ist die "Gegenblende" nun der Ersatz?
Die Auflage der Gewerkschaftlichen Monatshefte war schon seit Mitte der 90er eingebrochen. Durch das Aufkommen elektronischer Medien sind Printmedien unter einen enormen Rentabilitätsdruck geraten - auch die Monatshefte. Gleichzeitig wurde ihre Bedeutung keinesfalls infrage gestellt: Vielmehr war der Plan, ein ähnliches Medium online aufzubauen.

Die Gegenblende gibt es seit rund einem halben Jahr. Warum hat es so lange gedauert, bis ein Nachfolgemedium kam?
Es gab verschiedene Ideen und Konzepte, da hat die Diskussion ein wenig gedauert. Aber schon vor dem offiziellen Start hatten wir ein Vorläufermodell: DGB-Diskurs - einen Debatten-Blog.

Dieser Blog wurde kurz nach dem Kapitalismuskongress im vergangenen Mai gestartet. Ein Zufall?
Auf dem Kongress haben wir gesehen, dass es viele Debatten gibt, die weitergeführt werden müssen. Wir wollen die Theoriemüdigkeit überwinden und die Auseinandersetzungen zwischen den Gewerkschaften und den Wissenschaften stärken. An diesem unmittelbaren Dialog hat der DGB-Bundesvorstand ein großes Interesse - neben den vielfältigen Foren, die die Hans-Böckler-Stiftung organisiert.

Das Gegenblende-Konzept sieht vor, dass Wissenschaftler den inhaltlichen Aufschlag zu einem Schwerpunktthema machen und Gewerkschafter mit Erwiderungen darauf reagieren. Welche Idee steckt dahinter?
Für unsere politisch-strategischen Debatten ist eine gewisse theoretische Grundlage wichtig. Das Onlinemagazin verstehen wir als Einladung, sich mit wissenschaftlichen Positionen und Erkenntnissen auseinanderzusetzen. Indem wir die Debatten ein wenig gegenständlicher machen und strukturieren, wollen wir dafür Brücken bauen.

Bislang ging es vor allem um große Themen wie Finanzkrise oder Sozialstaat. Welchen Stellenwert soll die gewerkschaftliche Strategiediskussion bekommen?
In der Ausgabe zum DGB-Bundeskongress jetzt im Mai werden auch alle fünf Mitglieder des geschäftsführenden Bundesvorstandes schreiben - das sind persönliche Beiträge außerhalb des Formates, Erwiderungen sind nicht vorgesehen. Sie werden aber thematisch angeordnet sein mit Anmerkungen, wie die Gewerkschaften in diesen Feldern agieren sollten.

Die Autoren Martin Allespach, Alex Demirovic und Lothar Wentzel mahnten in ihrem Beitrag "Demokratie wagen" jüngst an, die gewerkschaftliche Selbstverständigung voranzutreiben. Ist die Gegenblende dafür das geeignete Forum?
Wir sind ein Debattenmagazin. Doch die Debatten über die vertretenen Positionen finden nicht unbedingt nur auf der Magazinseite statt. Gegenblende wird auch auf anderen politischen und sozialwissenschaftlichen Seiten diskutiert und kommentiert. Sie fließen in andere Medien und auch in offizielle Positionen ein. Mir schwebt vor, ein- oder zweimal im Jahr eine Gegenblende-Veranstaltung zu machen. Da würden unsere Autoren aus der Wissenschaft und aus den Gewerkschaften hinkommen und könnten intensiver diskutieren. So könnten wir die Selbstverständigung richtig angehen. Das ist nicht zuletzt eine Ressourcenfrage.

Wie planen Sie die Themen?
Die Planung mache ich - als Einmannredaktion. Schwerpunkte spreche ich selbstverständlich im Haus ab, es muss aber nicht jeder Beitrag abgesegnet werden. Über das laufende Geschäft bekomme ich mit, wo es gerade brennt. Daraus entwickeln sich unsere Themen. Wir machen keine Jahresplanung - das ist ein Vorteil gegenüber Printmedien, und die laufenden Ausgaben können jederzeit um Beiträge ergänzt werden. Ein Onlinemedium kann kurzfristiger und schneller planen und ist flexibler im Hinblick auf Länge und Charakter der Texte.

Welche Inhalte stehen an?
Gegenblende soll - salopp formuliert - kein Kummerkasten werden. Wir wollen uns in gesellschaftliche Diskussionen einmischen - über Entsolidarisierung in der Gesellschaft zum Beispiel, oder die Abkehr von Großorganisationen. In der Ausgabe nach dem DGB-Kongress geht es um Klimapolitik, Wachstum, Nachhaltigkeit. Wir werden uns auch mit Organizing oder Strategic Unionism beschäftigen. Oder mal einen kritischen Beitrag zur Einheitsgewerkschaft bringen. Und wir werden natürlich auch die gewerkschaftsinternen Debatten offen führen.

Das ist ein großes Spektrum. Wurden schon Beiträge abgelehnt?
Es gab ein paar Beiträge, die wir aus inhaltlich-thematischen Gründen ablehnen mussten. Gegenblende ist ein Magazin wie jedes andere - und muss sein Niveau halten.

Wie kommen Sie an Autoren?
Über unsere Netzwerke. Rund 90 Prozent der Professoren, die für uns schreiben, sind Vertrauensdozenten der Hans-Böckler-Stiftung. Sehr am Herzen liegt mir, junge Wissenschaftler mit ins Boot zu holen und künftig auch mehr Autoren aus dem kulturellen Bereich zu gewinnen. Vor Kurzem ist der Journalist Tom Schimmeck als Kolumnist zu uns gestoßen - das ist eine Bereicherung. Und auch in den eigenen Reihen wollen wir den Kreis der Autoren gerne erweitern. Außerdem habe ich mir Interviews mit Betriebsräten vorgenommen, um herauszufinden, welche Themen - über die unmittelbare Betriebspolitik hinaus - sie vertiefen möchten. Insgesamt soll der Charakter aber schon wissenschaftlich bleiben, oder sagen wir: wissenschaftlich-feuilletonistisch.

Wer nutzt das Forum, wie viele User klicken die Seiten an?
Die meisten Zugriffe haben wir momentan über die Homepage des DGB. Im Vergleich mit anderen Seiten oder Blogs lagen wir in der Anfangsphase nicht schlecht. Unsere Mitglieder sind im Internet durchaus aktiv. Die Mehrheit der Nutzer schickt aber eher eine E-Mail, anstatt einen Beitrag zu kommentieren.

Wie sieht das Feedback insgesamt aus?
Die Rückmeldungen aus der Wissenschaft waren bislang durchweg positiv. Da hat sich erfreulicherweise ein gewerkschaftliches Forum gebildet, das auch außerhalb des Forschungsalltags Themen grundsätzlicher diskutieren will. Auch aus den Gewerkschaften kommt viel Zustimmung. Doch wir sind nicht Spiegel online oder FAZ.net, die täglich Hunderte Kommentare zu ihren Beiträgen bekommen. Unsere Funktionäre haben genug zu tun; umso erfreulicher, wenn sie zwischendurch Zeit finden, mal auf Gegenblende zu schauen.

In welche Richtung soll die Gegenblende weiterentwickelt werden?
Unlängst hatten wir einen Beitrag des brasilianischen Politikwissenschaftlers und NGO-Aktivisten Leonardo Sakamato, in der nächsten Ausgabe wird ein Gastbeitrag aus Italien kommen. Künftig wollen wir stärker Wissenschaftler aus dem Ausland anfragen. Damit hoffen wir, unsere Debatten international verknüpfen zu können.


ZUR PERSON
Kai Lindemann, 41, ist promovierter Politologe. Er studierte in Frankfurt am Main, war in den 90er Jahren Redaktionsmitglied bei der politischen Vierteljahresschrift "Die Beute", hat fünf Jahre für die amerikanische Künstlerin Jenny Holzer gearbeitet und ist seit 2003 beim Deutschen Gewerkschaftsbund. Neben seiner Tätigkeit als Wissenschaftsredakteur der "Gegenblende" ist Lindemann zurzeit - kommissarisch - persönlicher Referent des DGB-Vorsitzenden Michael Sommer. Er lebt mit seiner Frau und zwei Söhnen in Berlin.

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