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Magazin Mitbestimmung

: 'Die Illusion einer heilen Welt'

Ausgabe 07/2004

Mittelstand - das war niemals ein wertneutraler Begriff. Der Göttinger Wirtschaftshistoriker Hartmut Berghoff über die Geschichte und die suggestive Kraft des Begriffes sowie über die Unternehmen von heute.

Das Gespräch führten Kay Meiners und Silke Meßner.

Herr Professor Berghoff, Sie kritisieren den Begriff "Mittelstand" als problematisch. Warum?
Zum einen ist er unscharf. Er ist ja unglaublich weit gefasst. Wenn man die größeren Konzerne abzieht, fallen eigentlich alle Unternehmen darunter. Zum anderen war er von Anfang an ideologisch aufgeladen. Er entstand im Kaiserreich, als Handwerker und kleine Geschäftsleute fürchteten, von den großen Kaufhäusern und Großunternehmen an den Rand gedrückt zu werden. Das Wort "Mittelstand" suggerierte eine heile Welt - ohne Armut, aber auch ohne anonymes Kapital, eine Welt, in der der Unternehmer persönlich verantwortlich war und in der es deshalb sozialer zuging.

Es ging also um eine Idealisierung der Wirklichkeit?
Absolut. Schon das Wort "Mittelstand" an sich ist höchst seltsam - schließlich leben wir nicht mehr in einer Feudalgesellschaft. Wer diesen Begriff benutzt, verbindet damit auch die Forderung nach einer Bestandsgarantie: Der Staat oder die Gesellschaft sollen dafür sorgen, dass es solche Unternehmen weiterhin gibt. Sie verdienen sozusagen einen besonderen Schutz. Letztlich steckt doch Sozialprotektionismus dahinter. Historisch ging es dabei immer um handfeste Interessen, etwa um den Zollschutz der Bauern in den 1880er Jahren oder das Ausbildungsmonopol des Handwerks gegenüber der Industrie.

Die Begriffskritik, wie Sie sie äußern, gibt es aber doch schon seit Jahrzehnten. Warum konnte das Wort sich so lange halten?
Weil sich viele Leute, viele Unternehmer darin wiederfinden. Das hat etwas Sozialromantisches. Man sollte heute lieber von "kleineren und mittleren Unternehmen" sprechen. Aber hinter der Formel vom "Mittelstand" verbirgt sich auch ein wahrer Kern - es gibt, jenseits statistischer Kriterien wie Umsatz oder Mitarbeiterzahl, bei aller Heterogenität tatsächlich so etwas wie eine mittelständische Kultur.

Was macht den Kern dieser Kultur aus?
Die Bindung an die Familie ist ein sehr wichtiger Punkt. Der Sohn tritt in die Fußstapfen des Vaters. Diese Unternehmer identifizieren sich persönlich mit dem Unternehmen. Meist herrscht ein patriarchalisch-autoritärer Führungsstil, bei dem der Einfluss von Außenstehenden unterbunden oder strikt begrenzt wird. Der Betrieb wird überwiegend mit eigenen Mitteln finanziert. Gleichzeitig gibt es ein hohes Maß an gegenseitigem Vertrauen und Loyalität zwischen Unternehmensleitung und Beschäftigten. Das Ergebnis dieser Kultur war über viele Jahrzehnte eine gewisse Form von sozialer Stabilität, eine langfristige Perspektive der Unternehmensführung. Es ging weniger um die Profitmaximierung als darum, etwas Beständiges zu schaffen für die nächste Generation.

Wie steht es um die Zukunft dieses Modells?
Es hat über die Jahrzehnte an Kohärenz und Prägekraft verloren. Der Zusammenhang zwischen Familie und Unternehmen löst sich tendenziell auf. Seit den 70er Jahren hat sich das Nachfolgeproblem verschärft. Nicht alle Unternehmer haben Kinder. Und wenn doch, dann wollen die vielleicht lieber etwas anderes machen. In unserer Erlebnisgesellschaft haben sich die Möglichkeiten für Lebensentwürfe so erweitert, dass es nicht mehr selbstverständlich ist, den Betrieb der Eltern zu übernehmen. Außerdem sind die Kompetenzanforderungen durch die technische Entwicklung viel höher geworden. Potenzielle Nachfolger in der Familie sind oft überfordert mit dem, was auf sie zukommt.

Welche Faktoren nagen noch am Traditionsmodell?
Wir haben heute ganz andere Märkte, der Wettbewerb wird schärfer - weltweit. Mittelständler, die bisher nur Konkurrenten innerhalb Deutschlands oder Europas hatten, müssen nun auch Asien mit im Blick haben. Alles wird viel schwieriger und komplexer. Der verschärfte Wettbewerb zwingt Unternehmen, die sich früher allein finanzierten, unter Umständen dazu, Fremdkapital aufzunehmen. Auch das untergräbt das klassische Mittelstandsmodell. Fremde können dann bei der Unternehmensführung mitreden. Und ein Venture-Kapitalist will nach einer gewissen Zeit natürlich auch Rendite sehen.

Eine ganze Reihe traditionsreicher Unternehmen hat den Sprung in die Gegenwart nur mit Blessuren geschafft.
Nehmen Sie die Firma Hohner in Trossingen, über die ich geforscht habe. Das ist ein bekannter Hersteller von Akkordeons und Mundharmonikas. Das Unternehmen war Weltmarktführer und dabei extrem patriarchalisch geprägt. Die Chefs kannten fast alle Mitarbeiter oder zumindest die Facharbeiter und deren Familien. Die Kinder der Facharbeiter hatten quasi ein Anrecht auf eine Lehrstelle. Die Mitarbeiter im Ruhestand sprechen noch immer sehr positiv über ihre Chefs, sie stellen sie in eine geradezu heilige Tradition. Doch das Unternehmen hat die beste Zeit hinter sich. Früher haben hier 5000 Leute gearbeitet - heute sind es in Deutschland noch um die 300. Viele Bauteile und Produkte, die die Firma unter dem alten Namen verkauft, werden heute in Asien gefertigt.

Was sind die Ursachen für diesen Niedergang gewesen?
Ein Grund war die patriarchalische Unternehmenskultur. Einerseits produzierte sie Stabilität, andererseits aber war sie nicht in der Lage, einen schnellen, dynamischen Wandel mitzumachen. Die Unternehmensleitung hielt sehr lange an den alten Produkten fest, auch noch in den 60er Jahren, als man klar sehen konnte, dass die Jugendlichen eigentlich viel lieber E-Gitarren haben wollten. Hohner hatte auch eine solche Gitarre entwickelt, doch die alten Herren haben gesagt: "Das wollen wir nicht, das ist nichts Seriöses." Das ist ein extremes Beispiel für einen sehr konservativen Mittelständler, der nach dem Motto "Schuster, bleib bei deinen Leisten" arbeitet, bis das Unternehmen untergeht.

Zeigen solche Beispiele, dass das alte Modell nicht mehr funktioniert?
Partiell funktioniert es noch, aber es wird ausgehöhlt. Ein Unternehmen funktioniert dann nicht mehr, wenn es zahlungsunfähig ist. Das ist das Ausschlusskriterium in einer Konkurrenzwirtschaft. Allerdings kann eine langfristige Perspektive betriebswirtschaftlich sehr rentabel sein. Es kann durchaus ein Vorteil sein, dass man Durststrecken durchsteht und in Marktschwächen nicht den Betrieb schließt oder Mitarbeiter in großem Stil entlässt.

Offenbar waren einige traditionelle Unternehmen aber nicht mehr zur Innovation fähig.
Man darf keine Pauschalurteile fällen. Man muss immer genau hinsehen, das ist mir sehr wichtig. Manche Unternehmen sind nur Lohnfertiger, die nur nach bestimmten Vorgaben produzieren, aber es gibt auch sehr innovative Mittelständler. In der Patentstatistik stehen Großunternehmen wie Siemens ganz weit vorn - insofern könnte man sagen: Der so genannte Mittelstand ist nicht das Innovativste, was die deutsche Wirtschaft zu bieten hat. Allerdings dokumentieren die Patente nur einen ganz bestimmten Ausschnitt von Forschung. Auch in kleineren Unternehmen gibt es Forschung und Entwicklung, die sich nicht unbedingt in Patenten niederschlägt - Erfahrungswissen, das man nicht protokollieren oder sichern kann,  das man aber nicht unterschätzen sollte.

Der alte Mittelstand hat sich gegenüber fremden Einflüssen abgeschottet - zwingt der Wettbewerb ihn nun zu mehr Kooperation?
Es gibt Unternehmen, die weiter sehr ausgeprägte Nischenstrategien fahren. Aber die Tendenz geht zu Netzwerken, etwa bei technologieintensiven Unternehmen. Die Entwicklungskosten sind hier heute so hoch geworden, dass man sie allein gar nicht stemmen kann. Die Teilung von Kosten und Risiken gewinnt allgemein an Bedeutung. Auch dadurch wird ein Stück traditioneller mittelständischer Unternehmensführung ausgehöhlt.

Wie ist es wirklich um das Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern bestellt? Ist es immer so gut, dass man keine externe Moderation, etwa durch Gewerkschaften, braucht?
Das haben die Arbeitgeber immer behauptet. In bestimmten Größenordnungen, wenn der Chef jeden mit Namen kennt, ist es potenziell einfacher, Lösungen einvernehmlicher, informeller Art zu finden - doch das heißt noch lange nicht, dass das man die immer findet.

Das heißt, wie es den Mitarbeiter ergeht, hängt in traditionell mittelständischen Unternehmen auch heute noch letztlich von der Persönlichkeit, vom Wohlwollen des Unternehmers ab?
Ja. Es gibt genügend Fälle, wo Unternehmer sich weit über die gesetzlichen Pflichten hinaus engagieren. Aber es gibt auch autokratische Unternehmer, die willkürlich Leute begünstigen oder benachteiligen. Günstlinge dürfen, um ein Beispiel zu nennen, umsonst an der Betriebstankstelle tanken - andere sind entlassen worden, weil sie nicht richtig gegrüßt haben. Ein Betriebsrat kann hier durch die Verregelung von Konflikten und die Ausbildung von Routinen konfliktmildernd wirken, aber auch das hängt natürlich von den Personen im Betriebsrat und von ihrem Verhältnis zum Arbeitgeber ab.

In den meisten Kleinunternehmen gibt es bis heute keinen Betriebsrat. Was kann man tun, um auch dort die Mitarbeiter vor Willkür zu schützen?
Hier läuft sehr vieles informell ab. Unsere Wirtschaft zeichnet sich bereits durch ein sehr hohes Regulierungsniveau aus. Sie müssen ja schon bei zehn Mitarbeitern getrennte Toiletten für Männer und Frauen haben. Das sind Regulierungen, die eigentlich abgeschafft werden müssten, um diesen kleineren Unternehmen die Möglichkeit zu geben, überhaupt zu überleben. Ich würde diese Strukturen auf keinen Fall noch weiter verregeln.

Mehr Freiheit als Erfolgsrezept? Auch die Mittelstandsverbände fordern von der Politik Steuersenkungen oder die "Deregulierung" - zum Teil in sehr pauschaler Form. Wo liegen aus Ihrer Sicht die Probleme?
Kleine und mittlere Unternehmen sind tatsächlich benachteiligt. Denken Sie nur an Subventionen: Für Politiker bringt es viel mehr Publicity, sich bei der Krise eines Großunternehmens zu engagieren, als wenn sie sich für mehrere kleine einsetzen.
Durch die neuen Eigenkapitalvorschriften für Banken, bekannt als Basel II, wird es für mittelständische Unternehmen schwerer, Kredite zu erhalten. Es war im Gespräch, über die Kreditanstalt für Wiederaufbau einen Pool einzurichten, über den Mittelständler leichter Kredite bekommen können. Das wäre sehr sinnvoll.

Gibt es noch andere Schwierigkeiten?
Nehmen Sie das Steuerrecht: Ein Großunternehmen hat durch die Konzernrechnungslegung Möglichkeiten, den Gewinn da anfallen zu lassen, wo die Steuersätze am niedrigsten sind. Das ist für viele kleine Unternehmen unmöglich. Je nach Rechtsform gibt es außerdem Schwierigkeiten bei Erbschaften. Bei Personengesellschaften kann die Erbschaftssteuer einen Mittelständler ruinieren. Und auch die Tarifpolitik wird eher von Großunternehmen geprägt. Die Abschlüsse sind stärker auf ihre Bedürfnisse abgestimmt und bereiten Mittelständlern oft Schwierigkeiten. Dahinter steckt das generelle Problem, dass Konzerne in den Verbänden überproportional vertreten sind.

Trotz des gesamtwirtschaftlich schwierigen Umfeldes gibt es immer noch Neugründungen. Wie unterscheidet sich dieser "neue Mittelstand" vom alten?
Ein Merkmal ist die Fluktuation. Die Existenz der Unternehmen ist nicht so langfristig ausgelegt wie beim klassischen Modell. Es ist eher ein etwas längeres Projekt, ein Lebensabschnitt. Die Existenzgründer haben selten vor, etwas ganz Langfristiges zu schaffen, sozusagen eine Dynastie zu gründen, die Kinder und Enkel weiterführen sollen.

Und was sind Gründe für diese Entwicklung?
Möglicherweise ist es von den Märkten her gar nicht anders möglich. Aber es liegt auch an den veränderten Werten der Gesellschaft. Es ist heute durchaus ein akzeptabler und attraktiver Lebensentwurf, für fünf oder zehn Jahre ein Unternehmen zu haben und danach von dem Geld zu leben, das man zuvor verdient hat. In den 50er oder 60er Jahren galt das eher als unseriös. Der neue Mittelstand ist also ein flexibleres, instabileres System in flexibleren und instabileren Zeiten.

Ist das ein Ende, das uns traurig stimmen muss, oder ein Aufbruch zu neuen Ufern?
Ich sehe hier ein großes Potenzial für Modernisierungen. Die Entwicklung geht zum Einkauf externer Kompetenz. Man engagiert Geschäftsführer, die nichts mit der Familie zu tun haben. Sie verstehen sehr viel von der Sache, sind aber emotional weniger involviert. Sie sind mental flexibler und gehen eher in neue Bereiche. Sie sagen nicht wie im Fall Hohner: "Schon der Großvater hat Mundharmonikas gemacht, also machen wir es weiter", sondern sie setzen sich für neue Produkte ein, die sich auch in Zukunft verkaufen lassen.

Der Begriff "Mittelstand" entstand aus Angst heraus, von den Großen verschluckt zu werden. Auch heute wird mit dieser Angst Politik gemacht. Zu Recht?
Die damaligen Horrorszenarien haben sich als völlig übertrieben erwiesen. Die Handwerker haben ja um das Jahr 1900 gedacht, es würde irgendwann kein Handwerk mehr geben. Ein paar Berufe sind tatsächlich verschwunden, aber die meisten haben sich modernisiert. Heute ist das Handwerk relativ stark. Die Vorstellung, dass es irgendwann nur noch Großunternehmen geben würde, war unberechtigt. Insofern gibt es auch heute überhaupt keinen Grund für eine Untergangsstimmung. Die guten kleinen und mittleren Unternehmen sind sehr flexibel und anpassungsfähig, und das werden sie auch weiterhin sein.

Würden Sie zum Schluss eine Arbeitsplatzbilanz wagen?
Es mag sein, dass es rechnerisch einen kleinen Zuwachs an Arbeitsplätzen gibt. Aber man muss mit der Interpretation sehr vorsichtig sein. Nehmen wir das Outsourcing: Wenn ein Großunternehmen eine Abteilung auslagert, dann heißt es: Die Großindustrie baut Arbeitsplätze ab, der Mittelstand schafft welche. Der so genannte Mittelstand ist der größte Arbeitgeber und schafft am meisten Arbeitsplätze - zugleich ist er der größte Arbeitsplatzvernichter. Das ist schon eine Konsequenz der Statistik, wenn er 99 Prozent aller deutschen Unternehmen stellt.


Zur Person

Prof. Dr. Hartmut Berghoff, geboren 1960 in Herford (Westfalen), ist seit 2001 Direktor des Instituts für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Göttingen. In den letzten Jahren hat er mehrere Bücher zur Unternehmensgeschichte veröffentlicht, so etwa "Fritz K.", ein Buch über den Aufsteiger und Zigarettenpapierfabrikanten Fritz Kiehn, einen der schillerndsten Repräsentanten der württembergischen NSDAP und nach 1945 einer der prominentesten Entnazifizierungsfälle des Landes. (Fritz K. Ein deutsches Leben im 20. Jahrhundert) Berghoff hat Germanistik, Geschichte und Anglistik in Berlin, London und Bielefeld studiert - 1997 habilitierte er sich mit der Arbeit "Zwischen Kleinstadt und Weltmarkt: Hohner und die Harmonika 1857-1961." Berghoff ist u.a. Fellow des Wissenschafts-Kollegs in Berlin und Mitglied des Wissenschaftlichen Beirates der Gesellschaft für Unternehmensgeschichte.

Zuletzt erschienen
Hartmut Berghoff: Moderne Unternehmensgeschichte.
Eine themen- und theorieorientierte Einführung. Paderborn, Schöningh 2004. 380 Seiten, ISBN 3-825-22483-X, 17,90 Euro

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