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Magazin Mitbestimmung

: Alltag am untersten Ende

Ausgabe 11/2008

KINO Der britische Regisseur Ken Loach macht prekäre Arbeit zum Kinothema. In Deutschland fehlen solche Filme.

Von PHILIPP WOLTER, Redakteur in der Hans-Böckler-Stiftung/Foto: Mücke Filmpresse

Formen frühkapitalistischer Ausbeutung sind nicht an eine historische Epoche gebunden. Sie machen sich überall da breit, wo Regeln fehlen. Auch im Jahr 2008, mitten in Westeuropa. Es ist gut, wenn hin und wieder jemand darauf aufmerksam macht. Der Brite Ken Loach, jetzt 72 Jahre alt und seit Jahrzehnten unbestechlicher Chronist und Ankläger gesellschaftlicher Missstände, widmet seinem jüngsten Spielfilm "It's A Free World" osteuropäischen Tagelöhnern in Großbritannien.

Man könnte sagen, es sei ein Film über "prekäre Arbeits- und Lebensverhältnisse" - hätte dann aber gewisse Zweifel, ob der Soziologen-Terminus kraftvoll genug ist, um die Probleme der Menschen angemessen zu beschreiben. Hier ist das Kino den Sozialwissenschaften überlegen: Loach zeichnet die sozialen Verhältnisse plastischer, auch wenn er einen fiktionalen, keinen dokumentarischen Film gedreht hat.

Loach wurde 1966 mit der BBC-Produktion "Cathy Come Home" bekannt - einem Fernsehfilm, der die Öffentlichkeit und die Politik aufrüttelte. Das eindringliche, mit bis dahin völlig unbekannten Schauspielern besetzte Doku-Drama, in dem eine junge Mutter in die Obdachlosigkeit abrutscht, führte damals dazu, dass die englische Regierung ihre Obdachlosen-Gesetze änderte.

Dem Ansatz, die großen Probleme im Kleinen darzustellen, ist Loach seither treu geblieben, mit Filmen wie "My Name is Joe" (1998) über einen arbeitslosen Alkoholiker, der sich nur noch für Fußball interessiert, bis er per Zufall Sozialarbeiterin Sarah kennenlernt, oder "Bread and Roses" (2000), einen Film über eine Frau, die illegal aus Mexiko in die USA eingewandert ist. Er zeigt unter anderem die Arbeit von gewerkschaftlichen Organizern in den USA.

Der bekennende Sozialist Loach verzichtet dabei auf die wichtigste Technik politischer Überzeugungsarbeit: die Reduktion von Komplexität. Er ist kein Michael Moore oder Al Gore, der sich mit immer neuen Beispielen anderthalb Stunden lang an derselben These abarbeitet. Auch in seinem neuesten Film "It's A Free World" wählt er eine Perspektive, die sein Thema komplizierter statt einfacher macht. Angie, die Hauptfigur, die selbst weiß, wie sich Scheißarbeit anfühlt, und die gerade ihren Job bei einem Vermittlungsbüro für Gastarbeiter verloren hat, macht sich nun in derselben Branche selbstständig. Sie steht nun zwischen den Ausgebeuteten und den Ausbeutern. Damit ist sie in einer Rolle, die ebenso wenig Spielraum für Gesetzestreue wie für Menschlichkeit lässt.

Sie gerät mit beiden Seiten in Konflikt. Für zusätzlichen Druck sorgen ihre Freundin und Geschäftspartnerin Rose, die die kleine Firma möglichst schnell in legales Fahrwasser führen will, und ihr Vater - ein ehemaliger Dockarbeiter und Gewerkschafter, der die zivilisierte Arbeitswelt früherer Tage verkörpert. Über falsch und richtig zu urteilen, fällt dem Zuschauer nicht leichter als der Protagonistin. Soll sie den Familienvater ohne Arbeitserlaubnis, der jeden Tag aufs Neue um einen schlecht bezahlten Job bittet, immer wieder fortschicken? Die Grenze zwischen Arbeitsvermittler und Sklavenhändler ist fließend. Die Möglichkeiten des Einzelnen, das System zu verändern, sind begrenzt.

Letztlich laufen ethische Abwägungen meist auf den Satz "Wenn ich es nicht tue, tut es ein anderer" hinaus. "Diese Menschen könnten zu Hause als Lehrer arbeiten", sagt Angies Vater, "und ihr bringt sie hierher, damit sie für Hungerlöhne Hilfsarbeiten erledigen." Er, der 30 Jahre in der gleichen Firma gearbeitet hat, habe eben keine realistische Vorstellung von der modernen Arbeitswelt, hält die Tochter dagegen. Trotzig und etwas hilflos bemüht sie die Floskeln der neuen Wirtschaftswelt. Sie ist stolz darauf, sich etwas aufgebaut zu haben. Und sie versteigt sich zu dem Argument, von der Billigarbeit der Immigranten profitierten doch schließlich alle Verbraucher. Wer das nicht wolle, der könne ja die Rechtsradikalen wählen.

Es sind schlichte Szenen, die zeigen, wie der Alltag am untersten Ende des Arbeitsmarktes funktioniert. "Du, du und du in den weißen Laster. Die anderen in den grünen." Dann geht es zu Fabriken und auf Baustellen. Wer nicht den Erwartungen entspricht, wird aussortiert. "Den mit dem blauen, den mit dem braunen T-Shirt und den faulen Hippie dahinten will ich morgen nicht wieder sehen", erklärt der Auftraggeber, als er Angie durch seine Werkshalle führt. Sicher, das alles ist Fiktion und nicht mit der versteckten Kamera aufgenommen. Aber man ahnt, dass es in der Realität oft genug genau so zugeht.

Der Drehbuchautor Paul Laverty, der schon oft für Loach gearbeitet hat, sagt über seine Recherchen: "Nach unzähligen Gesprächen mit Arbeitern hatte ich das traumgleiche Gefühl, dass 150 Jahre Gewerkschaftsgeschichte plötzlich in einer Rauchwolke verpufft waren." Einiges von dem, was er in solchen Gesprächen erfahren habe, sei nicht fürs Drehbuch geeignet gewesen: "Man hätte uns Übertreibung vorgeworfen."

Auch wenn Laverty und Loach ihren Film in einem sehr speziellen Segment der Wirtschaft angesiedelt haben, lassen sie keinen Zweifel daran, dass es ihnen um ein allgemeines Phänomen geht: Die "Transformation der Arbeitskultur", besonders die rapide Zunahme der Arbeit auf Zeit. "Ich halte diesen Vorgang für sehr bedeutsam", sagt Loach, aber in der Öffentlichkeit sei er "merkwürdig unterrepräsentiert".

Fürs Kino dürfte das noch mehr gelten als für andere Medien. Präzise Studien einer Arbeitswelt, die sich in Teilen eher zurück- als fortentwickelt, sind selten zu sehen - gerade im deutschen Film. Wer hier einen Eindruck von prekären Lebenswelten bekommen will, zu denen er selbst keinen Zugang hat, bleibt auf die Polit-Magazine im Fernsehen und ihre dokumentarischen Passagen angewiesen.

In hiesigen Kinoproduktionen der letzten Jahre kommen Menschen mit unsicheren, schlecht bezahlten Arbeitsplätzen zwar durchaus vor, beispielsweise in Andreas Dresens "Sommer vorm Balkon". Im Gegensatz zu Loachs Produktionen haben solche Filme jedoch oft etwas Verklärendes an sich: Das Leben als - meist junger - Niedriglohnjobber bekommt in den bevorzugten Prenzlauer-Berg-Settings allzu leicht eine Lifestyle-Schlagseite. Loach ist da kompromisslos: Er zeigt die Dinge und die Menschen so hässlich, wie sie sind.

Es macht eben einen Unterschied, ob man die sozialen Verhältnisse nur streift, um eine Beziehungsgeschichte in sie einzubetten, oder ob man sie in den Mittelpunkt rückt. Macht über den ökonomisch Schwächeren, Missbrauch dieser Macht, Leben in Fremdbestimmung: Die Themen, um die Ken Loachs filmisches Schaffen seit Jahrzehnten kreist, sind in Deutschland nicht weniger aktuell als in Großbritannien. Eigentlich wäre zu erwarten, dass sie in einem Land mit einer angeblich linken strukturellen Mehrheit auch im Film ihren Niederschlag finden. Je komplizierter die neuen wissenschaftlichen Typisierungen von atypisch bis prekär werden, desto wichtiger sind Bilder, die zeigen, was gemeint ist.

Kinostart in Deutschland ist der 27. November 2008.

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