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HBS Böckler Impuls

Krankenversicherung: Zwischen Solidarmodell und Selbstbehalt

Ausgabe 10/2006

Österreich zählt derzeit neben den Niederlanden zu den interessantesten Adressen für Gesundheitsforscher. Grund: Die Medizinversorgung in der Alpenrepublik erzielt hohe Zufriedenheitswerte bei vergleichsweise moderaten Kosten, wie zwei Analysen zeigen. Trotzdem wachsen auch in Österreich die Probleme bei der Finanzierung - und die Zuzahlungen der Versicherten.

Europas zufriedenste Patienten wohnen zwischen Boden- und Neusiedler See: 70 bis über 80 Prozent der Österreicherinnen und Österreicher beurteilen in Umfragen ihre medizinische Versorgung als gut. Im Durchschnitt der alten EU-15 äußern sich dagegen nur etwas über 40 Prozent der Bürger positiv. Dabei geben die Österreicher auch noch weniger Geld für ihr Gesundheitswesen aus als etwa die unzufriedeneren Deutschen: Der Anteil am Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist deutlich niedriger.

Damit biete Österreich bei Preis und Leistung "die ausgewogenste System-Performance", attestieren Forscher um den Frankfurter Professor für Sozialpolitik Diether Döring, die im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung die Gesundheitssysteme in der EU-15 und der Schweiz unter die Lupe nahmen. Einen klaren Vorteil haben Austrias Versicherte bei ihren Beitragssätzen, die sich wiederum auf die Lohnnebenkosten auswirken: In Deutschland summieren sich Arbeitnehmer- und Arbeitgeberanteil bei Mitgliedern der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) auf gut 13,7 Prozent des Bruttoeinkommens. In Österreich sind es bei den Arbeitern und Angestellten insgesamt nur 7,5 Prozent.

Das hat mit der geringen Arbeitslosigkeit zu tun, vor allem aber mit der Struktur der Krankenversicherung:

  • Die GKV ist über lediglich gut 20 regionale und berufsspezifische Krankenkassen organisiert, der Anteil der Verwaltungskosten ist niedrig. Anders als in Deutschland sind auch die Beamten sowie die meisten Selbstständigen GKV-Mitglieder. Für sie gelten eigene Beitragssätze von 7,3 und 9,1 Prozent. Es gibt keine Einkommensgrenze, jenseits derer Besserverdiener in eine private Vollversicherung wechseln können.
  • Steuermittel sind eine zweite wichtige Finanzquelle. Deren Anteil am Gesundheitsbudget ist mit knapp 20 Prozent mehr als doppelt so hoch wie in Deutschland.

Insbesondere der große Versichertenkreis, zu dem auch die höheren Einkommensgruppen zählen, wirkt als "solidaritätsstabilisierender Faktor", resümieren Emmerich Tálos, Professor für Staatswissenschaften in Wien und der Bremer Sozialpolitik-Experte Herbert Obinger. Zunehmend entgegengesetzte Effekte bringt allerdings eine dritte Eigenheit des Systems à la Austria: Im Krankheitsfall müssen die Versicherten kräftig zuzahlen, mit steigender Tendenz. Mittlerweile tragen die privaten Haushalte 26,5 Prozent der Gesundheitsausgaben - ein sehr hoher Anteil im internationalen Vergleich. Tálos spricht deshalb mittlerweile von einer "schleichenden Erosion des Solidaritätsprinzips".

Außerdem hat die ÖVP-FPÖ-Koalition bei der Krankenversicherung der Arbeiter die ehemals paritätische Finanzierung leicht zugunsten der Arbeitgeber verschoben. Sie übernehmen statt früher 3,75 Prozent Beitragssatz nur noch 3,55 Prozent. Zur Absicherung von "Freizeitunfällen" und als befristeten Zuschlag zahlen alle Versicherten neuerdings noch einmal 0,2 Prozent zusätzlich. Parallel bemüht sich die Regierung - ähnlich wie in Deutschland - um Kostendämpfung, etwa durch einen Zwangsrabatt für Pharmaunternehmen.

Durch eine schwache Lohnentwicklung, die Kosten des medizinischen Fortschritts und die absehbare Alterung der Bevölkerung bleibt die Krankenversicherung unter Druck. Gesundheitsreformen dürften auch bei der Parlamentswahl im Herbst eine Rolle spielen. Angesichts der politischen Stimmung hält es Experte Tálos für eher wahrscheinlich, "dass das traditionelle Solidaritätsprinzip nicht weiter ausgehöhlt und das System der Pflichtversicherung aufrechterhalten wird". Um eine weitere "Verbreiterung der Finanzierungsbasis" werde allerdings auch die künftige Regierung nicht umhin kommen. Die jetzige Opposition aus SPÖ und Grünen plädiert dafür, auch Beiträge auf Einkünfte aus Mieten, Grundbesitz oder Vermögen zu erheben.

  • Ein Leistungs- und Kostenvergleich zweier Gesundheitssysteme. Zur Grafik

Emmerich Tálos, Herbert Obinger: Die Krankenversicherung in Österreich - ein Erfolgsmodell?, in: WSI-Mitteilungen 4/2006

Prof. Dr. Diether Döring, Bettina Dudenhöffer, Jürgen Herdt: Europäische Gesundheitssysteme unter Globalisierungsdruck.
Studie im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung, Wiesbaden 2005, Hessen Agentur Report Nr. 689, Download (pdf)

Siehe auch das von der Hans-Böckler-Stiftung geförderte Projekt:
"Finanzierung der Gesundheitssysteme der EU"

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