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HBS Böckler Impuls

Arbeitsmarkt: Sehnsucht nach Fairness

Ausgabe 09/2011

Menschen agieren auf dem Arbeitsmarkt nicht rationaler als in anderen Lebenslagen - auch wenn die neoklassische Ökonomie das postuliert. Erkenntnisse der aktuellen Verhaltensforschung geben Hinweise, worauf die Arbeitsmarktpolitik Rücksicht nehmen sollte.

Die Arbeitsmarktpolitik versucht, Erwerbslose wie Beschäftigte mittels Belohnungen und Sanktionen zu einem bestimmten Verhalten zu bewegen. Dabei orientiert sie sich in aller Regel am Menschenbild der neoklassischen Ökonomie: Marktteilnehmer können Informationen korrekt bewerten und reagieren rational auf Anreize. Weil sie stets ihren wirtschaftlichen Nutzen maximieren, sind sie steuerbar.

Die tatsächliche Komplexität menschlicher Wahrnehmungen und Entscheidungen bleibt in diesem Modell ausgeblendet. Und das hat praktische Folgen: Vielen arbeitsmarktpolitischen Empfehlungen und Maßnahmen fehlt das Verständnis für die subjektive Perspektive. Auf dieses grundsätzliche Defizit weist Günther Schmid hin, emeritierter Professor an der FU Berlin und ehemaliger Direktor am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Schmid hat neuere Forschungsergebnisse der Wirtschaftspsychologie und Verhaltensökonomik mit Blick auf sein Arbeitsgebiet ausgewertet. Er zeigt am Beispiel von Selbstständigen, Geringverdienern und Leiharbeitern: Marktteilnehmer und Politiker nehmen Risiken des Arbeitsmarktes nicht oder nicht ausreichend wahr. Vielfach werde auch übersehen, was die gesetzliche Arbeitslosenversicherung leisten kann und soll. Schmid skizziert zudem, worauf "eine verhaltenssensible und Autonomie fördernde Arbeitsmarktpolitik" Rücksicht nehmen sollte.

Übersehene Risiken auf dem Arbeitsmarkt. Die meisten Menschen überschätzen Risiken, die zwar mit relativ hoher Wahrscheinlichkeit eintreten können, aber nur geringen Schaden anrichten. Risiken mit eher geringer Wahrscheinlichkeit, die hohe Schäden verursachen, unterschätzen sie eher, berichtet Schmid Befunde der Verhaltensforschung. Eine Reiserücktrittsversicherung wird eher gekauft als eine Berufsunfähigkeitsversicherung, obwohl der drohende Schaden deutlich geringer wäre. Dieses ökonomisch wenig rationale Verhalten lässt sich auch auf dem Arbeitsmarkt beobachten: Die Bereitschaft, für eine freiwillige Arbeitslosenversicherung zu zahlen, ist laut Schmid sehr gering. In keinem Land habe sich eine freiwillige Arbeitslosenversicherung etabliert. Der Wissenschaftler wertet das als ein starkes Argument für eine gesetzliche Versicherung gegen Erwerbsausfall - die nicht allein für abhängig Beschäftigte verpflichtend sein sollte, sondern ebenfalls für alle Selbstständigen, die gleichermaßen von Einkommensausfällen bedroht sind.

Aber nicht nur der Einzelne scheitert daran, Risiken korrekt einzuschätzen. Auch politische Entscheidungsträger haben dieses Problem, zeigt die Studie: Sie übersehen beispielsweise die mit Niedriglöhnen und atypischer Beschäftigung verbundenen Gefahren. Wegen der gängigen These, dass es Aufstiegsmöglichkeiten aus dem Niedriglohnsektor gebe, werde das Risiko von schlecht vergüteten Jobs nur unzureichend wahrgenommen. Wie zahlreiche Studien inzwischen dokumentiert haben, schaffen nur wenige Geringverdiener den Übergang in besser dotierte Jobs. Das führe mit dazu, dass die heute jungen Erwachsenen "im Alter krass unterversichert" sind, so der Wissenschaftler. Er empfiehlt eine bessere Absicherung durch einen gesetzlichen Mindestlohn.

Die mit atypischer Beschäftigung verbundenen sozialen Risiken erhalten der Studie zufolge ebenfalls nicht genug Aufmerksamkeit. So tragen Leiharbeiter und befristet Beschäftigte ein größeres Arbeitslosigkeitsrisiko als andere Erwerbstätige. Von ihrem meist unfreiwilligen Verzicht auf sichere Verträge profitieren Arbeitgeber, die mehr Flexibilität erhalten. Diese Lastenverteilung werde in der politischen und ökonomischen Debatte kaum thematisiert, kritisiert der Arbeitsmarktexperte. Dabei müssten nach der ökonomischen Logik eigentlich Beschäftigte in Leiharbeit oder befristeten Stellen höhere Löhne bekommen als fest Angestellte. Die Zulagen für Löhne und Sozialbeiträge wären eine Prämie für die Risikoübernahme und den Beitrag zur Flexibilität.

Ein besseres Verständnis der gesetzlichen Versicherung. "Wir neigen dazu, eine Versicherung gegen Risiken nicht nur als Schutz, sondern auch als eine geschäftliche Transaktion zu betrachten, bei der in absehbarer Zeit etwas herausspringen soll", schreibt der Wissenschaftler. Wer lange eingezahlt hat, müsse auch viel rausbekommen - diese Position werde zwar intuitiv als gerecht wahrgenommen, sie widerspricht aber komplett der Versicherungslogik. Schmid hebt gegen solche Einwände die weniger bekannten Vorteile einer gesetzlichen Versicherung hervor: Die Garantie, dass die Versichertengemeinschaft für den Einzelnen einspringt, erlaubt ein kalkuliertes Risiko. Der Versicherte kann einen Beruf oder eine Stelle wählen, ohne allein unter dem Kriterium der Sicherheit zu handeln. Der zur Versicherung beitragende Arbeitgeber kann in betriebsspezifische Qualifikation investieren, im Fall einer betriebsnotwendigen Kündigung trägt die Versichertengemeinschaft eine Umschulung mit. Dadurch fördert die gesetzliche Versicherung den wirtschaftlichen Strukturwandel. Schmid verweist zudem auf die Fehleinschätzung, Lohnersatzleistungen als "passives" Instrument wahrzunehmen. Dies sei das Arbeitslosengeld I nun gerade nicht: Erst Lohnersatzleistungen ermöglichen ein angstfreies und intensives Suchen nach einer passenden neuen Stelle.

Verhaltenssensible Arbeitsmarktpolitik. Der Verlust einer Arbeitsstelle wie auch der Start in einer neuen Position sind emotional bewegende Momente. Die subjektive Seite müsse von der Arbeitsmarktpolitik stärker berücksichtig werden als bisher, sagt Schmid, denn sie hat großen Einfluss auf das jeweilige Verhalten. Viele Arbeitslose hätten Angst, aus der Erwerbslosigkeit in einen Niedriglohn-Job zu kommen und dort langfristig unterhalb ihres Qualifikationsniveaus arbeiten zu müssen - über solche Sorgen dürfe die Arbeitsmarktpolitik nicht hinweggehen. Der Experte spricht von der "Notwendigkeit, den Begriff aktive Arbeitsmarktpolitik weiter zu fassen als bisher üblich". Die Arbeitsagenturen könnten auch bereits vermittelte Arbeitskräfte weiter unterstützen, regt er an, etwa durch Zugänge zu Weiterbildung und Vermittlung von Aufstiegsmöglichkeiten.

 

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Grenzen ökonomischer Rationalität

Ökonomische Rationalität gelangt beim individuellen Entscheidungsverfahren rasch an ihre Grenzen. Wirtschaftspsychologen und Verhaltensökonomen beobachten dies auf zwei Stufen: Im ersten Schritt vereinfachen Menschen ein Problem, um sich rasch einen Überblick zu verschaffen. So bekommen sie schnell handhabbare Resultate, aber keine korrekten Risiko-Einschätzungen. Im zweiten Schritt beurteilen sie die sich ihnen bietenden Alternativen. Dabei lassen sie sich nicht ausschließlich von Kosten-Nutzen-Kalkülen leiten, so Schmid. Ebenso wichtig oder wichtiger sind Werte, etwa der Wunsch nach gegenseitiger Fairness.

Falsch platzierte Anker. Als Beispiel für die vereinfachenden und somit nicht rationalen Erkenntnisverfahren nennt Günther Schmid den "verbreiteten und fundamentalen Irrtum", aus wenigen Informationen allgemeine Schlüsse zu ziehen, so genannte Ähnlichkeitsheuristiken. Ebenso problematisch seien Verfügbarkeitsheuristiken: die Neigung, gerade verfügbare oder neue Informationen für wichtiger zu halten als ältere. "Je präsenter die Erinnerung an ein Ereignis ist, desto höher wird seine Eintrittswahrscheinlichkeit eingeschätzt", schreibt der Forscher. Wenn Medien über ein Unglück berichten, werden mehr Lebensversicherungen gekauft - obwohl das Risiko gleich geblieben ist. Zu diesem Muster gehört auch der Hang, eine zufällige Information als Anker für eine Entscheidung zu setzen. Aufgrund der Verankerungsheuristiken ist es bei Preisverhandlungen von Vorteil, als erster einen Preis zu nennen und so eine Basis festzulegen. Mit fehlerhaften Heuristiken vergleichbar ist, dass die meisten Menschen nach Hinweisen suchen, die ihre Vorentscheidung bekräftigen. "Die bestätigende Information wird systematisch überbewertet, während die widersprechende tendenziell ignoriert oder als Ausnahme zur Seite gewischt wird", so Schmid.

Instabile Präferenzen. Einen gesellschaftlichen Status erreichen, sein Gesicht wahren, gravierende Schäden vermeiden - diese Motive bestimmen menschliches Verhalten stärker als Kosten-Nutzen-Abwägungen. "Wir maximieren, wenn überhaupt, nicht ökonomischen, sondern sozialen Nutzen", schreibt Schmid. Empirische Studien widersprechen zudem der neoklassischen Annahme stabiler Präferenzen. Den Untersuchungen zufolge wandeln sich die Präferenzen der Menschen und passen sich der jeweiligen Situation an; Vorlieben hängen davon ab, wie und in welcher Reihenfolge Alternativen präsentiert werden. Entscheidungen werden auch dadurch verzerrt, dass Menschen sich tendenziell überschätzen. Wer nie arbeitslos war, so Schmid, hält das Risiko, dass es ihn treffen könnte, für gering. Entsprechend mangelt es mitunter an Verständnis für eine gesetzliche Arbeitslosigkeitsversicherung und für die Situation von Erwerbslosen. Auch die geringe Weiterbildungs-Beteiligung sieht Schmid in Zusammenhang mit der Neigung zur Selbstüberschätzung.

Der Wunsch nach Fairness. Ergebnissen der Verhaltensforschung zufolge orientieren sich Marktteilnehmer weniger an kurzfristigem Nutzen als an ihrem Wunsch nach Lebenssinn und gegenseitiger Fairness. "Reziproke Fairness ist für die Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Beziehung von großer Bedeutung", erklärt Schmid. Im Idealfall handele es sich um einen wechselseitigen Vertrauensvorschuss, der schädigendes Verhalten verhindert. Im Alltag, oder auch bei Arbeitsmarktkrisen: Wenn es eine Vertrauensbasis gibt, dann kann in Krisen auch über Lohneinbußen gesprochen werden - weil die Beschäftigten Anlass haben, der Argumentation der Arbeitgeber zu glauben und auf ein vergleichbares Entgegenkommen zählen können. Durch die Ausweitung atypischer Beschäftigung verkleinere sich jedoch die erforderliche Vertrauensbasis, so der Forscher: "Heute fragt man sich freilich, wie ein solcher Vertrauensvorschuss bei der zunehmenden Befristung von Beschäftigungsverhältnissen zustande kommen soll."

  • Der Arbeitsmarkt ist in Bewegung. Derzeit finden mehr Menschen hinein als hinaus. Zur Grafik
  • Körperliche Belastungen beeinträchtigen auch die Beschäftigungsstabilität. Zur Grafik

Günther Schmid: Stärkung der Autonomie durch verhaltenssensible Arbeitsmarktpolitik, in: WSI Mitteilungen 4/2011

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