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HBS Böckler Impuls

Arbeitslosengeld I: Keine Versicherung wie jede andere

Ausgabe 08/2006

Die beitragsfinanzierte staatliche Arbeitslosenversicherung ist Reformvorschlägen, die sich an privatwirtschaftlichen Versicherungsmodellen orientieren, in vieler Hinsicht überlegen. Das zeigt eine aktuelle Studie. Dennoch besteht Anpassungsbedarf: Versicherungsfremde Leistungen könnten ausgegliedert und der Kreis der Versicherten um geringfügig Beschäftigte und Selbstständige erweitert werden.

Mehr Eigenverantwortung, weniger Wohlfahrtsstaat - mit dieser Zielrichtung sollten die Hartz-Reformen die staatlichen Ausgaben für die Arbeitslosigkeit beschränken. Jetzt gerät auch die Einnahmeseite in den Blick: Sollte die Arbeitslosenversicherung neu geordnet und stärker individualisiert werden - etwa als freiwillige Privatversicherung oder als persönliches Pflichtsparen, wie das Institut für Weltwirtschaft mit seinem Kontenmodell vorschlägt?

Solche Modelle haben gravierende Nachteile gegenüber dem bestehenden System, zeigt eine Studie der Universität Koblenz-Landau im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung. Um ihrer Aufgabe gerecht zu werden, muss eine Versicherung gegen Arbeitslosigkeit einige Voraussetzungen erfüllen:

=> Sie muss für alle Arbeitnehmer verpflichtend sein, und die Beitragshöhe darf nicht vom individuellen Arbeitslosigkeits-Risiko abhängen. Andernfalls würden Beschäftigte mit relativ sicherem Job wenig einzahlen oder ganz ausscheiden. Dagegen müssten Arbeitnehmer in krisengeschüttelten Branchen mit besonders unsicheren Arbeitsplätzen nach Versicherungslogik auch noch höhere Beiträge zahlen. Ebenso Geringverdiener, denn das Arbeitsplatzrisiko steigt statistisch, je niedriger das Einkommen ist.

=> Eine Arbeitslosenversicherung muss im Ernstfall über sehr große finanzielle Reserven oder alternative Einnahmequellen verfügen, weil sich die Ausgabenentwicklung nicht mit versicherungsmathematischen Methoden vorhersagen lässt. Durchschnittswerte - wie etwa Unfallhäufigkeiten, an denen sich Autoversicherungen bei der Prämienberechnung orientieren - helfen hier nicht weiter. Denn wirtschaftliche Krisen lösen Dominoeffekte aus: Entlassungen in einer Branche ziehen Entlassungen in anderen Branchen nach sich. Wann der Prozess zum Stillstand kommt, ist im Voraus nicht abzusehen. In solchen Krisen wäre auch eine Privatversicherung nur mit staatlicher Unterstützung am Leben zu halten.
 
=> Das System muss für den Fall gewappnet sein, dass jemand auf Auszahlungen angewiesen ist, bevor er selbst genug eingezahlt hat. Das Problem ist am besten durch Umverteilung unter den Versicherten zu lösen. Kontenmodelle setzen aber auf individuelles Zwangssparen statt kollektiver Umverteilung. Der Versicherer könnte Arbeitslosen allenfalls einen Kredit gewähren - was praktisch zumindest bei privatwirtschaftlich organisierten Versicherungen nicht funktionieren dürfte, weil der Arbeitslose meist keine Sicherheiten bieten kann. Letztlich müsste der Staat einspringen. Besteht die Möglichkeit, das Konto zu überziehen, müsste der Fiskus ein Defizit spätestens am Ende des Arbeitslebens ausgleichen.

Eine Modellrechnung zeigt: Je nach Sparquote und Verzinsung müsste ein Arbeitnehmer mindestens neun Jahre sparen, bis sein Versicherungskonto für ein Jahr Arbeitslosengeld in Höhe von 60 Prozent des Bruttoeinkommens ausreicht. Die durchschnittliche Betriebszugehörigkeit von Beschäftigten lag 2001 jedoch nur bei fünf bis sechs Jahren.

=> Die Versicherung soll für Einkommensersatz in Übergangsphasen sorgen, aber nicht zur Bequemlichkeit verführen. Das heißt erstens: Arbeitslose motivieren, zumutbare Stellenangebote anzunehmen - Kontenmodelle sollen durch die Auszahlung des Guthabens bei Rentenbeginn einen entsprechenden Anreiz setzen. Die Anforderung an Arbeitslose, schnell eine neue Stelle zu suchen, wurden mit den Hartz-Reformen allerdings bereits deutlich verschärft. Und bei unfreiwilliger Arbeitslosigkeit nützen Anreizmechanismen nichts.

Zweitens dürfen Unternehmen nicht zu kurzfristigen Entlassungen ermuntert werden, um den Lebensunterhalt der Mitarbeiter bei schlechter Auftragslage auf die Arbeitslosenversicherung abzuwälzen. Um die Hemmschwelle für Arbeitgeber zu erhöhen, diskutieren einige Wissenschaftler eine Strafsteuer auf Entlassungen ("experience-rating").

Die Forscher sprechen sich zwar gegen einen grundsätzlichen Systemwechsel aus. Doch sie sehen Reformbedarf:

Zur finanziellen Stabilisierung der Ausgaben könnten  versicherungsfremde Leistungen - so der Kinderzuschlag beim Arbeitslosengeld - künftig aus Steuern bezahlt werden. Dadurch würden die Versicherungsbeiträge um zwei Beitragssatzpunkte sinken, berechnete der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Weil die Zahl der atypischen Arbeitsverhältnisse wie Ich-AG und Minijob auf Kosten der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung stark zugenommen habe, sei es sinnvoll, den Versichertenkreis zu erweitern: Aus der Arbeitslosenversicherung würde eine Erwerbstätigenversicherung.

  • Das Risiko der Arbeitslosigkeit lässt sich schwerlich über kapitaldeckung absichern. Zur Grafik

Werner Sesselmeier, Gabriele Somaggio, Aysel Yollu: Gutachten zur Arbeitslosenversicherung im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung, 2006.
Mehr Infos zum Projekt und Gutachten zum Download

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