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HBS Böckler Impuls

Tarifrecht: Juristen diskutieren Tarifeinheit

Ausgabe 08/2010

In der Bundesrepublik galt lange Zeit das Prinzip "ein Betrieb, ein Tarifvertrag". Das Bundesarbeits­gericht könnte davon jedoch abrücken. Permanente Streiks konkurrierender Gewerkschaften sind ­trotzdem nicht zu erwarten. 

In der Bundesrepublik galt lange Zeit das Prinzip "ein Betrieb, ein Tarifvertrag". Das Bundesarbeits­gericht könnte davon jedoch abrücken. Permanente Streiks konkurrierender Gewerkschaften sind ­trotzdem nicht zu erwarten. 

Seit etwa 20 Jahren vertritt das Bundesarbeitsgericht (BAG) den Grundsatz der Tarifeinheit. Danach kann prinzipiell in einem Betrieb immer nur ein Tarifvertrag zur Anwendung kommen. Doch dieses Prinzip hat nun das BAG in Frage gestellt - und es ist auch jetzt schon nicht mehr überall existent, so Olaf Deinert, Jura-Professor an der Universität Göttingen. In den ehemaligen Staatsbetrieben des Verkehrssektors und in den Krankenhäusern setzten inzwischen Berufsgruppen, die in Arbeitskämpfen Schlüsselstellungen einnehmen können, ihre Gruppeninteressen durch - ohne Solidarität mit anderen Arbeitnehmern in diesen Betrieben.

Streiks des Pilotenverbands Vereinigung Cockpit, der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) und der Ärztegewerkschaft Marburger Bund haben in den vergangenen Jahren viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Die Zahl der Berufsgewerkschaften ist zwar seit Jahren stabil und überschaubar. Doch stellen sie häufiger als früher eigene Tarifforderungen. Drohen nun permanente Auseinandersetzungen, vor denen es Arbeitgeber zu schützen gilt, eventuell mit einem Gesetz? Nein, lautet die Antwort von Tarifrechtsexperte Deinert. Er hat analysiert, ob die Veränderungen der Gewerkschaftslandschaft auch Änderungen des Tarif- und Arbeitskampfrechts erfordern.

Die Machtverhältnisse haben sich nicht so stark verschoben, dass der Staat eingreifen muss, argumentiert der Jurist. Dies gelte auch für den Fall, dass das Bundesarbeitsgericht den Grundsatz der Tarifeinheit aufgibt. Einzelne Gewerkschaften sind heute zwar kampfstärker als früher, eine so genannte Paritätsverschiebung liege aber darum nicht vor. Denn Arbeitskämpfe sind in Deutschland nach wie vor eine Ausnahmeerscheinung. Das Schreckgespenst fortwährender tariflicher Auseinandersetzungen sei fiktiv, so Deinert.
Gewerkschaften haben keinen Anspruch auf einen bestimmten Arbeitgeberverband als Verhandlungspartner, und ebenso wenig hat der Arbeitgeber einen Anspruch auf exklusive Verhandlungen mit einer Gewerkschaft. Es gehöre zum unternehmerischen Risiko, dass in einem Betrieb mehrere Berufsverbände existieren und die Interessen der bei ihnen organisierten Arbeitnehmer vertreten wollen, stellt der Tarifrechtsexperte klar.

Dennoch diskutieren Juristen derzeit eine Reihe von Vorschlägen, wie sich die Tarifeinheit - und damit auch der Betriebsfrieden - aufrechterhalten ließe:
Bewertung der Streikforderung. Dieser Vorschlag geht von folgender Sichtweise aus: Die durchsetzungsstarken Spezialistengewerkschaften setzen die Arbeitgeber mit exorbitanten Forderungen unter Druck. Darum sprechen sich ­einige Juristen für eine qualitative Bewertung von Streikforderungen aus. Das hieße: Nur wenn der von einer Gewerkschaft angestrebte Tarifabschluss nach Ansicht von Richtern nicht "übermäßig" hoch sei, wäre ein Streik rechtmäßig, erklärt Deinert. Eine solche Regelung wäre mit der im Grundgesetz garantierten Koalitionsfreiheit nicht vereinbar.

Das bedeutet Tarifzensur, resümiert der Arbeitsrechtler: "Die Befürchtung, dass Arbeitgeber keine Planungssicherheit mehr hätten, weil sie permanenten Tarifauseinandersetzungen ausgesetzt wären, kann es nicht rechtfertigen, dass Arbeitnehmer in ihrer individuellen Koalitionsfreiheit beeinträchtigt werden, indem die von ihnen gewählte Koalition keine wirksamen Tarifverträge schließen kann."

Tarifgemeinschaft oder gemeinsame Tariflaufzeiten. Für nicht praktikabel hält Deinert eine andere Idee: Gewerkschaften könnten zu einer Tarifgemeinschaft verpflichtet werden - oder dazu, ihre Tariflaufzeiten zu koordinieren. Das sei problematisch, denn: Die Kündigung eines Tarifvertrages sei ebenfalls als Teil der grundrechtlich gewährleisteten Tarifautonomie anzusehen.

Lösende Aussperrung. Für ebenfalls nicht umsetzbar hält der Jura-Professor die Möglichkeit, dass Arbeitgeber den Arbeitsvertrag von streikenden Beschäftigten kündigen dürfen - die so genannte lösende Aussperrung. Dies wäre eine starke Machtverschiebung zugunsten der Arbeitgeber, ist nach der Arbeitskampfkonzeption des BAG jedoch praktisch ausgeschlossen. Gedient wäre den Arbeitgebern damit ohnehin nicht, gibt Deinert zu bedenken: Gerade bei Fachkräften, die nur schwer ersetzbar sind, würden Arbeitgeber die lösende Aussperrung kaum riskieren wollen.

Deinert hält es zudem für wenig wahrscheinlich, dass sich weitere Berufsgruppen in eigenen Gewerkschaften formieren werden. Die Anforderungen dafür sind hoch: Eine Spartengewerkschaft wie die GDL funktioniert deshalb so gut, weil bei ihr viele Lokführer organisiert sind und deren Streik den Betrieb der Deutschen Bahn quasi lahm legen kann. Nur wenige Berufsgruppen haben eine so herausragende Stellung. Hinzu kommt, dass die Mitgliederwerbung außerhalb der früheren Staatsmonopolbetriebe schwerer fällt, weil die so genannten Funktionseliten in verschiedenen Unternehmen und unterschiedlichen Branchen beschäftigt sind.  

  • Durchsetzungsstarke Spezialistengewerkschaften wie den Marburger Bund oder die Piloten-Vereinigung Cockpit gibt es nicht viele. Zur Grafik

Olaf Deinert: Arbeitsrechtliche Herausforderungen einer veränderten Gewerkschaftslandschaft, in: Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht 21/2009.

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