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Höhere Mindestlöhne in Europa Böckler Impuls

Löhne: Höhere Mindestlöhne in Europa

Ausgabe 03/2020

Die Mindestlöhne in vielen Ländern steigen. Deutschland, dessen Mindestlohn weit unter einem existenzsichernden Niveau liegt, sollte nachziehen. 

 

Im Schnitt sind die Mindestlöhne in der EU und in Großbritannien zuletzt um 6 Prozent gestiegen. Preisbereinigt beträgt der Zuwachs 4,4 Prozent. Das ist der zweitgrößte Schub in den vergangenen beiden Jahrzehnten. 18 EU-Staaten haben ihre Mindestlöhne zum Jahresanfang 2020 erhöht, Großbritannien wird dies in den kommenden Wochen tun. Das zeigt der neue WSI-Mindestlohnbericht. Der deutsche Mindestlohn ist mit 9,35 Euro pro Stunde weiterhin spürbar niedriger als die Lohnuntergrenzen in den westeuropäischen Eurostaaten, die alle über 9,65 Euro liegen. Auch in Großbritannien wird der Mindestlohn ab April deutlich höher sein als in Deutschland. 

 

 

Die kräftigen Erhöhungen sind zum Teil Ergebnis von Debatten und einzelnen Regierungsinitiativen, die in vielen europäischen Ländern darauf abzielen, Mindestlöhne auf ein existenzsicherndes Niveau anzuheben. Die EU-Kommission hat dieses Thema ebenfalls aufgegriffen. Bislang liegen aber nur in zwei EU-Ländern die Mindestlöhne bei mindestens 60 Prozent des mittleren Lohns, dem sogenannten Medianlohn. Dieses Niveau ist aus Sicht vieler Experten die Untergrenze für ein existenzsicherndes Entgelt. Der EU-Durchschnitt beträgt dagegen laut WSI lediglich knapp 51 Prozent, in Deutschland ist das Niveau mit knapp 46 Prozent noch niedriger und war in den vergangenen Jahren rückläufig.

 

 

Mindestlöhne armutsfest machen

 

 

„2020 könnte in Europa das Jahr des Mindestlohns werden“, schreiben die WSI-Tarifexperten Thorsten Schulten und Malte Lübker. „Erstmals hat die Europäische Kommission die Initiative für eine europäische Mindestlohnpolitik ergriffen, um überall in Europa gerechte, das heißt armutsfeste und existenzsichernde Mindestlöhne, durchzusetzen.“ Die neuen Aktivitäten der Kommission reflektierten die hohe Priorität, die auskömmliche Löhne, Armutsbekämpfung und sozialer Zusammenhalt in vielen europäischen Ländern haben, betonen die Wissenschaftler. So werde nicht nur in Deutschland über eine substanzielle Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro diskutiert. In Belgien und den Niederlanden plädierten Gewerkschaften und andere gesellschaftliche Akteure für mindestens 14 Euro. In Großbritannien, Spanien und der Slowakei haben sich Regierungen unterschiedlicher Couleur verpflichtet, die Lohnuntergrenze in den kommenden Jahren auf 60 Prozent des mittleren Lohns oder des Durchschnittslohns in ihrem Land anzuheben. Die konservative Regierung in London strebt sogar an, den Mindestlohn bis 2024 auf zwei Drittel des mittleren Lohns zu erhöhen und damit die Schwelle zu erreichen, die Wissenschaftler in der Regel zur Definition des Niedriglohnsektors verwenden. 

 

 

Die prozentual stärksten Zuwächse von Anfang 2019 bis Anfang 2020 verzeichnen wie in den Vorjahren die mittel- und osteuropäischen EU-Länder, wo die nominalen Zuwachsraten aktuell zwischen 6,1 Prozent in Slowenien und 15,6 Prozent in Polen liegen. In den west- und südeuropäischen Mitgliedsländern reichen die Anhebungen von 1,2 Prozent in Frankreich bis zu 10,9 Prozent in Griechenland. Besonders bemerkenswert ist für die Wissenschaftler die Entwicklung in Spanien. Dort war der Mindestlohn Anfang 2019 um 22 Prozent erhöht worden. „Nachdem die spanische Wirtschaft diese außerordentliche Anhebung relativ gut verkraftet hat und sich die negativen Beschäftigungsprognosen nicht bestätigt haben“, so Schulten und Lübker, fiel die Anhebung Anfang 2020 mit 5,6 Prozent erneut kräftig aus. Bemerkenswert sei auch, dass die jüngste Mindestlohnerhöhung in Spanien auf einer gemeinsamen Vereinbarung von Arbeitgebern und Gewerkschaften beruht.

 

 

Absolut gesehen unterscheiden sich die Mindestlöhne stark. Die Spanne reicht von 1,87 Euro in Bulgarien bis zu 12,38 Euro in Luxemburg. Allerdings spiegeln die Niveauunterschiede zum Teil unterschiedliche Lebenshaltungskosten wider. Legt man sogenannte Kaufkraftstandards zugrunde, reduziert sich der Abstand zwischen den EU-Ländern spürbar, dann ist der höchste Mindestlohn nur noch dreimal so hoch wie der niedrigste, nicht mehr über sechsmal. Rumänien, Tschechien oder Ungarn liegen bei dieser Betrachtungsweise beispielsweise vor Portugal und Griechenland. Wer in Deutschland zum Mindestlohn bezahlt wird, profitiert vom relativ niedrigen Preisniveau. Allerdings bleibt seine Kaufkraft trotzdem hinter der von Mindestlohnempfängern in Luxemburg, Frankreich und den Niederlanden zurück. 

 

 

Der deutsche Mindestlohn ist sehr moderat

 

 

Der deutsche Mindestlohn ist auch gemessen am allgemeinen Lohnniveau in der Bundesrepublik sehr moderat. Mit knapp 46 Prozent des Medianlohns lag er 2018 deutlich unter dem EU-Durchschnitt von knapp 51 Prozent. 15 EU-Länder kamen auf höhere Werte als Deutschland, darunter die Niederlande, Irland Portugal, Polen, Großbritannien und Luxemburg. 

 

 

Weit vorn im EU-Vergleich rangiert Frankreich, wo die Untergrenze bei 61,6 Prozent liegt, der Mindestlohn also als existenzsichernd gelten kann. Die Marke von 60 Prozent des mittleren Lohns ist aus Sicht der WSI-Forscher Schulten und Lübker ein gut anwendbares, pragmatisches Kriterium für die Mindestlohninitiative der EU. 

 

 

Es geht um europaweit einheitliche Kriterien für Mindestlöhne 

 

 

„Angesichts der großen nationalen Unterschiede in Europa“ gehe es bei der europäischen Mindestlohnpolitik „weder um die Festlegung eines einheitlichen europäischen Mindestlohnbetrages noch um die Harmonisierung der nationalen Mindestlohnsysteme“, betonen die Experten. „Die Grundidee besteht vielmehr darin, auf europäischer Ebene gemeinsame Kriterien für angemessene Mindestlöhne zu definieren, die dann auf nationaler Ebene entsprechend den dort geltenden Lohnverhältnissen und den traditionell gewachsenen Systemen der Lohnfestsetzung umgesetzt werden.“ Dabei würde eine Orientierung an der 60-Prozent-Marke in vielen Ländern deutliche Verbesserungen für Bezieher von Niedrigeinkommen bringen: „Dies gilt nicht zuletzt in Deutschland, wo die vielfach geforderten 12 Euro etwa 60 Prozent des Medianlohns entsprechen.“

 

 

Keinen Mindestlohn haben Österreich, die nordischen Länder und Italien. In diesen Staaten besteht aber meist eine sehr hohe Tarifbindung, die auch vom Staat stark unterstützt wird. Faktisch setzen dort also Tarifverträge eine allgemeine Untergrenze, die, so Schulten und Lübker, in der Regel oberhalb der gesetzlichen Mindestlöhne in Westeuropa liege. „Das unterstreicht: Mindestlöhne setzen eine absolut notwendige Untergrenze. Aber entscheidend für eine angemessene Lohnentwicklung ist es, das Tarifsystem zu stärken – auch in Deutschland“, sagen die Forscher.

 

  • Das existenzsichernde Niveau von mindestens 60 Prozent des mittleren Lohns erreichen nur zwei der Mindestlöhne in der EU. Zur Grafik

Auch außerhalb der EU sind Mindestlöhne weit verbreitet, und sie wurden 2019 oder 2020 in vielen Ländern angehoben. Exemplarisch betrachtet das WSI die Mindestlöhne in 15 Ländern. Sie reichen von umgerechnet 0,83 Euro in Moldawien, 0,97 Euro landesweit in Russland und 1,07 Euro in Brasilien über 2,37 Euro in der Türkei, 6,48 Euro in den USA und 7,38 Euro in Japan bis zu umgerechnet 10,41 Euro in Neuseeland und 12,10 Euro in Australien. Kanada kommt auf 9,05 Euro, 

wobei dies, ebenso wie im Fall Japans, ein gewichteter Durchschnitt regional unterschiedlicher Mindestlöhne ist. In Südkorea sind Stundenlöhne unter 6,38 Euro unzulässig.

In den USA, wo der landesweite Mindestlohn seit 2009 nicht mehr erhöht wurde und lediglich bei einem Drittel des mittleren Lohns liegt, gibt es neben der nationalen höhere regionale Untergrenzen. Die höchsten Mindestlöhne auf der Ebene von Bundesstaaten gelten in Washington 

State (13,50 Dollar, umgerechnet 12,06 Euro) und in Massachusetts (12,75 Dollar, umgerechnet 11,39 Euro). Darüber hinaus führen immer mehr Städte lokale Mindestlöhne ein, die über dem nationalen und regionalen Niveau liegen. 

Malte Lübker, Thorsten Schulten: WSI-Mindestlohnbericht 2020: Europäische Mindestlohninitiative vor dem Durchbruch?, WSI-Report Nr. 55, Februar 2020 Andreas Jansen: Wachsende Graubereiche in der Beschäftigung, Working Paper der Forschungsförderung der HBS Nr. 167, Januar 2020

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