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HBS Böckler Impuls

Tarifpolitik: Europäische Staaten stützen das Tarifgefüge

Ausgabe 06/2009

Die Tarifbindung nimmt ab. Ein Blick auf andere europäische Länder zeigt aber, dass die Politik den Erosionsprozess aufhalten könnte. Das wichtigste Mittel dazu ist die Allgemeinverbindlicherklärung.

Nachdem die Tarifbindung in Deutschland im vergangenen Jahrzehnt um etwa ein Sechstel gesunken ist, gelten Tarifverträge nur noch für 63 Prozent aller Arbeitsverhältnisse. Von den Ländern der alten Europäischen Union werden nur in Luxemburg und Großbritannien noch weniger Beschäftigte von Tarifverträgen erfasst. In den übrigen Staaten ist das Niveau der Tarifbindung dagegen deutlich höher und zudem stabil. Die Spanne reicht von 70 Prozent in Portugal bis zu 99 Prozent in Österreich. Die WSI-Tarifexperten Reinhard Bispinck und Thorsten Schulten haben untersucht, warum Deutschland in der vergangenen Dekade so weit abgerutscht ist - und wie sich der Trend wieder umkehren ließe.

Auch in anderen Ländern ist der gewerkschaftliche Organisationsgrad zurückgegangen - aber ohne negative Folgen für die Tarifbindung. Die 1992 einsetzende "scharfe weltwirtschaftliche Rezession" und der folgende Anstieg der Arbeitslosigkeit brachten die deutschen Gewerkschaften in die Defensive, schreiben die Wissenschaftler. Schwache Konjunktur, zunehmende internationale Konkurrenz und am Shareholder-Value-Gedanken ausgerichtete Unternehmensführung machten es schwieriger, Lohnsteigerungen durchzusetzen. Die Politik der Arbeitsmarkt-Deregulierung führte dazu, dass Deutschland heute zu den europäischen Ländern mit der höchsten Niedriglohnbeschäftigung zählt. In einigen Branchen sahen sich die DGB-Gewerkschaften zunehmender Unterbietungskonkurrenz durch so genannte christliche Gewerkschaften ausgesetzt. Gleichzeitig ging die Zahl der gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer zurück. Nach Bispinck und Schulten entwickelte sich  "de facto eine wettbewerbsorientierte Tarifpolitik", die von "wilden Dezentralisierungen" begleitet wurde. All dies hat zum Rückgang der Tarifbindung beigetragen. Allerdings zeigt ein Blick über die Landesgrenzen, dass ein für Gewerkschaften schwieriges Umfeld nicht zwangsläufig das Tarifsystem in Gefahr bringt: Sinkende Mitgliederzahlen und ein "Verlust gewerkschaftlicher Organisationsmacht" seien auch in anderen EU-15-Ländern zu beobachten, stellen die Forscher fest. Dort sei deshalb aber nicht die Zahl der Tarifbeschäftigten gesunken. Zum Beispiel gelten in Frankreich für 95 Prozent aller Beschäftigten Tarifverträge, obwohl nur neun Prozent der Arbeitnehmer Gewerkschaftsmitglieder sind. Ein Anteil, nur knapp halb so hoch wie in Deutschland.

Der Staat lässt das Tarifsystem im Stich. Die deutschen Gewerkschaften arbeiten zwar an einer Re-Stabilisierung, sie kümmern sich um einen höheren Organisationsgrad und bemühen sich um eine stärkere Verknüpfung von Branchen- und betriebsbezogener Tarifpolitik. Entscheidend sei jedoch, dass der Staat kaum etwas tue, um das Tarifsystem zu stabilisieren, so Bispinck und Schulten. In den meisten Ländern Europas werde der "anhaltende institutionelle Machtverlust" der Gewerkschaften auf anderer Ebene ausgeglichen. So machen es die meisten Staaten den Unternehmen zum Beispiel nicht so leicht, aus Arbeitgeberverbänden und damit aus dem Tarifgefüge auszuscheren. Die nahezu flächendeckende Tarifbindung in Österreich sei vor allem auf die Pflichtmitgliedschaft der Unternehmer in der Wirtschaftkammer zurückzuführen. Insgesamt sei der entscheidende Erklärungsfaktor für die höhere Tarifverbindung in den Nachbarländern jedoch die Allgemeinverbindlicherklärung (AVE) - ein Instrument, das in Deutschland zwar existiert, aber nur selten zum Einsatz kommt. Lediglich 1,5 Prozent der Tarifverträge waren 2008 allgemeinverbindlich.

Re-Stabilisierung von oben. Bispinck und Schulten beschreiben, was die Politik tun kann: Ein allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn würde "in vielen Branchen überhaupt wieder eine regulative Grundlage schaffen". Dies wäre eine Basis, auf der Tarifvertragsbeziehungen neu entstehen könnten. "Der wichtigste politische Hebel" sei die in anderen EU-Staaten häufiger praktizierte AVE. Ohne häufigeren Einsatz dieses Mittels sei eine Trendumkehr oder substantielle Steigerung der Tarifbindung nicht zu erreichen. Allerdings ist hierfür eine Verfahrensänderung nötig: Der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) müsste die Möglichkeit genommen werden, AVEs durch ein Veto im Bundestarifausschuss zu blockieren. Als Vorbild für eine Neuregelung könnten die im Entsendegesetz festgelegten Abläufe dienen. Hier hat der Arbeitsminister das letzte Wort - und ist nicht auf die Zustimmung der BDA angewiesen.

  • Der Staat könnte die Bindekraft von Tarifverträgen deutlich stärken - tatsächlich geschieht das jedoch immer seltener. Zur Grafik
  • In den meisten Ländern der alten EU ist die Tarifbindung höher als in der Bundesrepublik. Zur Grafik

Reinhard Bispinck und Thorsten Schulten: Restabilisierung des deutschen Flächentarifvertragssystems, in: WSI-Mitteilungen 4/2009, Schwerpunktheft: 60 Jahre Tarifvertragsgesetz - Neue Herausforderungen für die Tarifpolitik

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